Die
Zeit, wo ist sie geblieben… Wie häufig stellt man sich eigentlich diese Frage?
Oft genug, meiner Meinung nach. Drei Wochen Chile im Schnelldurchlauf nicht nur
für mich, sondern auch für meine Leser. Erwähnenswertes? Eigentlich eine Menge,
denn sonst wären die Stunden und Minuten nicht so schnell an mir vorbeigezogen.
Die Zeit in Concepción neigt sich dem Ende zu, denn bald fliege ich hoch in den
Norden. Nach zweieinhalb Jahren endlich mal wieder richtiges Chaos-Großstadtgefühl
erleben. In Bogotá.
Aber
erst einmal streife ich noch ein wenig durch die mir mittlerweile bekannten
kleinen und größeren Straßen Concepcións, genieße die Sommersonne auf der Haut,
die frischen Heidel-, Him- und Erdbeeren, die überall am Straßenrand verkauft
werden. Plötzlich scheint ein ganz anderes Licht auf diese Stadt, mit der ich
anfangs nicht unbedingt zurecht gekommen bin. Aber jetzt, wo im Dezember der
Sommer da ist und der Weihnachtsmann in kurzen Hosen Saxophon spielt, das Eis
klebrige Spuren auf den Händen hinterlässt und die knutschenden Pärchen in
allen Parks sich verhundertfacht haben, da kommt in mir das Gefühl auf, ich
könnte es noch eine Weile hier aushalten. Aber nicht für immer. Und ab und an
mal raus zwischen all den letzten Klausuren, das ist auch nicht verkehrt. An
einem Sonntagmorgen setze ich mich mit Rita und Andrea in den Bus in Richtung
Los Ángeles, wir steigen allerdings früher aus: an den Saltos del Laja. Die
größten Wasserfälle in Chile. Es sind nicht gerade die Niagarafälle, aber noch
dauert der Sommer nicht zu lange an, sodass sie dennoch eine gewisse Menge
Wasser führen. Glücklicherweise sind wir früh in den Bus gestiegen und noch
halten sich die Pärchen und Poser mit ihren Digitalkameras in Grenzen. Der
Hauptwasserfall weht uns ein wenig Frische und Nässe in Haare und Kleidung,
bevor wir es uns hinter der Absperrung gemütlich machen und von oben herab auf
das Spektakel schauen. Derweil gibt es Käsebrote und Zimtschnecken, ein
leichtes Lüftchen und viel Sonne. Erst als die Touristen sich mehren, erhalten
wir vermehrt Blicke und Kommentare. Da auch wir einen wunderbar touristischen
Tag verbringen wollen, steigen wir die steile und halbwegs gesicherte Treppe
hinab zu dem klaren Wasserfallfluss, der sich durch die urige Felsformationen
schlängelt und besteigen das Touristenboot. Zwölf bis fünfzehn Minuten dauert
die Fahrt, mit dem Kanu wäre es sicherlich abenteuerlicher, aber zumindest sind
wir dem kristallklaren Wasser ein Stück näher. Außerdem tuckern wir an ein paar
einheimischen Jungs vorbei, die sich an ihrer Bade- oder Bräunungsstelle in
Pose werfen. Da Sonntag ist, gibt es nach der Bootsfahrt noch ein Eis.
Herrlich.
Unter
der Woche stehen Prüfungen an, ein paar Einkäufe hier, ein wenig Planen dort.
Und immer wieder Weihnachtslieder bei der Hitze, die sich in meine Haut brennt,
sobald ich vor die Tür trete. Noch ein letztes Mal schwimmen gehen, ein letztes
Mal Kuchen in dem schönsten Café Concepcións essen, noch ein letztes Mal auf
der Plaza Perú auf Freunde warten. Zumindest, bis ich im März wieder zurück in
das kleine Nest komme.
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| Und da stürzt es in die Tiefe |
An
meinem vorletzten chilenischen Wochenende besteige ich erneut den Bus in
Richtung Los Ángeles und diesmal mit zwei Chilenen, Masiel und Juan Carlos, um
tatsächlich bis zur Endhaltestelle zu fahren. Weit im Süden von Conce und nah
an den Anden haben die Eltern von Juan Carlos vor etwa vier Jahren ein
Grundstück erworben. Ein Hektar groß mitsamt einem kleinen Wald, umgeben von
Weizenfeldern und Heidelbeerbüschen der Nachbarn, geschorenen Schafen und
Hühnern. Darauf steht ein hölzernes Haus, das hell knarrende Zimmer für die
Großfamilie bereithält. Als wir am Freitagabend ankommen, gibt es frisch
gebackenes Brot, Käse, Tee und einen unglaublichen Sternenhimmel. Die halbe
Nacht verbringen wir draußen, liegen auf der Ladefläche des Jeeps und starren in
den schwarzen von leuchtenden Punkten übersäten Nachthimmel. Und plötzlich
zischt es, ein schmaler Streifen durchschneidet die Tiefe, und noch einer und
noch einer. Es regnet fast schon Sternschnuppen. Außer meinem Glücksstaunen ist
es unglaublich still hier. Die Nacht könnte nicht schöner sein und irgendwie
überkommt mich dieses Gefühl der Zufriedenheit. Auch wenn sich die nächtliche
Kälte über meine Füße durch die Beine in meinen Körper frisst, breitet sich von
Innen her eine Wärme aus.
