Sonntag, 23. August 2015

Schnee im Juli? Von Naturgewalten, Elfenhäusern und tellergroßen Zimtschnecken

Björk

Nachdem die Sonne blutrot und in Fetzen gerissen beim Landeanflug auf den einzigen internationalen Flughafen Islands, Keflavík, untergegangen ist, schmeckt die Luft kurz vor Mitternacht nach Salz und klaren Gedanken. Gefühlt ist mit uns ein ganzer Schwall Touristen in diese vulkanisch-klare Idylle eingedrungen – vorzugsweise schippern Koffer aus Europa und den USA über die Gepäckbänder. Draußen warten Busse auf aberhunderte, übermüdete Menschen, die sie in die etwa 50 Kilometer entfernte Hauptstadt bringen werden. Wir sichern uns die letzten beiden, wenn auch voneinander getrennten, Sitzplätze und brettern durch die dämmrigen Abendstunden jenseits von Mitternacht. Die kurvenarme Asphaltstraße frisst sich durch eine Landschaft aus Lavageröll, vereinzelten Büschen und einem bläulich lilafarbenen Teppich aus Lupinen. Linkerhand das Meer, dessen Horizont im bläulich-gräulich wolkigen Abendhimmel versinkt. Die isländische Hauptstadt scheint an diesem späten Sonntagabend oder auch frühen Montagmorgen zu schlafen. Vereinzelt irren umschlungene Pärchen und angeschickerte Trupps durch die stillen Straßen. Im diffusen Licht macht es den Anschein, als würden wir Touristen in die Stadt gebracht werden, um sie mit Leben zu füllen – ein nicht abreißender Strom von Frischfutter. Am Busbahnhof werden wir auf kleinere Busse aufgeteilt, die sich in wiederum noch schmalere Straßen zwängen. In der Barónsstígur wartet ein widerspenstiges Zahlenschloss auf uns, doch ein paar Schlüsselumdrehungen und Treppenstufen später stehen wir vor Johanns Tür. Es ist mittlerweile 1.30 Uhr und noch immer schickt sich der Himmel nicht an, in Dunkelheit zu verschwinden.

Der erste Schluck Wasser am Morgen aus dem Wasserhahn bringt einen degoutanten Schwefelgeruch mit sich – so schmeckt also reinstes Gletscherwasser. Der Wasserkocher lässt sich sowohl auf Sieden als auch auf Kochen einstellen, ein Tee zum Aufwärmen, denn der Blick nach draußen bestätigt feuchte Befürchtungen. Ein Blick auf die Karte, die Laugavegur ist nicht weit entfernt, einmal über die Straße, ein kleines Stück bergauf und schon stehen wir auf Reykjavíks Flaniermeile: bunte Häuser, die aussehen, als würde sie der nächste Windstoß wegfegen, die aber tatsächlich mit eisernem Widerstand den hiesigen Umweltbedingungen strotzen; bunte, verregnete Picknick-Bänke mit hochklappbaren Sitzflächen am Rande einer bunt gestreiften Fußgängerzone, die ihrerseits mit rosafarbenen, blauen und gelben Fahrrädern begrenzt ist. Die bunten Häuser widersprechen dem einheitlichen Himmelsgrau – selbst die jahrzehntealten, stets „expired“ blinkenden Parkuhren sprechen dem grauen Tag grinsend seine Tristesse ab.


Grinsende Straßengesichter
Vor dem Haus des Premierministers treffen wir auf Kevin, ein großgewachsener, schlaksiger Ire in froschgrüner Jacke, aus der er dann und wann ein Marmeladenglas voll Wasser zückt, um daraus zu trinken. Ein Sonnenstrahl sei es gewesen, den Sänger von Sigur Rós getroffen zu haben, ansonsten begegnet der Isländisch-Student dem Fallen des Regens mit schnellerem Reden: Er erzählt von Elfen und ihren Wohnsitzen in Form von Felsen, führt durch den Parlamentsgarten, macht Halt vor dem einzigen Gefängnis der Stadt, das gerade einmal Platz für zwölf Insassen bietet und sich in Nichts außer vielleicht den paar Kameras von einem normalen Haus unterscheidet und schwärmt von unterirdisch mit Warmwasser beheizten Straßen. Mit Wissen gefüttert, begeben wir uns dann zur kolossalen lutherischen Kirche der Stadt: Die Hallgrimskirkja prangt am Ende der von Kindergarten-Bildern gesäumten Eriksgata. Sie erwächst aus dem Hügel, auf dem sie steht und die gesamte Stadt überblickt. In ihrem Bauch ist es mollig warm, es ist hell, klar strukturiert und schlicht. Mit einem Fahrstuhl mit Kirchenmusik gelangen wir in den achten Stock in das Kirchturmgestühl, von wo aus Reykjavíks ganzes Ausmaß deutlich wird.

Hallgrimskirkja mit Leif Eriksson in Statuenform

Wieder vom Turm herabgestiegen, bewegen wir uns in ganz anderen Welten: Bei der Handknitting Association of Iceland stapeln sich Island-Pullover in allen erdenklichen Farben und Ausführungen. Auf Mützen und Schals prangen Papageitaucher, überall hängen kuschlig weiche Kleidungsstücke. Die jungen Verkäuferinnen falten und ordnen und falten und ordnen, als gäbe es kein Morgen, nur beratend scheinen sie nicht unbedingt tätig zu sein.
Auf dem Weg zurück zu unserer Unterkunft statten wir dem Bónus-Supermarkt (mit humanen Öffnungszeiten von 11 bis 18.30 Uhr) und erfrieren beinahe in der Gemüse- und Obstabteilung, in der anstatt Kühlschränke aufzustellen, direkt der gesamte Raum als Kühlraum fungiert. Glücklicherweise handelt es sich bei dem Supermarkt aber nicht um eine 1-Raum-Gefriertruhe. Nach einer kurzen Aufwärmphase in der stets beheizten Unterkunft trauen wir uns noch einmal hinaus ins trüb-feuchte Reykjavík. Die kleinen Straßen mit ihren unzähligen Graffitis erinnern an Valparaíso, das Licht und der Wind eher an Patagonien und das Lava-Gestein an Hanga Roa, während der Blick auf das Konzerthaus namens „Harpa“ bei mir irgendwie Erinnerungen an Bremerhaven herauf beschwört. Einsam und verlassen steht am Alten Hafen ein Fish’n’Chips-Wagen, bei dem wir eine Portion frittierten Fisch mit dicken, heißen Pommes und dänischer Remoulade bestellen und uns damit im Nieselregen die Bäuche wärmen.

