Samstag, 14. Dezember 2013

Wer hat an der Uhr gedreht?


Die Zeit, wo ist sie geblieben… Wie häufig stellt man sich eigentlich diese Frage? Oft genug, meiner Meinung nach. Drei Wochen Chile im Schnelldurchlauf nicht nur für mich, sondern auch für meine Leser. Erwähnenswertes? Eigentlich eine Menge, denn sonst wären die Stunden und Minuten nicht so schnell an mir vorbeigezogen. Die Zeit in Concepción neigt sich dem Ende zu, denn bald fliege ich hoch in den Norden. Nach zweieinhalb Jahren endlich mal wieder richtiges Chaos-Großstadtgefühl erleben. In Bogotá.

Aber erst einmal streife ich noch ein wenig durch die mir mittlerweile bekannten kleinen und größeren Straßen Concepcións, genieße die Sommersonne auf der Haut, die frischen Heidel-, Him- und Erdbeeren, die überall am Straßenrand verkauft werden. Plötzlich scheint ein ganz anderes Licht auf diese Stadt, mit der ich anfangs nicht unbedingt zurecht gekommen bin. Aber jetzt, wo im Dezember der Sommer da ist und der Weihnachtsmann in kurzen Hosen Saxophon spielt, das Eis klebrige Spuren auf den Händen hinterlässt und die knutschenden Pärchen in allen Parks sich verhundertfacht haben, da kommt in mir das Gefühl auf, ich könnte es noch eine Weile hier aushalten. Aber nicht für immer. Und ab und an mal raus zwischen all den letzten Klausuren, das ist auch nicht verkehrt. An einem Sonntagmorgen setze ich mich mit Rita und Andrea in den Bus in Richtung Los Ángeles, wir steigen allerdings früher aus: an den Saltos del Laja. Die größten Wasserfälle in Chile. Es sind nicht gerade die Niagarafälle, aber noch dauert der Sommer nicht zu lange an, sodass sie dennoch eine gewisse Menge Wasser führen. Glücklicherweise sind wir früh in den Bus gestiegen und noch halten sich die Pärchen und Poser mit ihren Digitalkameras in Grenzen. Der Hauptwasserfall weht uns ein wenig Frische und Nässe in Haare und Kleidung, bevor wir es uns hinter der Absperrung gemütlich machen und von oben herab auf das Spektakel schauen. Derweil gibt es Käsebrote und Zimtschnecken, ein leichtes Lüftchen und viel Sonne. Erst als die Touristen sich mehren, erhalten wir vermehrt Blicke und Kommentare. Da auch wir einen wunderbar touristischen Tag verbringen wollen, steigen wir die steile und halbwegs gesicherte Treppe hinab zu dem klaren Wasserfallfluss, der sich durch die urige Felsformationen schlängelt und besteigen das Touristenboot. Zwölf bis fünfzehn Minuten dauert die Fahrt, mit dem Kanu wäre es sicherlich abenteuerlicher, aber zumindest sind wir dem kristallklaren Wasser ein Stück näher. Außerdem tuckern wir an ein paar einheimischen Jungs vorbei, die sich an ihrer Bade- oder Bräunungsstelle in Pose werfen. Da Sonntag ist, gibt es nach der Bootsfahrt noch ein Eis. Herrlich.
Unter der Woche stehen Prüfungen an, ein paar Einkäufe hier, ein wenig Planen dort. Und immer wieder Weihnachtslieder bei der Hitze, die sich in meine Haut brennt, sobald ich vor die Tür trete. Noch ein letztes Mal schwimmen gehen, ein letztes Mal Kuchen in dem schönsten Café Concepcións essen, noch ein letztes Mal auf der Plaza Perú auf Freunde warten. Zumindest, bis ich im März wieder zurück in das kleine Nest komme.

Und da stürzt es in die Tiefe

An meinem vorletzten chilenischen Wochenende besteige ich erneut den Bus in Richtung Los Ángeles und diesmal mit zwei Chilenen, Masiel und Juan Carlos, um tatsächlich bis zur Endhaltestelle zu fahren. Weit im Süden von Conce und nah an den Anden haben die Eltern von Juan Carlos vor etwa vier Jahren ein Grundstück erworben. Ein Hektar groß mitsamt einem kleinen Wald, umgeben von Weizenfeldern und Heidelbeerbüschen der Nachbarn, geschorenen Schafen und Hühnern. Darauf steht ein hölzernes Haus, das hell knarrende Zimmer für die Großfamilie bereithält. Als wir am Freitagabend ankommen, gibt es frisch gebackenes Brot, Käse, Tee und einen unglaublichen Sternenhimmel. Die halbe Nacht verbringen wir draußen, liegen auf der Ladefläche des Jeeps und starren in den schwarzen von leuchtenden Punkten übersäten Nachthimmel. Und plötzlich zischt es, ein schmaler Streifen durchschneidet die Tiefe, und noch einer und noch einer. Es regnet fast schon Sternschnuppen. Außer meinem Glücksstaunen ist es unglaublich still hier. Die Nacht könnte nicht schöner sein und irgendwie überkommt mich dieses Gefühl der Zufriedenheit. Auch wenn sich die nächtliche Kälte über meine Füße durch die Beine in meinen Körper frisst, breitet sich von Innen her eine Wärme aus.