| Mittagessen im Freien |
Der
Frühstückstisch ist gedeckt, die Sonne kitzelt auf der Nasenspitze und der Wind
bringt eine frische Brise Waldluft mit sich. Da ist es mir sogar gleich, dass der
zum Inventar dazugehörende Hund Duque das ein oder andere Mal angeschnüffelt
kommt und versucht, mich zum Spielen zu animieren. Außerdem wartet bereits
jemand anderes aufs Spielen. Die dreieinhalbjährige Nichte von Juan Carlos.
Irgendwie habe ich einen Narren an dem kleinen Wirbelwind gefressen. Ich werde
frisiert und geschminkt, wir laufen auf ihre Anweisungen hin durch das Dickicht
des Hinterhauswaldes, immer im Schlepptau: Duque. Dann wird aufgetischt,
Mittagessen unter freiem Himmel, was kann es besseres geben. Im Schatten der
Bäume deckt sich langsam der Tisch. Ich beobachte alles von oben herab. Denn
irgendwas hat mich dazu gebracht, hoch in den Baum zu klettern und dort in
aller schattigen Ruhe ein Buch zu lesen. Und auch nach dem Essen klettern meine
nackten Füße an dem rauen Baumstamm empor, um dem Mittagsschlaf ein Schnippchen
zu schlagen und unter dem Blätterdach Zuflucht in einem der so vielen noch zu
lesenden Büchern zu finden. Noch ein kurzer Glücksmoment. Stille. Bis Sofia
wieder wach ist und umhertollen will. In der Küche werden frische empanadas mit Krebsfleischfüllung
zubereitet und das kleine Häuschen nebenan wird für die Geburtstagsfeier des
Vaters von Juan Carlos, der ebenfalls Juan Carlos heißt, mit Luftballons
geschmückt. Als die Sterne schon längst am Himmel funkeln, als gäbe es kein Morgen,
wird nach dem Abendessen wohlgemerkt, der Grill angeschmissen und Rippchen
aufgelegt. Gut, dass ich Vegetarierin bin, denn jetzt noch etwas essen...
Selbst das Stück Geburtstagstorte macht mir zu schaffen. Aber dem
Himbeer-Blätterteig-Karamell-Sahne-Biskuit-Krams kann selbst ein überfüllter
Magen nicht widerstehen. Der
erste Advent ist zwar kalendarisch da, aber für mich bei 30°C und strahlend
blauem Himmel weit entfernt.
Die
letzte Uniwoche ist extrem kurz, da die meisten Prüfungen schon hinter mir liegen
und die Dozenten es vorziehen, diese zu Hause zu korrigieren, als weiterhin zu
unterrichten, ist am Montagabend mein letzter Literaturkurs und am Dienstag
werde ich von einer der Dozentinnen zu einem unglaublich leckeren Stück
Maracuja-Torte eingeladen. Und so plötzlich endet dieses Semester, lecker und
unerwartet. Denn mit dem Semester endet auch meine Zeit in Chile, zumindest
vorerst. Am Freitag muss ich aus dem Zimmer raus. Das bedeutet Sachen packen,
noch ein wenig Papierkrams erledigen und zusehen, wo ich die verbleibenden Tage
unterkomme. Glücklicherweise habe ich zwei sehr gute Freunde gefunden und am
Freitagabend mache ich mich auf nach Chiguayante zu Masiel und ihrer Familie.
Am
zweiten Advent besteige ich wieder einmal den Bus, schwer bepackt, aber noch
nicht mit Ziel Bogotá, sondern Santiago de Chile. Manu Chao spielt nämlich
unter freiem Himmel in der chilenischen Hauptstadt und das kann man sich nicht
entgehen lassen. Die Arena ist prall gefüllt, Andrea, Rita, Johannes und ich
kämpfen um einen guten Platz nicht allzu weit von der Bühne entfernt, sodass
wir zumindest erkennen können, wer da auf der Bühne steht. Ganze drei Stunden
feiert sich der zwar in die Jahre gekommene, aber dennoch reichlich hyperaktive
Musiker, bis wir fast zusammenbrechen. Nach der dritten Zugabe gehen irgendwann
die Bühnenlichter tatsächlich aus. Und alles drängt in Richtung Ausgang. Wir
setzen uns noch eine Weile auf die Tribüne, um dem Gedränge zu entgehen, sehen
dem Spektakel zu, wie oberkörperfreie Chilenen über die Absperrungen klettern
und wundern uns über die einzelnen Schuhe, die hier und da durch die Luft
fliegen. Ein gelungener Abend, wenn da nicht der unfähige Taxifahrer wäre, der
uns auch noch gewaltig verarscht. Aber das soll unsere gute Laune nicht trüben. Am
Montag spazieren wir ein wenig durch Santiago, essen im Mercado Central in einem der vielen Touristenüberladenen
Restaurants Meeresfrüchte und dann verabschieden wir uns von Rita.