Noch bevor der Wecker am nächsten Morgen klingelt, sind wir wach und es ist, als wäre die Sonne hinter der verregneten Wolkenwand nie untergegangen. Ein spartanisches Frühstück mit Aussicht auf einen Tag im Bus erwartet uns – und die ersten natürlichen Eindrücke Islands: auf den touristischen Pfaden des Goldenen Kreises. Außerhalb von Reykjavík bröckeln die kurvenreichen, schmalen Straßen, was dem Busfahrer Snorri wenig ausmacht. Deutlich über Höchstgeschwindigkeit legt der voll besetzte Reisebus mit Beinfreiheit und Ledersitzen Kurve um Kurve, Kilometer um Kilometer zurück. Derweil erläutert Ingi Kuriositäten aus ihrem Geburtsland auf Isländisch angehauchtem Englisch, wobei sie sich auch gerne wiederholt, damit auch ja alle von den Überlandleitungen wissen, die das schwefelhaltige Warmwasser über 30 Kilometer bis in die Hauptstadt pumpen, wo es noch immer mit 87°C in den Haushalten ankommt. Kurz hinter der Hauptstadt, die nächstgrößere Stadt zählt übrigens nur 18 000 Einwohner, steigen aus dem Flachland erste sattgrüne, vulkanische Hügel empor. Den Straßenrand säumen Lupinen, allesamt bläulich, zwischendrin dunkles Lava-Gestein und moosgrüne Lappen, die wie ausgewrungen in der Landschaft liegen. Hie und da bahnt sich weißer Rauch den Weg gen Himmel und malt ein surreales Bild in die urzeitige Umgebung. Der erste Halt: Þingvellir. Touristen trampeln in Scharen zwischen der eurasischen und der amerikanischen tektonischen Platte umher. Auf der einen Seite erhebt sich imposant eine zackige Felswand, auf der anderen windet sich ein Fluss unter drei Brücken hindurch und an einer hölzernen Kirche sowie der nicht mehr bewohnten Sommerresidenz des Premierministers entlang hin zum größten See Islands, an dem das ein oder andere Sommerhaus zum Verkauf steht. Hier wurde im Jahre 1000 das Christentum in Island besiegelt, genauso wie im Jahre 1944 die isländische Unabhängigkeit von Dänemark. Einmal im Jahr traf man sich hier, um eine gesetzgebende Versammlung abzuhalten. Aus dem volksfestähnlichem Gerechtigkeitsempfinden ist ein touristisch gehetztes Treiben geworden.

Þingvellir von oben herab

Mit Verspätung auf dem Gaspedal brettert Snorri dann durch die isländische Flora, die hiesigen Birken sind gerade mal elfengroß. Man müsse sich also nur aufrichten, wenn man sich in einem isländischem Wald verirre, so Ingi. Miniaturwälder in einem mehr oder weniger großen Land, in dem man an kleine Wesen glaubt und wegen ihnen an Felsen vorbeibaut oder den Felsen, das Elfenzuhause, gleich ganz umbettet. Am Geysir aller Geysire, der allerdings seit 1944 schläft, blubbert es nicht, so wie es viele Wasserlöcher mit leicht fauligem Geruch hier tun. Doch sein kleiner Bruder namens Strokkur sorgt für Unterhaltung: Energievoll beult sich das Wasser aus, bevor eine Fontäne nach oben schießt und so dem Druck Luft macht. Drum herum stehen brav an der Absperrungskordel Zuschauer in neonfarbenen Jacken, wetterfester Funktionskleidung und dreckigen Wanderstiefeln – die typischen Island-Touristen also. Jedes Mal wird ein neuer Beobachter nass, jedes Mal halten hunderte Kameras auf die kochend heiße Öffnung im Boden in der Hoffnung auf ein Bild voll Dampf. Hinter dieser Dampfwand taucht immer wieder eine abstrus bunte Landschaft auf: Es blüht gelb und lilafarben, durchbrochen von satten bis hungernden Grüntönen und gestreift von irdischen Rottönen. Zehn Minuten Busfahrt entfernt stürzt sich der Gullfoss zweistufig etwa 30 Meter in die Tiefe. Für sein Tosen sollte er Applaus erhalten, denn er zerrt jeden nur ansatzweise negativen Gedanken mit sich in die Tiefe. Ein letzter und längerer Halt ist heute an der Geheimen Lagune – tatsächlich sind wir fast alleine in dem 38°C warmen Becken, in dem das Wasser dunkelgrün klar über Lava-Gestein schwebt. Der Regen wirft Blasen auf die umnebelte Oberfläche. Im Hintergrund verschwindet eine Ruine, die an eine einstige Umkleidekabine erinnert, im nebligen Weiß. Auf der anderen Seite werden Tomaten, Gurken und Bananen in Gewächshäusern mit künstlichem Orange beleuchtet. Wenn man dann den Kopf ins Wasser legt und ganz still da liegt, hört man die Geschichten des Regens und vielleicht sogar die Elfen, deren Haustüren auf ach so viele Felsen in der weiten Landschaft gemalt sind. Der Abend endet dann wärmend mit einem Brot voll Pilzsuppe im Svidda Kaffi, einem halben Liter Gull-Bier und einem Abendspaziergang entlang der Bucht von Reykjavík.

