Mittwoch, 27. November 2013

Ein Blondchen im Blondie


Filmfiguren. Das ist das Motto einer Party an diesem Samstag. Da muss ich mir jetzt etwas einfallen lassen, ich will ja keine Spielverderberin sein, aber mich auch nicht in horrende Ausgaben stürzen. Ich überlege und überlege, doch so richtig fällt mir nichts ein, da ich eher Filme sehe, in denen ganz normale Menschen auftreten. Und was tun, wenn man nicht weiter weiß? Mama fragen. Und die meint, ich solle aus mir eine Marilyn Monroe machen. Dank dieser grandiosen Idee und der Hilfe von Masiel und ihrer Schwester Paloma verwandle ich mich also in einen (doch recht gut gelungenen) Abklatsch der Ikone. Als ich in den Spiegel schaue, erkenne ich mich selbst kaum wieder: Löckchen, falsche Wimpern und Makeup. Irgendwie seltsam, aber auch ganz schön, irgendwie. Nur nicht wirklich ich selbst, aber darum geht es ja bei einer Kostümparty ja auch. Abends sitze ich dann mit Lara Croft, William Wallace, Hellboy und vielen anderen Gestalten am Tisch.

Am Sonntag verspüre ich den dringenden Wunsch nach Ferien, denn so langsam fällt mir die Unidecke auf den Kopf, mit all den Prüfungen und Tests, und Lesekontrollen. Ich dachte nämlich eigentlich, dass ich mit meinem Abitur vor mehr als sieben Jahren die Schule hinter mir gelassen hätte. Doch das universitäre Bildungssystem hier in Chile katapultiert mich dann und wann in schulische Fantasien zurück. Aber das Ende ist nah, das Semesterende zumindest. Und weil ich eigentlich lernen sollte, steige ich am Donnerstagmorgen in den Bus, der mich in die Hauptstadt bringt. Am späten Nachmittag komme ich in Santiago an und meine Poren öffnen sich schlagartig und die Schweißproduktion läuft auf Hochtouren. Das Thermometer lässt mehr als 30°C verlauten, es ist Ende November, und hier steht der Sommer vor der Tür, aber gleichzeitig klopft der Weihnachtsmann an jedes Schaufenster. Ob mein Kopf jemals Weihnachten vom Winter trennen werden kann? Die einkaufswütigen Chilenen tun es den Deutschen in der Vorweihnachtszeit zumindest gleich. Überall Angebote, Mitternachtsshopping in den Malls, Glitzerkugeln hier, Plastiktannenbäume dort. Da sehne ich mich plötzlich nach dem ersten Schnee im Jahr, verspüre plötzlich das Verlangen nach einem Glühwein abends um 19 Uhr, wenn die Sonne schon längst untergegangen ist, bei klirrenden Temperaturen und würde alles für einen Flammkuchen geben.

Stattdessen schwitze ich und ärgere mich, nicht allzu viel sommerliche Kleidung im Gepäck zu haben. Doch der Ärger ist schnell verflogen, als Juan mich am Busterminal abholt, mich erstmal schnell seiner Mutter vorstellt, ich meine Sachen dann bei ihm in seiner sehr kleinen, spärlichen Bude ablade und mich schon fast wieder auf den Weg mache. Auf zum Konzert. Ins Blondie. Eine Diskothek im unterirdischen Herzen der Hauptstadt. Und dort pocht es ziemlich stark. An diesem Abend spielt dort die US-amerikanische Band CocoRosie. Freak-Folk. Die wenigsten werden damit wohl etwas anfangen können, aber nicht nur ich selbst bin ab und an ein wenig gewöhnungsbedürftig, sondern eben auch mein Musikgeschmack. Seitdem ich Patti Smith in Leipzig sehen konnte, war ich nicht mehr auf einem Konzert. Und dann ist es auch noch eines dieser kleinen, kuschligen Konzerte in einer irgendwie passenden Räumlichkeit. Blaue, würfelförmige Lampen hängen von der Decke herab, auf der Bühne zieht sich eine Wäscheleine durchs Bild, an der Kleidungsstücke hängen. So langsam werden die Chilenen unruhig, ich habe mich alleine in Reihe sechs oder sieben vorgekämpft, doch wie es so ist, vor mir steht ein Riese, zumindest aus meiner Floh-Perspektive gesehen. Sobald sich die Massen in Bewegung setzen, verschiebt sich auch das Sichtfeld und ich lasse mich von der Musik treiben. Ich muss sagen, ich bin gerne allein auf Konzerten, auch im Kino oder selbst im Theater. Doch gerade bei Konzerten, ist es wundervoll, zwischen vielen fremden Menschen zu stehen, sich einfach nur gehen zu lassen, sich den Rhythmen hinzugeben und den Bass im gesamten Körper zu spüren. Wenn man dann noch in einem uralten Käfer, dessen Baujahr mir unbekannt, aber in etwa mit dem meinigen zusammenfallen dürfte, abgeholt und durch die sommerliche Nacht kutschiert wird, kann es für einen winzigen Augenblick gar nicht besser sein.