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| Die Statue Salvador Allendes vor der Moneda |
Denn eine
Stadt muss ich noch sehen, bevor ich in den Flieger steige: Valparaíso. Nicht
nur der Name klingt paradiesisch. Im Gegenteil zu anderen chilenischen Städten
ist diese Hafenstadt ungeordnet, ohne schachbrettförmige Straßen, bunt, jede
Hauswand zeigt sich in einer anderen Farbe, hier und da ein durchdachtes
Graffiti und jede Menge fröhlich-aufgeschlossene Menschen.
| Kunst in den Straßen |
Die Luft schmeckt
salzig-lebendig, die Brücken ziehen sich augenscheinlich in Wellen über die
Straßen, die Autos und Busse rauschen mit hoher Geschwindigkeit unter ihnen
durch, die Gehwege sind überfüllt und selbst nachts stirbt die Stadt nicht aus.
In jedem Winkel, auf allen der unzähligen Anhöhen wimmelt es vor Menschen,
selbst die empanadas sind hier
irgendwie saftiger – aber da spielt wohl der Kopf eine große Rolle.
| Farbe, farbiger, am farbigsten |
Der
Morgen strahlt in zartem Blau, die Sonne gibt sich großzügig und Andrea und ich
erklimmen den ersten cerro, die erste
Anhöhe, und nach einem guten Stück Weg tut sich ein weitreichender Blick auf
Valparaíso zu unseren Füßen auf. Ein paar Schritte weiter steht eines der
Häuser des wohl bekanntesten chilenischen Dichters Pablo Neruda. Es mutet einem
Schiff an, so rund und bukig ragt es hier oben weit über dem Meer empor. Die
Avenida Alemania kriecht wie eine Schlange durch die Hügel und Berge der Stadt,
bevor es am Plaza Bismarck, an dem der werte Herr seinen Schnäuzer grün gefärbt
bekommen hat, wieder steil hinunter geht. Ein paar lebensmüde Fahrradfahrer
stürzen die Straßen hinab, ihnen hinterher die Busse und Taxis, die zuvor, wenn
es hochkommt, im dritten Gang die schmalen Sträßchen hinaufgeschlichen sind.
Wir stolpern hungrig dem ältesten Restaurant der Stadt entgegen, dem Cinzano.
Das Mittagsmenü in einer eher dunklen, aber umso gemütlicheren Ecke des Lokals,
mit Blick auf die langgezogene Bar, den winzigen auf Fußball eingestellten
Fernseher und die sicheren Griffe der Kellner, die bereits Inventar zu sein
scheinen. Pisco Sour, Salat mit Avocado-Creme, Hecht und Kartoffelpüree und
anschließend noch leche quemada,
verbrannte Milch, die chilenische Variante der Crème Brulée oder der Crema
Catalana oder oder oder. Ein Mittagsschläfchen würde jetzt guttun, anstatt
dessen taumeln wir durch die Innenstadtstraßen, hinauf, hinunter, kürzen den
steilen Anstieg mit einem der zahlreichen Aufzüge teils noch aus dem
19. Jahrhundert stammend ab, schauen in kleine Boutiquen und Galerien
hinein und stranden irgendwann am Hafen. Dort pausieren unsere belaufenen Füße
eine Weile, derweil lassen sich unsere Köpfe anwerben. Denn eine Seefahrt, die
ist lustig, eine Seefahrt, die ist schön. Noch ein bisschen Meeresluft
schnuppern und den glitzernden Sternen auf den Wellen zusehen. Auf einer der
Bojen stapeln sich Seelöwen, Möwen schießen steil hinab ins fischreiche
Gewässer und ein paar Seekadetten rudern hinaus zu ihren grauen Riesen, die vor
der Stadt vor liegen.
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| Das wäre doch mal ein Arbeitsweg |
Der
Abend führt zurück nach Santiago de Chile, ein Abschied, der schwer fällt, eine
drückend warme letzte Nacht auf chilenischem Boden – zumindest für dieses Jahr.
Ein Monstereis gegen die Hitze, ein Flug in engen Reihen und plötzlich ist es
Morgen in Bogotá. Alles so bekannt und doch so fremd.