Am frühen Morgen werden wir zum Hafen chauffiert. Das Unternehmen Elding bringt uns in roten Overalls hinaus auf den heute sehr ruhigen Nordatlantik. Das Wasser strahlt in feinstem Türkis, die fast farbig erscheinenden grauen Wolken hüllen Vulkane und Felsgetüme in ihre Grautöne ein. Michaela aus Österreich steht in ihrem Overall im Crew-Ausblick und erklärt die Regeln an Bord. Ihr folgen nur die wenigsten Touristen, die meisten sind damit beschäftigt, sich ebenfalls in die rote, winddichte und warme Montur zu schmeißen. Drei Stunden auf See stehen uns bevor. Vornehmlich eine Gruppe neureicher Chinesen posiert vor der isländischen Flagge in Wahlbeobachter-Kluft. Nach dem Uhrensystem zeigt Michaela dann an, wo sich gerade ein Wal befindet. Die Bucht vor Reykjavík ist nur 30 bis 40 Meter tief und deswegen hervorragendes Aufzuchtgebiet für Zwerg- und Buckelwale. Die Meeresbiologin und auch die Meeresbewohner geben ihr bestes, die Masse zu unterhalten: Sie macht schlechte Witze und etliche Zwergwale grüßen, mal näher, mal ferner, mit ihrer Fluke. Nur Buckelwale sind heute fotoscheu. Ansonsten ist das weitaus größere Spektakel eigentlich das Wettfotografieren um das schönste Stück Wal: Aufgeregt laufen erwachsene Menschen mit ihrem eingeschränkten Gesichtsfeld vor Augen von backbord nach steuerbord, vom Bug zum Heck, je nachdem, wo sich gerade eine Flosse oder eine Fontäne zeigt. Zwei Weißschnauzdelfine kreuzen ebenfalls unseren Weg.

Zwergwal auf 10 Uhr

Am Hafen warten wir Käsebrot kauend auf unseren Transfer zum Íshestar-Gestüt. Ein wortkarger Fahrer bringt uns in einem Kleinbus in einen Vorort von Reykjavík. Dort dürfen wir uns zunächst einmal hinsetzen und entspannen – so sieht es zumindest das Vokabular der Rezeptionistin vor. In einem Video wird erklärt, wie man auf so ein Islandpferd kommt, die Zügel hält, das Pferd dazu bringt, loszureiten und auch wieder anzuhalten. Ein bezahnspangtes Mädchen geleitet uns anschließend zur Tür hinaus, wo schon Dutzende Paarhufer auf uns warten. Willkürlich werden wir den Pferden zugeteilt, ich lande bei Ísbrá, einem weißgrauen, gemütlichen Hengst, der vor allem eins im Kopf hat: fressen. Etwa zwanzig Männer und Frauen sitzen alsbald auf dem Rücken ihrer Pferde, diese reihen sich ganz von alleine hintereinander auf. Die ersten Schritte sind noch holprig, doch dann findet sich ein Trott und die Gruppe klackert hinein in die abstrakte Lava-Geröll-Welt. Die Sonne bricht abermals aus der Wolkendecke hervor und taucht die Umgebung in krasse Naturtöne: Lupinenviolett, Löwenzahngelb, Holunderblütenweiß, Thymian- und Moosgrün, Lavasteingrau usw. Gemächlich durchstapfen wir die Trollwelt, Pferdearsch an Pferdearsch träumt so mancher sicherlich vom Glück der Erde. Gut, dass die Rücken der Isländer nicht ganz so hoch sind, da ist der Fall nicht ganz so tief. An einem Flusslauf steigen wir aus den Bügeln und lassen die Pferde trinken und fressen, denn es ist warm, für winterverliebte Pferde sogar sehr warm. Mich beschleicht der Gedanke, dass Ísbrá hier schon die ganze Zeit die Zügel hat und nicht ich. Er frisst und frisst und weigert sich zunächst, als es zum Weiterritt geht. Auch als es vom Schritt zum Trab gehen soll, macht er kaum Anstalten seinen Artgenossen zu folgen. Über Stock und vor allem Stein reiten wir gemächlich zurück zum Gestüt. Dabei versinke ich geraden Rückens in Gedanken und sauge die unbeschreibliche Landschaft in mir auf. Zurück in Reykjavík beschert uns ein Abendspaziergang den ersten vollständigen Sonnenuntergang: um 23.25 Uhr.

