Die
Zeit zieht sich wie ein Kaugummi dahin, dehnt sich so lang es nur geht. Aber
die Wörter bleiben nicht haften, ketten sich nicht aneinander. Woran es liegen
mag? Ich weiß es nicht. Vielleicht daran, dass ich nicht mehr in Kolumbien bin,
wo ich kaum einen Gedanken an die digitale Welt verschwendet habe, sondern
vielmehr die Zeit mit guten, sehr guten Freunden und deren Familien verbracht
habe.
Als
ich Mitte Dezember aus dem Flieger stieg, war zwar alles anders – der Flughafen
hat in den zweieinhalb Jahren meiner Abwesenheit ein neues Gesicht erhalten –,
doch irgendwie war auch alles gleich. Eine lange Umarmung, eine
frühmorgendliche Taxifahrt in die ersten Tageslichtminuten Bogotás und der
Himmel, der Himmel ist dort anders, tiefer, blauer, schwerer. Noch ein bisschen
schlafen und dann wirklich in der kolumbianischen Hauptstadt aufwachen, neue
Bewohner kennen lernen – die Tochter meines Freundes ist vor nun etwa acht
Monaten zur Welt gekommen –, alte Straßen neu entdecken, bekannte Gesichter sehen,
lang andauernde Umarmungen spüren, die ich dann und wann noch immer in Gedanken
nachfahre. Es mag kitschig klingen, doch so viel Herzenswärme und aufrichtige
Freundschaft ist mir bislang nur an wenigen Orten entgegen gebracht worden. Auf
dem Markt in einem der unzähligen Wohnviertel streife ich über durch die engen
Gänge und verliere mich beinahe in all den Formen, Farben und Gerüchen.
Früchte, deren Existenz ich beinahe vergessen hatte. Die Art der Marktschreier,
ihre Waren mit einem “Mi
reina, ¿qué desea?” (wörtlich: Meine Königin, was wünschen Sie?) oder
dem überall widerhallenden “¡A la orden!” (Zu Diensten.) anzupreisen. Der
Straßenlärm, die chaotische Verkehrsführung, die aus dem Nichts anhaltenden und
wieder anfahrenden Busse, die Unendlichkeit dieser Stadt. All das überfordert
mich nicht so, wie ich es gedacht hatte. Tatsächlich fühle ich mich plötzlich
zu Hause, esse am Straßenrand arepas,
sehe in den Fleischereiauslagen Schweinsköpfe und -herzen, schlendere durch
mein altes Wohnviertel und begutachte den riesigen Ameisenhaufen. In den Wochen
vor Weihnachten ist das Zentrum unbegehbar, es ist, als ob alle, wirklich alle
acht bis zehn Millionen Menschen händeringend nach Geschenken suchen. Nur
abends wird es ruhiger, bei Einbruch der Dunkelheit ist Bogotá noch immer nicht
ungefährlich. Es sei denn, man befindet sich in einem der abzählbaren Parks,
denn diese sind hell erleuchtet. In jedem Baum, an jedem Ast hängen
Lichterketten, auf jedem freien Rasenplatz tummeln sich Straßenverkäufer, die
ihre hausgemachten Speisen darbieten, und die Menschen strömen in Massen
herbei, kaufen, staunen. Das ist Vorweihnachtszeit in Kolumbien. Aber nicht nur
das. Neun Tage vor Heiligabend beginnt die Novene, an jedem dieser Abende
versammelt sich die Familie, oft stoßen Freunde und Nachbarn dazu, dann wird
gemeinsam gebetet und gesungen. Allzu ernst muss es dabei allerdings auch nicht
immer zugehen, so zumindest mein Eindruck. Dieses Weihnachtsfest verbringe ich
zwar bei den Eltern eines guten Freundes, doch so richtig nach Weihnachten
schmeckt es nicht. Es ist alles anders, und doch irgendwie gleich. Anstatt
Weihnachtsbaum – obwohl ich einen solchen zusammenstecken durfte, denn der
Großteil der Weihnachtsboten ist hier aus reinem Plastik – steht hier die
Krippe im Vordergrund, meist nimmt sie mehr als die Hälfte des Wohnzimmers ein
und wird bereits liebevoll Anfang November aufgebaut. Das Jesuskind kommt
allerdings erst in der Nacht vom 24. auf den 25. Dezember in die Krippe.