Mittagessen im Freien
Der Frühstückstisch ist gedeckt, die Sonne kitzelt auf der Nasenspitze und der Wind bringt eine frische Brise Waldluft mit sich. Da ist es mir sogar gleich, dass der zum Inventar dazugehörende Hund Duque das ein oder andere Mal angeschnüffelt kommt und versucht, mich zum Spielen zu animieren. Außerdem wartet bereits jemand anderes aufs Spielen. Die dreieinhalbjährige Nichte von Juan Carlos. Irgendwie habe ich einen Narren an dem kleinen Wirbelwind gefressen. Ich werde frisiert und geschminkt, wir laufen auf ihre Anweisungen hin durch das Dickicht des Hinterhauswaldes, immer im Schlepptau: Duque. Dann wird aufgetischt, Mittagessen unter freiem Himmel, was kann es besseres geben. Im Schatten der Bäume deckt sich langsam der Tisch. Ich beobachte alles von oben herab. Denn irgendwas hat mich dazu gebracht, hoch in den Baum zu klettern und dort in aller schattigen Ruhe ein Buch zu lesen. Und auch nach dem Essen klettern meine nackten Füße an dem rauen Baumstamm empor, um dem Mittagsschlaf ein Schnippchen zu schlagen und unter dem Blätterdach Zuflucht in einem der so vielen noch zu lesenden Büchern zu finden. Noch ein kurzer Glücksmoment. Stille. Bis Sofia wieder wach ist und umhertollen will. In der Küche werden frische empanadas mit Krebsfleischfüllung zubereitet und das kleine Häuschen nebenan wird für die Geburtstagsfeier des Vaters von Juan Carlos, der ebenfalls Juan Carlos heißt, mit Luftballons geschmückt. Als die Sterne schon längst am Himmel funkeln, als gäbe es kein Morgen, wird nach dem Abendessen wohlgemerkt, der Grill angeschmissen und Rippchen aufgelegt. Gut, dass ich Vegetarierin bin, denn jetzt noch etwas essen... Selbst das Stück Geburtstagstorte macht mir zu schaffen. Aber dem Himbeer-Blätterteig-Karamell-Sahne-Biskuit-Krams kann selbst ein überfüllter Magen nicht widerstehen. Der erste Advent ist zwar kalendarisch da, aber für mich bei 30°C und strahlend blauem Himmel weit entfernt.

Die letzte Uniwoche ist extrem kurz, da die meisten Prüfungen schon hinter mir liegen und die Dozenten es vorziehen, diese zu Hause zu korrigieren, als weiterhin zu unterrichten, ist am Montagabend mein letzter Literaturkurs und am Dienstag werde ich von einer der Dozentinnen zu einem unglaublich leckeren Stück Maracuja-Torte eingeladen. Und so plötzlich endet dieses Semester, lecker und unerwartet. Denn mit dem Semester endet auch meine Zeit in Chile, zumindest vorerst. Am Freitag muss ich aus dem Zimmer raus. Das bedeutet Sachen packen, noch ein wenig Papierkrams erledigen und zusehen, wo ich die verbleibenden Tage unterkomme. Glücklicherweise habe ich zwei sehr gute Freunde gefunden und am Freitagabend mache ich mich auf nach Chiguayante zu Masiel und ihrer Familie.

Am zweiten Advent besteige ich wieder einmal den Bus, schwer bepackt, aber noch nicht mit Ziel Bogotá, sondern Santiago de Chile. Manu Chao spielt nämlich unter freiem Himmel in der chilenischen Hauptstadt und das kann man sich nicht entgehen lassen. Die Arena ist prall gefüllt, Andrea, Rita, Johannes und ich kämpfen um einen guten Platz nicht allzu weit von der Bühne entfernt, sodass wir zumindest erkennen können, wer da auf der Bühne steht. Ganze drei Stunden feiert sich der zwar in die Jahre gekommene, aber dennoch reichlich hyperaktive Musiker, bis wir fast zusammenbrechen. Nach der dritten Zugabe gehen irgendwann die Bühnenlichter tatsächlich aus. Und alles drängt in Richtung Ausgang. Wir setzen uns noch eine Weile auf die Tribüne, um dem Gedränge zu entgehen, sehen dem Spektakel zu, wie oberkörperfreie Chilenen über die Absperrungen klettern und wundern uns über die einzelnen Schuhe, die hier und da durch die Luft fliegen. Ein gelungener Abend, wenn da nicht der unfähige Taxifahrer wäre, der uns auch noch gewaltig verarscht. Aber das soll unsere gute Laune nicht trüben. Am Montag spazieren wir ein wenig durch Santiago, essen im Mercado Central in einem der vielen Touristenüberladenen Restaurants Meeresfrüchte und dann verabschieden wir uns von Rita. 