Naturkitsch pur

Ein Morgen ohne Weckerklingeln, dafür mit leichten Nachwehen vom Reiten: Zwei leicht bläuliche Flecke zeichnen sich zwischen meinen Beinen ab. Aber um Schönheit geht es in diesem Urlaub nun wirklich nicht – zumindest nicht um die eigene. An diesem Morgen frühstücken wir auswärts: in der Bäckerei Sandholt. Die schmale Eingangstür täuscht Winzigkeit vor, doch in Wahrheit ist genug Platz für ein paar Tische vor bepolsterten Wänden und unter Lampen, an denen Steine hängen. Das Licht hier macht die schlichten Farben angenehm heimelig. Die Frühstückskarte gilt von 6.30 bis 10.30 Uhr und beinhaltet vor allem frisch gebackenes Sauerteigbrot mit allerlei Belag. Gestärkt wandern wir durch die Wohnviertel von Reykjavík. Je weiter man sich außerhalb des Stadtzentrums aufhält, desto wohnlicher und gartenverliebter wird es. Bäume und möglichst viele Blumen hinter niedrigen Zäunen scheinen Statussymbol zu sein. Die Häuser sind kastenförmig und eher in natürlichem Grau, bisweilen auch Weiß gehalten. Über größere und kleinere Straßen, vorbei am Olympiastützpunkt gelangen wir zum Botanischen Garten, in dem Pflanzen aus aller Welt hübsch aufgereiht blühen und Reykjavíks Schüler zum Teil ihre Sommerferien verbringen. Während der zweimonatigen Schulpause werden sie oftmals von ihren Eltern dazu verdonnert, etwas zu tun, also knien sie in Grüppchen vor zu stutzenden Hecken oder von Unkraut zu befreienden Beeten. Begutachtet werden sie hier von einer Horde Graugänsen, sie ihre Jungtiere vor allem und jedem hütet.
Bis zum Fährhafen ist es ein gutes Stück zu Fuß: Hier wird verladen, was Island exportiert, hier legen die großen Kreuzfahrtschiffe an und hier riecht es nach Motoröl und klingt es nach schweren Maschinen. Menschen dagegen gibt es hier kaum. Der Weg zurück ins Zentrum führt an der Bucht entlang. Hier rennen Räder, pausieren Kinder auf ihren Inline-Skates und stolpern mit ihren Superman-Skatebords über den Fußgänger- und Radweg. Im Zentrum verspüren wir Kuchenlust und wählen aus der reichhaltigen Vitrine französischen Schokoladenkuchen mit Haselnüssen sowie eine riesige Zimtschnecke mit Karamellüberzug, diese zuckersüße Wolke schmiegt sich wohlig an unsere Gaumen. Dann flanieren wir noch einmal über die Laugavegur, die mit einem Mal zu explodieren scheint. Ein Sonnentag und schon verändert sich das Stadtbild grundlegend. Eine Theatergruppe reist durch staunende Menschenmengen, Schüler spielen auf der rosafarbenen Picknick-Bank sitzend Blasmusik, eine weißblonde Isländerin singt zu ihren Griffen auf der E-Gitarre. Derweil füttern Touristen die Enten und Möwen am Rathausteich Tjörnin. Mit der Sonne im Gesicht wird einem gleich ganz warm ums Herz. Auf dem Rückweg kehren wir dann im Restaurant Mikkeller & Friends ein, schräg gegenüber vom lavasteingrauen Nationaltheater. Blonde Isländerinnen servieren hier still und zurückhaltend. Im Barbereich beleuchtet ein Kofferfisch, das Besteck ist bunt durcheinander gewürfelt und Spiegel bewirken Größe. Die Karte lockt mit geschmolzenem isländischen Käse samt eingelegtem Gemüse und knusprigen Brot, getrocknetem Kabeljau mit Butter bestrichen und Fischbällchen mit Chili-Ei-Creme. Der Kabeljau ist etwas widerspenstig und doch gar nicht so schlecht, ein wenig gewöhnungsbedürftig vielleicht und vor allem kaumuskelbeanspruchend ist der isländische Brotersatz in harten Zeiten. Dafür schmilzt das Rhabarber-Sorbet mit Skyr-Mousse und Mandelkuchen ganz fein auf der Zunge auseinander.

Mit allem, was wir dabei haben, schleppen wir uns am nächsten Morgen die Barónsstigúr hinauf: Rucksack hinten, Rucksack vorne, in den Händen noch eine Tasche voller Essen. Am Busbahnhof schließen wir einen kleinen Teil davon ein, der Rest verschwindet im Bauch eines höher gelegten Buses. Der schweigsame, pausbackige Fahrer mit Sonnenbrille fährt ohne Eile eine ganze Weile über befestigte Straßen, bis sich hinter einer Abzweigung eine unwegsamere Route auftut. Die erste Bus-Flussquerung ist aufregend, doch schnell wird der erste Gang und sehr gemäßigtes Tempo Normalität. Der Busfahrer lässt sich seine Ruhe nicht nehmen und macht jedem Platz, der an uns vorbei will. Die Landschaft versteinert zunehmend, karge, unendliche Lava-Felder, Hügel und Berge, in die der Schnee vom vergangenen Winter Figuren malt: Adler, Reiter und was die Fantasie sonst noch alles zulässt. Der Himmel zeigt sich wolkenlos blau, die Farben werden mit jedem Sonnenstrahl intensiver. Nach einer gefühlten Ewigkeit kommen wir an unserem heutigen Ziel an: ein weit abgestecktes Feld, vor dem einige Autos parken und in dem bereits einige Zelte festgezurrt sind. Wir suchen uns ein steinfreies Plätzchen, hier in Landmannalaugar, an einem schmalen Bachlauf, bauen unser Zelt auf und essen in Gesellschaft von Odinshühnchen unter freiem Himmel unsere Mittagsbrote. Dann richten wir uns häuslich ein, insofern das in einem Zelt möglich ist, bevor wir zum Gipfel des Bláhnúkur aufbrechen. Um ihn herum schmilzt so langsam der Schnee und meißelt löchrige Skulpturen in die Schneedecke. Wir finden die Aufstiegsstelle, fahren unsere Wanderstöcke aus und marschieren im Zickzack auf den Gipfel dieses grünlich-dunkel schimmernden Berges. Auf dem 945 Meter hohen Gipfel sticht eine Orientierungsscheibe in den mittlerweile bewölkten Himmel, durch dessen Decke dann und wann die Sonne bricht und den Bergen ein wenig zusätzliche Dramatik verleiht. 

Farbenspiel nahe bei Landmannalaugar


Ein anderer Weg führt wieder hinab, weniger steil und anscheinend unverfehlbar, doch an einem Punkt wissen wir nicht mehr, ob wieder leicht bergauf oder doch eher übers Schneefeld bergab. Wir versuchen es mit ersterem, treffen auf eine Gruppe Franzosen, die auch nicht so richtig weiter weiß, dann nehmen wir doch das Schneefeld, kommen dadurch aber auf der falschen Seite des Flusses heraus. Wo also überqueren? Unsere Wandersandalen liegen gut verstaut im Zelt. Wir suchen und suchen, bis wir dann doch irgendwann unsere Schuhe ausziehen und barfuß über das steinige Flussbett durchs eisige Gletscherwasser waten. Auf der anderen Flussseite sind wir uns dann schon wieder nicht ganz sicher, wo der Weg weitergeht. Und plötzlich taucht schon wieder dieser Franzose aus dem Nichts auf, er erklärt, wir müssten ein Stück zurück, um dann den weißen Pflöcken zu folgen. Und tatsächlich, endlich sind wir auf dem richtigen Weg durch ein erkaltetes, schwarz-weißes Lava-Feld. Ich frage mich, wie viele Elfen hier wohl wohnen und ob sie all den flüchtigen Besuchern, die auf ihren Häusern herumtrampeln, eigentlich wohl gesonnen sind oder ihnen insgeheim doch Böses wollen. Zurück am Camping-Platz ergattern wir einen geschützten Bankplatz und kochen Brokkoli-Mozzarella-Nudeln. Das Urteil: essbar, sogar winzige Brokkoli-Stückchen hängen zwischen den Zähnen. Zu uns gesellen sich Norbert und Cornelia, die ein wenig getrockneten Fisch und ein paar Islandeindrücke mit uns teilen. Der Abend endet schließlich, als die Sonne hinter den Bergen verschwindet, die Wärme des Tages mit sich nimmt und die frische Luft ihren Preis fordert: Schlaf. Aber nicht bevor wir uns Badeanzüge unterziehen und über eine hölzerne Steg-Brücken-Konstruktion bis zum blubbernd heißen Flüsschen laufen, unsere Kleidung bibbernd in den Wind hängen und uns in die wärmenden Fluten schmeißen. Da der heiße Zufluss etwas oberhalb verläuft, ist es leider nicht überall gleichmäßig warm. Außerdem tummelt sich eine riesige Gruppe Franzosen im Wasser und schirmt das warme Wasser ab. Doch irgendwann sitzen wir, die Füße der heißen Quelle zugewandt, mit wildfremden Menschen Seite an Seite und den wärmen den leicht verschwitzten Körper bettwarm an.

