Donnerstag, 13. Februar 2014

Wortlosigkeit

 
In Bogotás Straßen schläft man nur
Die Zeit zieht sich wie ein Kaugummi dahin, dehnt sich so lang es nur geht. Aber die Wörter bleiben nicht haften, ketten sich nicht aneinander. Woran es liegen mag? Ich weiß es nicht. Vielleicht daran, dass ich nicht mehr in Kolumbien bin, wo ich kaum einen Gedanken an die digitale Welt verschwendet habe, sondern vielmehr die Zeit mit guten, sehr guten Freunden und deren Familien verbracht habe.

Als ich Mitte Dezember aus dem Flieger stieg, war zwar alles anders – der Flughafen hat in den zweieinhalb Jahren meiner Abwesenheit ein neues Gesicht erhalten –, doch irgendwie war auch alles gleich. Eine lange Umarmung, eine frühmorgendliche Taxifahrt in die ersten Tageslichtminuten Bogotás und der Himmel, der Himmel ist dort anders, tiefer, blauer, schwerer. Noch ein bisschen schlafen und dann wirklich in der kolumbianischen Hauptstadt aufwachen, neue Bewohner kennen lernen – die Tochter meines Freundes ist vor nun etwa acht Monaten zur Welt gekommen –, alte Straßen neu entdecken, bekannte Gesichter sehen, lang andauernde Umarmungen spüren, die ich dann und wann noch immer in Gedanken nachfahre. Es mag kitschig klingen, doch so viel Herzenswärme und aufrichtige Freundschaft ist mir bislang nur an wenigen Orten entgegen gebracht worden. Auf dem Markt in einem der unzähligen Wohnviertel streife ich über durch die engen Gänge und verliere mich beinahe in all den Formen, Farben und Gerüchen. Früchte, deren Existenz ich beinahe vergessen hatte. Die Art der Marktschreier, ihre Waren mit einem “Mi reina, ¿qué desea?” (wörtlich: Meine Königin, was wünschen Sie?) oder dem überall widerhallenden “¡A la orden!” (Zu Diensten.) anzupreisen. Der Straßenlärm, die chaotische Verkehrsführung, die aus dem Nichts anhaltenden und wieder anfahrenden Busse, die Unendlichkeit dieser Stadt. All das überfordert mich nicht so, wie ich es gedacht hatte. Tatsächlich fühle ich mich plötzlich zu Hause, esse am Straßenrand arepas, sehe in den Fleischereiauslagen Schweinsköpfe und -herzen, schlendere durch mein altes Wohnviertel und begutachte den riesigen Ameisenhaufen. In den Wochen vor Weihnachten ist das Zentrum unbegehbar, es ist, als ob alle, wirklich alle acht bis zehn Millionen Menschen händeringend nach Geschenken suchen. Nur abends wird es ruhiger, bei Einbruch der Dunkelheit ist Bogotá noch immer nicht ungefährlich. Es sei denn, man befindet sich in einem der abzählbaren Parks, denn diese sind hell erleuchtet. In jedem Baum, an jedem Ast hängen Lichterketten, auf jedem freien Rasenplatz tummeln sich Straßenverkäufer, die ihre hausgemachten Speisen darbieten, und die Menschen strömen in Massen herbei, kaufen, staunen. Das ist Vorweihnachtszeit in Kolumbien. Aber nicht nur das. Neun Tage vor Heiligabend beginnt die Novene, an jedem dieser Abende versammelt sich die Familie, oft stoßen Freunde und Nachbarn dazu, dann wird gemeinsam gebetet und gesungen. Allzu ernst muss es dabei allerdings auch nicht immer zugehen, so zumindest mein Eindruck. Dieses Weihnachtsfest verbringe ich zwar bei den Eltern eines guten Freundes, doch so richtig nach Weihnachten schmeckt es nicht. Es ist alles anders, und doch irgendwie gleich. Anstatt Weihnachtsbaum – obwohl ich einen solchen zusammenstecken durfte, denn der Großteil der Weihnachtsboten ist hier aus reinem Plastik – steht hier die Krippe im Vordergrund, meist nimmt sie mehr als die Hälfte des Wohnzimmers ein und wird bereits liebevoll Anfang November aufgebaut. Das Jesuskind kommt allerdings erst in der Nacht vom 24. auf den 25. Dezember in die Krippe.