Die Statue Salvador Allendes vor der Moneda
Denn eine Stadt muss ich noch sehen, bevor ich in den Flieger steige: Valparaíso. Nicht nur der Name klingt paradiesisch. Im Gegenteil zu anderen chilenischen Städten ist diese Hafenstadt ungeordnet, ohne schachbrettförmige Straßen, bunt, jede Hauswand zeigt sich in einer anderen Farbe, hier und da ein durchdachtes Graffiti und jede Menge fröhlich-aufgeschlossene Menschen.

Kunst in den Straßen
Die Luft schmeckt salzig-lebendig, die Brücken ziehen sich augenscheinlich in Wellen über die Straßen, die Autos und Busse rauschen mit hoher Geschwindigkeit unter ihnen durch, die Gehwege sind überfüllt und selbst nachts stirbt die Stadt nicht aus. In jedem Winkel, auf allen der unzähligen Anhöhen wimmelt es vor Menschen, selbst die empanadas sind hier irgendwie saftiger – aber da spielt wohl der Kopf eine große Rolle.

Farbe, farbiger, am farbigsten
Der Morgen strahlt in zartem Blau, die Sonne gibt sich großzügig und Andrea und ich erklimmen den ersten cerro, die erste Anhöhe, und nach einem guten Stück Weg tut sich ein weitreichender Blick auf Valparaíso zu unseren Füßen auf. Ein paar Schritte weiter steht eines der Häuser des wohl bekanntesten chilenischen Dichters Pablo Neruda. Es mutet einem Schiff an, so rund und bukig ragt es hier oben weit über dem Meer empor. Die Avenida Alemania kriecht wie eine Schlange durch die Hügel und Berge der Stadt, bevor es am Plaza Bismarck, an dem der werte Herr seinen Schnäuzer grün gefärbt bekommen hat, wieder steil hinunter geht. Ein paar lebensmüde Fahrradfahrer stürzen die Straßen hinab, ihnen hinterher die Busse und Taxis, die zuvor, wenn es hochkommt, im dritten Gang die schmalen Sträßchen hinaufgeschlichen sind. Wir stolpern hungrig dem ältesten Restaurant der Stadt entgegen, dem Cinzano. Das Mittagsmenü in einer eher dunklen, aber umso gemütlicheren Ecke des Lokals, mit Blick auf die langgezogene Bar, den winzigen auf Fußball eingestellten Fernseher und die sicheren Griffe der Kellner, die bereits Inventar zu sein scheinen. Pisco Sour, Salat mit Avocado-Creme, Hecht und Kartoffelpüree und anschließend noch leche quemada, verbrannte Milch, die chilenische Variante der Crème Brulée oder der Crema Catalana oder oder oder. Ein Mittagsschläfchen würde jetzt guttun, anstatt dessen taumeln wir durch die Innenstadtstraßen, hinauf, hinunter, kürzen den steilen Anstieg mit einem der zahlreichen Aufzüge teils noch aus dem 19. Jahrhundert stammend ab, schauen in kleine Boutiquen und Galerien hinein und stranden irgendwann am Hafen. Dort pausieren unsere belaufenen Füße eine Weile, derweil lassen sich unsere Köpfe anwerben. Denn eine Seefahrt, die ist lustig, eine Seefahrt, die ist schön. Noch ein bisschen Meeresluft schnuppern und den glitzernden Sternen auf den Wellen zusehen. Auf einer der Bojen stapeln sich Seelöwen, Möwen schießen steil hinab ins fischreiche Gewässer und ein paar Seekadetten rudern hinaus zu ihren grauen Riesen, die vor der Stadt vor liegen.
Das wäre doch mal ein Arbeitsweg

Der Abend führt zurück nach Santiago de Chile, ein Abschied, der schwer fällt, eine drückend warme letzte Nacht auf chilenischem Boden – zumindest für dieses Jahr. Ein Monstereis gegen die Hitze, ein Flug in engen Reihen und plötzlich ist es Morgen in Bogotá. Alles so bekannt und doch so fremd.

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