Die Nacht im Zelt geht schnell vorbei, noch immer wissen wir nicht, ob es überhaupt irgendwann so richtig dunkel wird. Einige unserer Nachbarn sind bereits aufgebrochen, als wir noch fünf 100-Kronen-Münzen in einen metallenen Schlitz stecken, um fünf Minuten heißes Wasser auf der Haut zu spüren. Beim Frühstück fährt dann plötzlich ein Bus nach dem anderen vor und spuckt leicht bekleidete (im Gegensatz zum Standard-Wanderer) Menschen aus, die vor aller Augen herumspringen, spurten, joggen. Um 9 Uhr startet hier heute der Laugavegur-Ultramarathon, rund 400 Männer und Frauen drängeln sich durch das Lava-Feld, über das auch wir eine Stunde später laufen werden. Allerdings mit deutlich mehr Gepäck und sehr viel weniger Ausdauer – denn die Truppe Laufwütiger rennt die Strecke, für die wir vier Tage einplanen, an einem einzigen und das auch noch auf Zeit. Wir lassen uns nicht beirren. 

Der Blick zurück ist immer lohnenswert: ein erstarrtes Lavafeld 

Das dunkle Lavafeld tut sich vor uns auf, ein Elfenhaus-Meer, über das unsere Füße (in dicken Wanderstiefeln) waten. Links der bereits bestiegene Bláhnúkur, rechts der noch wenig beachtete Brennisteinsalda mit seinen Gelb-, Rot- und Brauntönen, ein wenig Grün schimmert auch hie und da auf. Dann geht es bergauf, mal über Schnee, meist über Felsen und Naturtreppen. Der Blick zurück und um uns herum entschädigt schon jetzt für die Mühen, von denen wir zu diesem Zeitpunkt noch nichts ahnen. Je höher wir gelangen, desto eisiger wird die Landschaft. Immer mehr Schneefelder überziehen die vulkanisch schwarze Erde, vermehrt müssen wir diese auch queren – und sie werden länger und länger. Rechterhand blubbert es plötzlich fröhlich vor sich hin und wir stehen in einer Schwefelwolke, das bedeutet zwei Drittel des heutigen Weges und ein hoffentlich letzter steiler Anstieg. Natürlich über Unmengen von Schnee – und dann: noch mehr Schnee, ein scheinbar unendliches Schneefeld, die Sonne brennt sich derweil furchentief in meine Haut. Gänzlich unvermittelt hören wir Motorengeräusche, hier oben fernab von jeglicher Zivilisation? Und schon rasen zwei motorisierte Schlitten an uns vorbei, als befänden wir uns in einem schlechten Action-Film. Die beiden Ungetüme sind verschwinden so schnell, wie sie gekommen sind, nur unser Schneedrama bleibt uns treu. Langsam winken in der Ferne winzigste schwarze Lava-Inseln im Schneeweiß, auf denen sich scharfkantige Gebilde aus vulkanischem Glas in den Himmel recken. Am nächsten Holzpflock ist es dann soweit: die Hütte von Hrafntinnusker ist in Sichtweite, allerdings auch eine Menge Schnee. Unsere Laune sinkt auf den vermeintlichen Tiefpunkt. In der Hütte ist es kuschlig warm, der Hüttenwart versichert, es sei kein Problem auf dem Schnee zu zelten, das täten täglich rund zwanzig Wanderer. Also bezahlen wir die 1600 Kronen pro Person und folgen seinem Rat, in eine der bereits ausgehobenen Schutzburgen aus Schnee zu ziehen. Die an der Hütte lehnenden Schaufeln übersehen wir geflissentlich. 