Langsam
leert sich die Stadt, die Menschenmassen verlassen das Epizentrum des Konsums
und machen sich auf zu ihren Familien. Wie in wahrscheinlich jedem
südamerikanischen Land, herrscht der Zentrismus, immer mehr Kolumbianer strömen
in die Hauptstadt, in der Hoffnung, dort Arbeit zu finden. Doch hier sieht man
sie: die Armut. Nicht so wie in Chile, wo sie in die dunkelsten Ecken gekehrt
wird und tatsächlich erst nachts zu sehen ist. Doch jetzt herrscht eine
angenehme Lautstärke in der Stadt, gefühlt ist die Hälfte der Einwohner
ausgeflogen. Das neue Jahr kann kommen. Für mich kommt es im
französisch-kolumbianischen Elternhaus meiner ehemaligen Mitbewohnerin. Das
Essen ist exquisit, das Mousse au
chocolat an der Englischen Creme fast schon himmlisch und die Musik
kolumbianisch. Plötzlich verwandelt sich das Wohnzimmer in eine Tanzfläche,
Mutter, Vater, Onkel, Freund und Hund schwingen die Hüften. Wir tanzen und
trinken und genießen. Kurz vor Mitternacht ist Hektik angesagt. Jeder von uns
hat auf einen Zettel all jene Dinge notiert, die im vergangenen Jahr schön
waren, und auf der anderen Seite all jene Dinge, die eher weniger schön waren,
daraus haben wir eine Figur gerissen. Schnell noch zwölf Weintrauben in die
eine, einen Koffer mit all den Dingen, die das nächste Jahr begleiten sollen,
in die andere Hand. Und hinaus, in die milde Dezembernacht. Dem alten Jahr, in
Form der Papierfiguren, wird mit Feuerzeug und Streichholz der Garaus gemacht,
die Weintrauben stopfen wir uns mitsamt je einem Wunsch bei jedem Glockenschlag
in den Mund und dann nehmen wir unsere Beine, nein, unsere Koffer in die Hand
und laufen um den Block, damit es im so beginnenden Jahr auf Reisen geht. Dann
liegen sich alle in den Armen und wünschen aus tiefstem Herzen ein frohes neues
Jahr. Wird sich zeigen, wie froh es tatsächlich wird.
Ein
paar Tage verschwinde ich aus der Hauptstadt und fahre in den Nordosten des
Landes: nach Bucaramanga. Dorthin haben mich Emerson und Edier eingeladen, eine
Gegend Kolumbiens, die ich tatsächlich noch nicht kenne. Die Busfahrerei
dagegen kommt mir bekannt vor, doch hatte ich diese wohl eher verdrängt. Nachts
ist der Vorteil, dass man nicht sieht, wie steil es die Andenschluchten bergab
geht, das ist auch besser so, denn die Fahrer reizen ihre Fahrkünste gerne aus.
Nach einer schlaflosen Nacht komme ich dann früher als gedacht an der
Haltestelle “Papi, quiero
piña” (Papa (wahlweise auch: Süßer), ich möchte Ananas.) an. Es ist
sieben Uhr morgens und meine Kleidung schmiegt sich bereits schweißgetränkt an
meinen Körper. Bucaramanga liegt in nördlicher Sichtweite. Emerson kommt, weist
mir den Weg, denn das Haus der Familie liegt außerhalb, mitten in den grünen
Bergen.