Langsam leert sich die Stadt, die Menschenmassen verlassen das Epizentrum des Konsums und machen sich auf zu ihren Familien. Wie in wahrscheinlich jedem südamerikanischen Land, herrscht der Zentrismus, immer mehr Kolumbianer strömen in die Hauptstadt, in der Hoffnung, dort Arbeit zu finden. Doch hier sieht man sie: die Armut. Nicht so wie in Chile, wo sie in die dunkelsten Ecken gekehrt wird und tatsächlich erst nachts zu sehen ist. Doch jetzt herrscht eine angenehme Lautstärke in der Stadt, gefühlt ist die Hälfte der Einwohner ausgeflogen. Das neue Jahr kann kommen. Für mich kommt es im französisch-kolumbianischen Elternhaus meiner ehemaligen Mitbewohnerin. Das Essen ist exquisit, das Mousse au chocolat an der Englischen Creme fast schon himmlisch und die Musik kolumbianisch. Plötzlich verwandelt sich das Wohnzimmer in eine Tanzfläche, Mutter, Vater, Onkel, Freund und Hund schwingen die Hüften. Wir tanzen und trinken und genießen. Kurz vor Mitternacht ist Hektik angesagt. Jeder von uns hat auf einen Zettel all jene Dinge notiert, die im vergangenen Jahr schön waren, und auf der anderen Seite all jene Dinge, die eher weniger schön waren, daraus haben wir eine Figur gerissen. Schnell noch zwölf Weintrauben in die eine, einen Koffer mit all den Dingen, die das nächste Jahr begleiten sollen, in die andere Hand. Und hinaus, in die milde Dezembernacht. Dem alten Jahr, in Form der Papierfiguren, wird mit Feuerzeug und Streichholz der Garaus gemacht, die Weintrauben stopfen wir uns mitsamt je einem Wunsch bei jedem Glockenschlag in den Mund und dann nehmen wir unsere Beine, nein, unsere Koffer in die Hand und laufen um den Block, damit es im so beginnenden Jahr auf Reisen geht. Dann liegen sich alle in den Armen und wünschen aus tiefstem Herzen ein frohes neues Jahr. Wird sich zeigen, wie froh es tatsächlich wird.

Ein paar Tage verschwinde ich aus der Hauptstadt und fahre in den Nordosten des Landes: nach Bucaramanga. Dorthin haben mich Emerson und Edier eingeladen, eine Gegend Kolumbiens, die ich tatsächlich noch nicht kenne. Die Busfahrerei dagegen kommt mir bekannt vor, doch hatte ich diese wohl eher verdrängt. Nachts ist der Vorteil, dass man nicht sieht, wie steil es die Andenschluchten bergab geht, das ist auch besser so, denn die Fahrer reizen ihre Fahrkünste gerne aus. Nach einer schlaflosen Nacht komme ich dann früher als gedacht an der Haltestelle “Papi, quiero piña” (Papa (wahlweise auch: Süßer), ich möchte Ananas.) an. Es ist sieben Uhr morgens und meine Kleidung schmiegt sich bereits schweißgetränkt an meinen Körper. Bucaramanga liegt in nördlicher Sichtweite. Emerson kommt, weist mir den Weg, denn das Haus der Familie liegt außerhalb, mitten in den grünen Bergen.