Schneeschlafplätze

Noch strahlt die Sonne auf das schneeweiße Tal zu unseren Füßen, wir befinden uns auf rund 1000 Meter über dem Meeresspiegel. Alle, die hier ankommen, ziehen weiter, zumindest alle, die nicht bereits ein halbes Jahr im Voraus eines der abgezählten Stockbetten in der Hütte bezahlt haben. Zweifel machen sich breit: Sollten wir vielleicht doch weiterziehen? Es ist etwa 15 Uhr, Zeit genug wäre also noch, doch es mangelt an Kraft für weitere zwölf Kilometer über Schnee und Eis. Also bleiben wir – so wie Julie und Julien aus Lyon. Auf der hölzernen Terrasse singt eine Gruppe Österreicher ein Prosit der Gemütlichkeit – wahrscheinlich aufgrund der Aussicht, nicht nur auf das sonnenbeschienene Tal und die umliegenden Berge, sondern auch auf ein warmes Bett – und stoßen mit richtigen Gläsern und Rotwein an. Wir kochen draußen auf dem kleinen Gaskocher Wasser für köstliche Nudeln, dazu bietet Julien einen Weißwein aus dem Penedès. Es könnte schlimmer sein. Schon um 19 Uhr verschwinden wir im Zelt, es fällt mir schwer, das Erlebte in Worte zu fassen, also schlafe ich ein. Langsam kriecht die Schneekälte von unten durch die Iso-Matte in den Schlafsack. Wir breiten die Rettungsdecke unter uns aus, mittlerweile rüttelt der Wind mit aller Kraft an den Steinen, die unser Zelt am Boden halten sollen. Das Vorzelt flattert bereits, gegen 1 Uhr nachts löst sich nicht nur eine Ecke, sondern gleich eine ganze Seite des Überzelts, die eisigen Windböen wecken uns unsanft, wir laufen Gefahr, unser Zeltdach über dem Kopf zu verlieren. Meine Versuche, die Heringe in den Boden zu rammen, scheitern kläglich, der Himmel hängt tief und grau, es fühlt sich nach eisiger Hölle an. Aus dem Schnee ums herum lassen sich auch keine Mauern mehr hochziehen, also packen wir schleunigst alles zusammen und schaffen Rucksäcke, Schlafsäcke, Iso-Matten und Zelt in den Vorraum der Hütte, wo sämtliche Wanderschuhe der Hüttenbewohner trocknen und deren Decke mit Wanderstöcken behangen ist. Wir sind nicht die einzigen, eine junge Frau ist aus ihrem Zelt oder eher ihrem Sommerschlafsack geflohen. Irgendwie arrangieren wir uns und verbringen den Rest der „Nacht“ hier. Wir dösen vor uns hin, die Vortür knallt mit jeder Sturmbö gegen die Holztür, ansonsten ist es ruhig. Als die ersten Hüttenbewohner ihren morgendlichen Toilettengang tätigen, packen wir zusammen, frühstücken bibbernd auf der Terrasse. Die Aussicht ist trüb, sehr trüb. Doch ewig können wir hier nicht bleiben, also trotten wir zusammen mit Julie und Julien los. Die Wanderstöcke ramme ich Schritt für Schritt ins mittlerweile grauschwarze Eis, nach und nach werden die Schneefelder weniger, dafür kommt er nun von oben, der Schnee, und mit ihm wieder Wind. Mir schießt ein Bild aus dem Film „Nobody Wants the Night“ – so langsam dämmert mir, wie sich eine Polarexpedition anfühlen könnte. Ein paar warme Wolken steigen neben uns auf, der Grund ist wieder fest, der Nebel ist endgültig verschwunden, doch der Wind weht immer stärker. Als der Grat, auf dem wir balancieren, immer schmaler und der Abgrund immer tiefer wird, wissen wir: Auch der heutige Tag wird kein Spaziergang. Selbst bergab drückt der Wind so stark, dass es schwierig ist, einen Schritt nach dem anderen zu tun. Julien springt wie eine Bergziege über den losen, steilen Weg, wir kämpfen um jeden Meter hinab ins grüne, von Flüssen durchzogene Tal. Es wir ein wenig wärmer, jedoch nicht weniger stürmisch. Auf dem Gipfel hatten wir bereits den See Alftavátn ins Visier nehmen können, jetzt verschwindet er wieder hinter langsam einstürzenden Schneebrücken, Gletscherflüssen und braungrünen Weiten. Immer wieder hüpfen wir über Rinnsale und Flüsschen, erst kurz vorm Campingplatz tauschen wir unsere Wanderschuhe gegen Wandersandalen, um einen etwas größeren Wasserlauf zu queren. Über das Moos läuft es sich ähnlich schwer wie über Schnee, aber irgendwann gelangen auch wir ans Ziel. Dort können wir unser Glück kaum glauben: Es gibt freie Betten. Als wir die Zimmertür mit der Nummer 4 öffnen, wirken die acht Quadratmeter und die beiden mit Plastik bezogenen Betten wie das Paradies. Eine heiße Dusche, ein Mittagsschlaf und dann ist die Welt wieder in Ordnung. Mit Blick auf den See bequemen wir uns noch einmal raus und spazieren am schwarzen Ufer entlang. Der Wind hat derweil nachgelassen, die Sonne scheint und auch die Hoffnung, dass diese Nacht das Dach über unserem Kopf hält.

Mit Blick auf den Álftavátn übernachten - ein Traum


Früh morgens um 6 Uhr sind die ersten in der Hütte wach und lärmen in der Küche und damit leider auch direkt neben unseren Köpfen. Noch scheint die Sonne über dem See, doch von den rückgewandten Bergen ziehen schneeregenschwere Wolken auf. Am Frühstückstisch herrscht mittlerweile Hochbetrieb, da ist es gar nicht so einfach einen freien Platz am Gasherd zu bekommen, um den magenwärmenden Haferbrei kochen zu können. Draußen beginnt es derweil heftig zu regnen, sogar zu schneien, dann zeigt sich die Sonne, ein Regenbogen und als wir aus der Tür treten ist uns der Himmel wohlgesonnen. Doch nur sehr kurz, einem isländischen Sprichwort zufolge müsse man nur fünf Minuten warten, wenn einem das Wetter nicht gefiele. Und plitschplatsch, schon regnet es wieder. Es zieht an den nackten Händen, das Thermometer zeigt 7°C, wir laufen uns einfach warm. Als die Füße warmgelaufen sind, müssen sie auch schon hinaus aus den Wanderstiefeln und hinein in die Sandalen, denn die erste richtige Flussquerung steht an. Ich entledige mich sowohl meiner Regen- als auch meiner Wanderhose, hake mich bei meiner Mutter ein und im Gleichschritt waten wir durch das strömungsstarke Gletscherwasser, das etwa bis zu den Knien reicht. Lavaschwarze Pfade geht es bergauf und bergab, gelegentlich liegt noch ein wenig Schnee auf unserem Weg herum und überall, wo wir auch nur hinschauen, Berge – mal moosgrün bewachsen, mal mit einer puderzuckrigen Schneehaube überzogen. Uns entgegen kommt eine junge Schülergruppe, nicht die einzige Wandergruppe mit leichtem Gepäck, denn es gibt die Möglichkeit, sich alles an die Hütten auf dem Weg liefern zu lassen, von Essen über Schlafsack bis hin zum Föhn. Auf dem Weg liegt die Hvangill-Hütte, die umrundet von Steinen wie aus einem Wikinger-Film anmutet. Der Pfeil nach Þórsmörk leitet uns über ein holpriges Lava-Feld, das an einem Wasserfall endet. Kurz darauf erwartet uns ein zweiter Fluss, das Wasser ist diesmal tiefer und auch ein bisschen kälter, doch zu zweit schaffen wir es auf die andere Seite. Kneipp-Kuren für Fortgeschrittene. Gut durchblutet werden die Füße schnell wieder warm. Es beginnt zu schneien, glücklicherweise schräg von hinten. Eine große, schwarze Sandwüste tut sich vor uns auf, dieses Panorama wird uns ein gutes Stück des Weges begleiten – so wie auch eine große Anzahl von Wanderern. Einsam ist man auf Islands beliebtesten Wanderweg nur selten. Über den nächsten Fluss ist glücklicherweise eine Brücke geschlagen, die Strömung würde jeden gestandenen Mann in die Knie zwingen. Der Untergrund wird immer sandiger, die Schritte immer schwerer, die dünenähnlichen Berge immer höher und plötzlich weitet sich das Feld wieder. Die Odyssee durch die mittlerweile von der Sonne erhitzen Wüste scheint kein Ende zu nehmen. Schlagartig ändert sich der Ausblick, es ist, als würden Littlefoot und seine Familie aus „In einem Land vor unserer Zeit“ das Große Tal finden. 