Die
direkt angrenzende Stadt Floridablanca ist für seine süßen Köstlichkeiten
bekannt. Bei schweißtreibenden Sommertemperaturen essen wir obleas, hauchdünne mit Karamellcreme und
anderen Dingen bestrichene Oblaten, oder repollas,
ebenso gefüllte Brandteigmonster. Wir erlaufen uns die Stadt, essen irgendwo zu
Mittag, trinken literweise hausgemachte Limonade dazu und Emerson gibt sein
historisches Anthropologenwissen preis. Das Stadtzentrum Bucaramangas ist weiß
getüncht, das neue Kulturzentrum bietet ein paar Minuten Kühle und lokale
Kunst, die einen Blick auf die sehr besondere Mentalität der aus der Region
Santander stammenden Menschen gewährt. Derweil schießen in den hipperen
Vierteln Hochhäuser in rauen Mengen aus dem Boden, wofür zunächst allerdings
wunderschöne Altbauten platt gemacht werden müssen. Vielleicht ändert sich mit
Stadtbild noch so einiges mehr. Die umliegenden Dörfer sind auch sehenswert,
Girón beispielsweise beweist Kolonialstilgeschmack. Am schwülen Sommerabend
sitzen und stehen hunderte von Menschen auf dem Kirchenvorplatz, plaudern,
essen, lachen über einen Pantomime-Künstler, der mich bei der Hand nimmt und
die einzige Blonde auf dem Platz ein wenig vorführt. Meinetwegen.
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| Im Sturzflug über die Berge Santanders, wohlgemerkt in kolumbianischer Beflaggung |
Ganz
anders fühle ich hoch oben, als ich am vierten Tag einen Tandem-Gleitschirmflug
mache. Frei. So richtig tiefenfrei. Eine Weile gleitet ein Vogel neben David
und mir daher, ich lasse meinen Kopf schweifen und die Gedanken fallen. Tief
unter mir grasen Spielzeugkühe und kurven Spielzeugautos durch die sattgrünen
Hänge. Winzig klein wird diese Welt plötzlich, verschwindet fast schon aus
meinem Blickfeld. Herrlich. Ein Gefühl, das ich gerne auf andere Lebensbereiche
übertragen würde. Doch wie nur. Viel zu schnell habe ich wieder festen Boden
unter den Füßen. Abends dann fahre ich mit einem der pirata-Taxis (Privatpersonen, die sich ihr Geld mit dem
Personentransport auf nicht oder kaum von öffentlichen Verkehrsmitteln
befahrenen Strecken verdienen) zur Ananas-Haltestelle, mitten aus dem Nichts
erscheinen plötzlich vier Jugendliche mit Baseballschläger in der Hand auf der
Straße, innerlich nehme ich Abschied von meinen Habseligkeiten, doch der nur
scheinbar rüstige Fahrer drückt ordentlich aufs Gaspedal und fährt beinahe
einen der Jungs um. Wenn man hier überleben will, dann heißt es: du oder ich.
Punkt. Ende. Aus. Mein Herz rast, knapp bin ich meinem ersten Überfall
entgangen. Deswegen fährt mich der Wagemutige dann auch bis zur Haltestelle und
nicht nur in die Nähe, wie vorher eigentlich ausgemacht. Die Busse sind voll,
also muss ich auch hier einen nicht ganz legalen Bus nehmen. Der Fahrer
beherrscht das Trummteil zwar besser, doch die Klimaanlage bläst mir die ganze
Nacht über einen luftigen Eisstrahl in die Beckengegend. Ich überlebe die
Fahrt, gerade so. Nach der schwülen Hitze, empfängt mich ein hauptstädtischer
Regentag, den ich auf dem Sofa eines guten Freundes halb verschlafe.
Generell
schlafe ich gut in vielen fremden Betten, denn eine eigene Wohnung habe ich
hier nicht. So kommt es denn, dass ich bei diesem bislang kürzesten Aufenthalt
in Bogotá die Familien meiner Freunde sehr gut kennen lerne. Ich wohne bei
ihnen, bin zeitweise Tochter, Schwester, am liebsten auch gleich
Schwiegertochter. Dabei wird mir bewusst, wie lange ich schon nicht mehr über
einen längeren Zeitraum hinweg Tag um Tag Teil eines Familienlebens war. Also
verweile ich in diesem Gefühl, Teil zu sein, wenn auch nur eine Weile. Es gibt
Freunde, die ich fast schon als Familie bezeichnen würde. Mein zweites Zuhause
eben. Und das ist es vielleicht auch, was mir die Worte genommen hat. Abschiede
sind nie leicht, und noch schwieriger gestalten sie sich, wenn man nicht weiß,
wann es ein Wiedersehen gibt. Und doch steige ich viel zu früh in das Flugzeug
Richtung Santiago, ah pardon, Lima, ist ja kein Direktflug. Zehn wunderbare
Stunden am peruanischen Flughafen, nachts.

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