Die direkt angrenzende Stadt Floridablanca ist für seine süßen Köstlichkeiten bekannt. Bei schweißtreibenden Sommertemperaturen essen wir obleas, hauchdünne mit Karamellcreme und anderen Dingen bestrichene Oblaten, oder repollas, ebenso gefüllte Brandteigmonster. Wir erlaufen uns die Stadt, essen irgendwo zu Mittag, trinken literweise hausgemachte Limonade dazu und Emerson gibt sein historisches Anthropologenwissen preis. Das Stadtzentrum Bucaramangas ist weiß getüncht, das neue Kulturzentrum bietet ein paar Minuten Kühle und lokale Kunst, die einen Blick auf die sehr besondere Mentalität der aus der Region Santander stammenden Menschen gewährt. Derweil schießen in den hipperen Vierteln Hochhäuser in rauen Mengen aus dem Boden, wofür zunächst allerdings wunderschöne Altbauten platt gemacht werden müssen. Vielleicht ändert sich mit Stadtbild noch so einiges mehr. Die umliegenden Dörfer sind auch sehenswert, Girón beispielsweise beweist Kolonialstilgeschmack. Am schwülen Sommerabend sitzen und stehen hunderte von Menschen auf dem Kirchenvorplatz, plaudern, essen, lachen über einen Pantomime-Künstler, der mich bei der Hand nimmt und die einzige Blonde auf dem Platz ein wenig vorführt. Meinetwegen.

Im Sturzflug über die Berge Santanders,
wohlgemerkt in kolumbianischer Beflaggung


Ganz anders fühle ich hoch oben, als ich am vierten Tag einen Tandem-Gleitschirmflug mache. Frei. So richtig tiefenfrei. Eine Weile gleitet ein Vogel neben David und mir daher, ich lasse meinen Kopf schweifen und die Gedanken fallen. Tief unter mir grasen Spielzeugkühe und kurven Spielzeugautos durch die sattgrünen Hänge. Winzig klein wird diese Welt plötzlich, verschwindet fast schon aus meinem Blickfeld. Herrlich. Ein Gefühl, das ich gerne auf andere Lebensbereiche übertragen würde. Doch wie nur. Viel zu schnell habe ich wieder festen Boden unter den Füßen. Abends dann fahre ich mit einem der pirata-Taxis (Privatpersonen, die sich ihr Geld mit dem Personentransport auf nicht oder kaum von öffentlichen Verkehrsmitteln befahrenen Strecken verdienen) zur Ananas-Haltestelle, mitten aus dem Nichts erscheinen plötzlich vier Jugendliche mit Baseballschläger in der Hand auf der Straße, innerlich nehme ich Abschied von meinen Habseligkeiten, doch der nur scheinbar rüstige Fahrer drückt ordentlich aufs Gaspedal und fährt beinahe einen der Jungs um. Wenn man hier überleben will, dann heißt es: du oder ich. Punkt. Ende. Aus. Mein Herz rast, knapp bin ich meinem ersten Überfall entgangen. Deswegen fährt mich der Wagemutige dann auch bis zur Haltestelle und nicht nur in die Nähe, wie vorher eigentlich ausgemacht. Die Busse sind voll, also muss ich auch hier einen nicht ganz legalen Bus nehmen. Der Fahrer beherrscht das Trummteil zwar besser, doch die Klimaanlage bläst mir die ganze Nacht über einen luftigen Eisstrahl in die Beckengegend. Ich überlebe die Fahrt, gerade so. Nach der schwülen Hitze, empfängt mich ein hauptstädtischer Regentag, den ich auf dem Sofa eines guten Freundes halb verschlafe.


Generell schlafe ich gut in vielen fremden Betten, denn eine eigene Wohnung habe ich hier nicht. So kommt es denn, dass ich bei diesem bislang kürzesten Aufenthalt in Bogotá die Familien meiner Freunde sehr gut kennen lerne. Ich wohne bei ihnen, bin zeitweise Tochter, Schwester, am liebsten auch gleich Schwiegertochter. Dabei wird mir bewusst, wie lange ich schon nicht mehr über einen längeren Zeitraum hinweg Tag um Tag Teil eines Familienlebens war. Also verweile ich in diesem Gefühl, Teil zu sein, wenn auch nur eine Weile. Es gibt Freunde, die ich fast schon als Familie bezeichnen würde. Mein zweites Zuhause eben. Und das ist es vielleicht auch, was mir die Worte genommen hat. Abschiede sind nie leicht, und noch schwieriger gestalten sie sich, wenn man nicht weiß, wann es ein Wiedersehen gibt. Und doch steige ich viel zu früh in das Flugzeug Richtung Santiago, ah pardon, Lima, ist ja kein Direktflug. Zehn wunderbare Stunden am peruanischen Flughafen, nachts.

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