Kinokindheitserinnerungen werden wach

Die Hütte in Emstrur ist groß, wir machen uns Hoffnungen auf einen Schlafplatz mit Bett. Und wirklich, es gibt noch genau zwei Betten, wir wollen schon bezahlen, da kommt die Information, dass bereits einem Pärchen die Schlafplätze versprochen wurden. Hinter uns stehen Julie und Julien, die gestern noch ein wenig weiter gewandert sind. Und wie es sich herausstellt, handelt es sich bei dem Pärchen um die beiden. Also nehmen wir den Zeltplatz unten am plätschernden Bach. Gegen Abend beginnt es dann zu regnen und hört bis zum nächsten Morgen nicht mehr auf, doch das Zeltdach hält diesmal stand.
Der Zeltplatz leert sich schnell am nächsten Morgen, auch wir packen zusammen, die letzte Etappe steht an, denn von Þórsmörk bis nach Skógar werden wir es wohl nicht mehr schaffen – zu viel Schnee auf dem zu überquerenden Pass, davon haben wir erst einmal genug gesehen. Wir suchen uns ein Plätzchen am Bach, kochen Wasser für Tee und Kaffee und warmes Müsli. Die Sonne lugt hinterm Berg hervor und noch einmal verstauen wir all unsere Habseligkeiten in unseren Rucksäcken. Leider schaffen wir es nicht, vor der britischen, immer noch erzählfreudigen Wandertruppe aufzubrechen, doch nach ein paar Überholversuchen sichern wir uns genug Vorsprung. Ein kurzer, steiler Aufstieg bringt uns ins Schwitzen, dann geht es weiter bergauf, bergab, fast unbemerkt schleicht sich ein wenig mehr Vegetation ins Bild. Es rauscht in meinen Ohren, eine Brücke schlägt den Weg über einen reißenden Fluss mitten durch eine kantige Schlucht, die grün, rot, braun und schwarz schimmert, im Hintergrund ragen schlecken Gletscherzungen an den Bergen. Der Himmel meint es heute gut mit uns, er ist wolkenbedeckt und sorgt so für angenehmes Wanderwetter. Eben noch hat uns der Einhornberg begleitet, jetzt frisst sich das Moos in die wie im Fall erstarrt wirkenden Felsen. Eine Biegung weiter wird der Untergrund weder sandig schwarz, kleinere Steine liegen wie zufällig in diese karge Landschaft hineingeworfen herum und die ersten kniehohen Bäume erobern das Terrain. Die ersten Vögel zwitschern hier. An der nächsten Biegung wird dann selbst der Boden farbenfroh, hier schimmern Pflanzen rötlich, dort das Moos grünlich, dort Gräser weißlich. Es blühen Blumen, übergroße und winzig kleine: lilafarben, gelb, rosafarben, pink – und vereinzelt wachsen hier sogar handtellergroße Orchideen. 

Geflecktes Knabenkraut am Wegesrand

Mit einem Mal sind die Bäume hoch geschnellt, zwischen ihnen versteckt sich eine Brücke und nur mit viel Fantasie kann man zwischen ihren Streben den Abgrund erahnen. Auf der anderen Seite picknicken wir kurz, dann geht es wieder hoch hinauf, nur um bald wieder steil bergab zu stolpern. Denn, wo es hinauf geht, geht es auch immer wieder hinunter – das haben wir bereits gelernt. Durch das steinige Tal vor uns schlängelt sich ein letzter zu querender, tausendarmiger Fluss. Ein Pflock weist uns den Weg, im Gleichmarsch und in Sandalen schmeißen wir uns in die Fluten, die Strömung ist recht stark, doch wir erreichen die andere Flussseite. Dort erschlägt uns die Flora: ein Mini-Wald in satten Farben wuchert uns über den Kopf. Und dann: das Tal, in dem unser Ziel liegt. Müde und glücklich ergattern wir sogar ein Bett in der hölzernen Hütte. Es gibt sogar einen kleinen Laden, der allerdings gerade keine Lebensmittel – außer Bier – zu bieten hat. Die nächste Lieferung soll gegen 20 Uhr kommen, wir setzen uns auf die Bänke und wen treffen wir? Julie und Julien. Sie bereits am Ende, er darauf erpicht, am nächsten Tag die 22 Kilometer von Þórsmörk nach Skógar zu laufen.
Um nicht aus der Übung zu kommen, ziehen wir uns auch am folgenden Tag die Wanderstiefel an und erkunden mit leichtem Gepäck das Tal rund um den Eyjafjallajökull. Über einen schmalen Grat erreichen wir einen der vielen Gipfel, von wo aus sich sogar das Meer in weiter Ferne sehen lässt. Die Wege hier sind deutlich bewachsener und weniger bewandert, man könnte meinen, wir seien die einzigen Menschen hier oben.