Beinahe hätte ich mich getraut, zu fahren

Die Nacht ist glücklicherweise lau, doch der nächste Morgen bereits unglaublich stickig. Wir befinden uns weit im Süden der Stadt, im Ghetto, wie Juan gerne sagt. Meiner Meinung nach ist es aber eher ein ganz normales Arbeiterviertel mit wenig Luxus eben. Die kalte Dusche ist sogar erfrischend, und wer braucht schon Unmengen an Platz? Die Nachbarskatze schaut gelegentlich mal herein und erst als es am Nachmittag ein wenig erträglicher wird, besteigen wir mein liebstes Gefährt. Ziel des Tages: der Cajón del Maipo. Ein riesiger Park mit Vulkan und Thermalquellen. Wir suchen uns ein schattiges Plätzchen am Fluss und versuchen so, der Hitze ein wenig zu entfliehen.

Sommerliche Flussabkühlung

Abends lerne ich Juans Schwester mitsamt Familie kennen, die mich löchert, bis kaum noch etwas von mir übrig ist. So ist eben hier in Chile, wenn schon, dann gleich das volle Programm. Am Samstag ist es noch hitziger, da muss ich mich schon anstrengen, damit wir die Bude verlassen. Zumindest ein klitzekleines bisschen vom Zentrum würde ich gerne sehen. Und tatsächlich, neben der Eintrittskartensuche für das nächste Konzert, schlendern wir über die plaza de armas, durch eine der Fußgängerzonen, vorbei an einer der Fakultäten der Universidad de Chile. Es ist nämlich so, dass Manu Chao am 8. Dezember in Santiago de Chile spielt und den wollen wir, ich und zwei Freundinnen, uns nicht entgehen lassen. Doch leider kann man hier oftmals nur mit chilenischen Kreditkarten übers Internet einkaufen, sodass ich vor Ort auf Kartenjagd gehe. Im vielsagenden Plattenladen „The Knife“ kauft mir ein Chilene die letzten vier vorrätigen Karten vor der Nase weg. Also wieder Bus fahren, in einer Pizzeria sollen Karten verkauft werden, hoffentlich, hoffentlich. Und wirklich! Erfolgreich stranden wir in einer Bar im Touristen-Viertel Bella Vista und genießen den Abend.

Abkühlung im Stadtzentrum



Als ich nach einer nächtlichen Busfahrt am Morgen wieder in Concepción ankomme, ist Wahlsonntag. Noch ist alles ruhig, meine Schritte verlieren sich im morgendlichen Schweigen, leise spaziere ich an den erstarrten Dinosauriern im Park vorbei und sehe dabei zu, wie die Stadt aus ihrem Dämmerzustand erwacht. Ob es nun die ersten Wähler sind, die ihre vielen Kreuze machen oder die Frühsportler, denen die leeren Straßen mindestens genauso gut wie mir gefallen dürften – es sind wenige Menschen unterwegs. Bis zum Abend darf weder Alkohol in Supermärkten verkauft, noch in Kneipen ausgeschenkt werden, damit auch alle nüchtern zur Wahl gehen. Es ist das erste Mal, seit dem Ende der Diktatur unter Pinochet, dass die Stimmabgabe nicht mehr verpflichtend ist. Dementsprechend hoch ist auch die Wahlbeteiligung: knapp 49 %. Und wie nicht anders zu erwarten war, gewann die Ex-Präsidentin Michelle Bachelet, ihre Wahlversprechen klingen nicht verkehrt – Reformierung der noch aus Diktaturzeiten stammenden Verfassung, ein gerechteres Steuersystem, Bildung für alle –, doch wenn man die Chilenen so reden hört, dann glauben die wenigsten an die Umsetzung dieser Versprechen. Außerdem muss sich die Dame von links noch in der Stichwahl gegen die rechtsgerichtete Evelyn Matthei am 15. Dezember durchsetzen, bevor sie zeigen kann, dass sie ein „Chile für alle“ schaffen kann – und das dann im zweiten Anlauf, schließlich hat sie es während ihrer ersten Amtszeit von 2006 bis 2010 keinen großen Wandel auslösen können.

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