Donnerstag, 3. April 2014

Von grünen Binokeln und herbstlichen Extremen


Endlich. Ein paar graue Tage. Die grelle Sonne verschwindet hinter einer dichten Wolkenwand, wie das Land so der Himmel, alles ist immer irgendwie extrem. Ein Dazwischen scheint es nicht zu geben. Entweder. Oder. Aber kein vielleicht, eventuell, möglicherweise. Es sind diese Umstände, die mich zu dem Ergebnis kommen lassen, dass die Chilenen gar nicht anders können, als so zu sein, wie sie denn sind: extrem. Entweder extrem freundschaftlich tiefgründig oder extrem freundlich aufgesetzt. Entweder sie würdigen einen keines Blickes oder sie verschlingen einen blicklich mitsamt Haut und Haar. Es versteht sich, dass die traurig-schönen Wolkentage sich mit grell-scharfen Sonnentagen noch die Wiege halten, zumindest in der kurzen Übergangszeit, die auch hier Herbst genannt wird. Von einem Tag auf den anderen hat sich der halbe Wald verfärbt, die Schornsteine glühen förmlich, die Luft schmeckt diesig nach der ersten Winterkälte. Tagsüber kommt man noch ins Schwitzen, nachts dagegen schlottert man auch unter unzähligen Decken. Schon seit dem Sommer hier, also im Dezember, hat sich ein kleiner Gedanke in mir festgesetzt. Einen dieser Orte besuchen, den man nur ein einziges Mal im Leben betreten wird. Momentan gibt es ein gutes Angebot auf der Internetseite von der Fluggesellschaft LAN. Gemeinsam mit einer Freundin legen wir nach langwieriger Grübelei einen Termin fest, wählen die Flüge aus und wollen bezahlen. Doch irgendwas will da im System nicht. Weder am Abend, noch am nächsten Morgen. Und dann ist auch der Buchungscode nicht mehr gültig. Und die Preise sind plötzlich haushoch angestiegen. Das wird doch kein Zeichen sein… Ein paar Stunden später stehen dann wieder die Angebotspreise. Glück gehabt. Doch auch dieses Mal soll keine der Kreditkarte tun, was sie eigentlich zu tun hat: das kostbare Fluggut erwerben. Dann eben anders. Am nächsten Morgen laufen Rita und ich zum LAN-Büro, bei dem wir es zunächst noch einmal an einem der LAN-Computer versuchen müssen, bevor wir eine Nummer erhalten, um tatsächlich mit jemandem über unser Problem sprechen zu können. Dieser Jemand fordert uns auf, es noch einmal zu versuchen, über das chilenische und nicht das deutsche Portal. Zurück zu den Computern, die Preise sind uns deutlich zu hoch. Also ziehen wir erneut eine Nummer. Nummern ziehen, des Chilenen tollstes Hobby. Wir befinden uns seit etwa 40 Minuten in dem Büro, schauen den drei Damen in Uniform beim Spielen an ihrem intelligenten Handy zu, bevor wir irgendwann zu einem Schalter dürfen. Leicht gereizt schildern wir unser Problem einer blond gefärbten Chilenin. Irgendwas scheint sie sehr zu erheitern, sie strahlt. Und dann: Sie hat sich verliebt. In meine Brille. Sie fragt, ob ich sie ihr leihen würde. Wenn’s denn sein muss. Überglücklich mit der ihr merklich zu kleinen Brille auf der Nase hilft sie uns tatsächlich weiter. Auf einem gesonderten Bildschirm können wir sogar all ihre Schritte verfolgen. Gut, wir müssen 10 000 Pesos pro Person zusätzlich zahlen, da wir die Hilfe am Schalter in Anspruch nehmen. Und auch das Drängen der aufgedrehten Dame, ihr meine Brille zu verkaufen, bevor ich wieder zurück nach Deutschland fliege, müssen wir wohl oder übel in Kauf nehmen. Doch dann wendet sich unsere Stimmung, vor lauter Klicken und In-die-Handy-Kamera-des-Arbeitskollegen-Lächeln steht plötzlich ein ganz anderer Preis auf dem Bildschirm, umgerechnet knapp 100 Euro weniger als unser Internetflugpreis – pro Person. Wir schauen uns aus den Augenwinkeln an, können es noch nicht so recht glauben. Ich werde um meine Kreditkarte gebeten, beim zweiten Versuch gelingt die Transaktion. Nach einem weiteren erfolglosen Überredungsversuch seitens der Verkäuferin schiebt sie uns unauffällig eine kleine Schachtel herüber, darin: Zahlenschlösser. Und schweren Herzens bekomme ich dann auch meine Brille wieder. Mit den Tickets in der Hand und einem breiten Grinsen im Gesicht verlassen wir das Büro. Rapa Nui, in anderthalb Monaten sehen wir uns!

Wir werden es nicht nur unserem Honigkuchenpferdgegrinse zu verdanken haben, dass insbesondere chilenische Männer die Köpfe nach uns drehen, ihre Lippen spitzen und pfeifen oder gerne auch Kommentare abgeben. Ja, es gehört zur Rolle der Ausländerin dazu, denn irgendeine Rolle spielen wir ja in jeder Gesellschaft, momentan macht mir das auch nichts aus, doch dann und wann überkommt mich das Gefühl, einfach in der Menge verschwinden zu können. Doch das ist in Südamerika wahrlich ein utopischer Gedanke. Nicht ganz so viel Glück haben dieser Tage die Straßenverkäufer, aus fliegenden Händlern werden ganz schnell fliehende Händler. Denn die Polizei sackt gerade jeden ein, der keine Erlaubnis zum Verkauf von Waren auf der Straße besitzt. Am Montagabend trifft es meinen Brotfreund. Es hat viel zu lange gedauert, ein vernünftiges Brot zu finden, am liebsten würde ich dazwischen gehen, als der junge Mann von der schwer bewaffneten und mit schutzsicheren Westen ausgestatteten Polizei abgeführt wird. Ich laufe ihnen hinterher, weil ich in dieselbe Richtung muss und sehe, wie er in einen dieser monströsen Panzerwagen geführt wird. Als hätte er ein Schwerstverbrechen begangen. Insgeheim wünsche ich den Polizisten nur das Schlechte dieser Welt an den Hals, es gäbe so viel andere, wirkliche Delinquenten abzuführen.
Es ist übrigens ein Montagabend, und montags ist Kinotag im Theater. Einer der rar gesäten Orte, an denen keine Hollywood-Filme gezeigt werden, sondern vernünftige Filme. An diesem Abend läuft der etwas träge „Renoir“, Einblicke in die letzte Schaffensphase des Malers und die Wurzeln des filmischen Schaffens seines Sohnes. Eine melancholische Schwere und die detailgenaue Intensität der Bilder legt sich auf mich. Draußen ist es bereits dunkel, ich gehe ein paar Schritte und plötzlich stimmt die Gruppe vor mir ein seichtes Lied an. Sonderbar. Immer mehr Stimmen, vielschichtig, im Kanon. Und sie laufen einfach weiter, singen. Stimmen dann das Halleluja an, mit einer unglaublichen Stimmgewalt rollt das Freundesgrüppchen durch die nächtlichen Straßen Concepcións – mit mir im Schlepptau. Ich lasse mich treiben, nach der seichten Renoir-Plätscherei ein durchdringendes Halleluja. Schöner könnte dieser herbstliche Abend nicht enden.