Ausblick mit Meerahnungen

Das erste Mal seit Langem werden wir vom Klingeln des Weckers wach, der Bus fährt nämlich bereits um 7.30 Uhr an der Laudigadur-Hütte ab. Also schnell, verbotenerweise die Küche vor 7 Uhr betreten und in dem kuschlig hölzernen Essenssaal frühstücken, denn da erblicken wir auch schon den Bus. Anderthalb Stunden fährt er uns durch die vielen Abzweigungen des Krossá, dann müssen wir aussteigen und anderthalb Stunden auf unseren Anschlussbus warten. Der Seljalandsfoss leistet uns Gesellschaft und mit ihm ein nicht abreißender Touristenfluss, denn der zu Fuß umrundbare Wasserfall ist beliebt. Neben dem vollgeparkten Parkplatz gibt es einen Souvenir-Laden, einen fahrbaren Imbiss und Toiletten mit elektrischem Händetrockner. Als dann noch ein hiesiger Musiker seine Gitarre an einen Verstärker anschließt, wird klar: Die Zivilisation hat uns zurück. Der nächste Bus bringt uns erst zum Skogafoss, einem noch größeren Wasserfall, wo wir unverhofft auf Julie und Julien stoßen, dann nach Reyjafjanes, einem schwarzen Sandstrand, bis hin nach Vík. 

Reyjafjanes - einer der schönsten Strände Islands

Ein kleiner, verschlafener 350-Seelen-Ort an der Südküste Islands. Hier schlagen wir ein letztes Mal unser Zelt auf. Kaum steht es, überqueren wir die Straße, decken uns am Tankstellen-Kiosk mit belegten Broten, Äpfeln und Skyr ein, im Glauben, dass dies der örtliche Supermarkt sei. Auf dem Campingplatz schmeißen wir den Gaskocher an, setzen Tee auf und genießen unser Festmahl. Gesättigt kugeln wir an den Strand, die Sonne scheint uns ins Gesicht, die Welt erscheint heile. Der schwarze Sandstrand reicht weiter, als das Auge fassen kann, über unseren Köpfen kreisen kreischende Möwen, doch Papageitaucher haben wir noch nicht gesichtet. Deswegen machen wir uns am späten Nachmittag auf zum Reynisfjall, auf dem Berg soll man sie problemlos in den Abend- und Morgenstunden sichten können. Auf dem Weg stolpern wir über den richtigen Supermarkt, biegen dann in die einzige, sehr kurze, von Bäumen gesäumte Allee ein und wandern über die grobe Schotterpiste im Zickzack hinauf. Ein schmaler Pfad führt an den Klippen entlang, unser Glück ist mäßig, mit dem Fernglas erspähen wir zwar flauschige Jungmöwen in Felsspalten, doch von Papageitauchern keine Spur. Dafür blicken und blöken uns zahlreiche Schafe entgegen, die nur ungern und dann sehr sprunghaft Platz machen. Eine verlassene US-Militär-Basis verwildert im steten Wind, der verrostete Schlagbaum verwehrt hier schon lange niemandem mehr den Weg. Ein wenig enttäuscht treten wir den Rückweg an und füllen unsere Bäuche. Bei einem letzten abendlichen Strandspaziergang wagen wir uns dann zur Teufelshand, die rechts von Vík aus dem Wasser ragt. Und da flattern sie, wie wild mit den Flügeln schlagend sehen sie aus wie übergroße Kolibris, die sich von den grün bewachsenen Felsen in die Tiefe stürzen, um ihre Runde übers Meer zu drehen, immer und immer wieder – als müssten sie sich noch einmal richtig austoben, bevor sie schlafen können. Die Lach- und Heringsmöwen dagegen gleiten mit einer Seelenruhe durch die Lüfte.

Wer suchet, der findet

Müde und mit unzähligen naturgewaltigen Bildern fahren wir am nächsten Tag zurück nach Reykjavík, um dort noch ein wenig Zeit zu verbummeln, die winzige Insel Viðey zu besuchen, auf der Yoko Ono ihren Imagine Peace Tower installiert hat, gut in der Sandholt-Bäckerei zu frühstücken und uns wieder an die Zivilisation zu gewöhnen – mit all ihren seltsamen Ausprägungen: im Kunstmuseum befindet sich ein erschreckend-geheimnisvoller Wald voller zurückgelassener Teddybären der Künstlerin Kathy Clark, in einer Seitenstraße messen sich muskelbepackte Isländer beim Gewichtheben und im Café Loki wird mir fermentierter Hai kredenzt, der in etwa so schmeckt, wie Harzer Roller riecht. Ein Island-Höhepunkt steht noch aus: Am Abend, bevor wir zum Flughafen fahren, machen wir an der Blauen Lagune Halt. Es ist bereits 18.30 Uhr und die Schlange ist lang. Nach einer halben Stunde gelangen wir endlich in die eng bemessenen Umkleideräume und dann auch nach draußen. De Blaue Lagune schimmert eher grünlich, sie ist glücklicherweise groß genug, um die Menschenmassen in sich verschwinden zu lassen. Das 38°C warme Meerwasser kommt aus dem Boden und ist reich an allerlei gesunden Mineralstoffen. Die Dampfsauna befindet sich in einer Lava-Grotte, sodass man die Hand vor Augen kaum erkennt, die normale Sauna mit großen Fenstern dagegen ist hölzern eingerichtet und bietet den Blick auf Unmengen von planschenden Touristen, die sich eine weißliche Schlammmaske ins Gesicht schmieren und Bier, Sekt oder Smoothies direkt im Wasser schlürfen. Dieser Rummel überfordert und enttäuscht gleichzeitig. Doch zumindest kommen wir porentief rein am Flughafen an – mittlerweile wird es sogar richtig dunkel. Und so heben wir um 00.35 Uhr in den schwarzen Nachthimmel ab. Bless!