Sonntag, 17. November 2013

Hat jemand nach Abenteuerlichkeiten gerufen?


Knapp zwei Stunden bin ich wieder zu Hause in Concepción und eigentlich auch recht müde – nach zwei Stündchen Schlaf und einer langstündigen Argentinienrückreise – treffe ich mich mit Masiel, einer mittlerweile sehr guten Freundin, an einer Straßenecke, um dort in den Bus nach Lirquén zu steigen. In Concepción ist es angenehm mild, aber uns wurde angeraten, warme Kleidung einzupacken. Ich habe also noch meine Jacke, die mir im winterlichen August hier das Erfrieren von einigen Körperteilen erspart hat, im Gepäck und ein paar Alpaka-Handschuhe, das kommt mir zwar reichlich übertrieben vor, aber man weiß ja nie. Zum Strand soll es eigentlich gehen. Aber Miguel und Juan haben es sich anders überlegt: Nach langem Hin und Her und hier noch etwas einpacken und da noch etwas vergessen haben, stiefeln wir in die Nacht hinein, genau entgegengesetzt zum Meer. Am Straßenrand steht im abendlichen Laternenlicht ein noch recht junges Fohlen, das Mutterpferd im Halbschatten angepflockt. Plötzlich biegen wir links ab, ein kleiner Feldweg, ich bezweifle ein wenig, dass wir öffentliches Terrain betreten, schweige aber. Statt zu protestieren, stolpern Masiel und ich Arm in Arm den beiden Männern hinterher, die uns den Großteil des Gepäcks abnehmen, als wir bei Handy-Taschenlampenschein über eine wacklige Brückenkonstruktion einen (laut unsere männlichen Begleitung) reißenden Fluss überqueren. Bei Tageslicht stellt sich dann aber doch heraus, dass es eher ein gut gefülltes Bächlein ist. Immer weniger Stadtlicht dringt hier oben zwischen den Bäumen hervor, ein kurzer Moment des Beklommenseins und ein kleiner Herzstillstand später und wir stehen auf einer Lichtung mitten im kleinformatigen Nirgendwo. Um uns herum hängt die Stille einsam in den Bäumen und die Sterne vielzählig am Himmelszelt. Wir bauen unser eigenes auf, richten es so, dass wir nicht direkt in den angetrockneten Pferdemist treten und entzünden ein Feuer. Unerwartet und mit ein wenig Rest-Adrenalin vom Aufstieg entspanne ich mich und starre in die Flammen, die sich in den Nachthimmel schlagen – noch wärmt das Feuer, doch bald bin ich froh um meine wärmende Jacke, meine Handschuhe und die warme Decke, denn die Feuchtigkeit kriecht in jede Ritze. Und doch: Welch eine wunderschöne Nacht unter freiem Himmel…
Am Morgen brütet die Sonne auf unserem Zelt und wir torkeln wohlig-warm an die frische Luft, sammeln Sack und Pack zusammen und frühstücken Torte bei Miguel. Kann ein Sonntag besser beginnen? Später spaziere ich zusammen mit Masiel noch zum Strand, wir essen herrlich fettige empanadas gefüllt mit allerlei frischen Meeresfrüchten und lassen uns noch ein wenig Sonne ins Gesicht brennen, bevor wir zurück nach Conce fahren. Duschen und schlafen, auch wenn das Wetter eigentlich nach viel Zeit draußen verlangt, der Frühling steht in seiner ganzen Pracht, der babyblaue Himmel lockt, aber mir fallen die Augen zu.

Gegen späten Nachmittag dann klingelt mein Handy und ich werde gebeten, den Einbruch ins eigene Haus zu verschleiern. Andrea hatte sich ausgesperrt, die einzige Möglichkeit war das Abschrauben des Küchenfenstergitters und der Einstieg ins eigene Haus, da weder Mitbewohner vor Ort, noch Handy in der Tasche, noch Schlüssel für das unüberquerbare Tor zur Hand waren. Also komme ich doch nochmal raus an die frische Luft, schwinge mich auf meinen etwas klapprigen und ungefederten Drahtesel, von dem ich allerdings ein kurzes Stück absteigen muss, da ich Angst habe, von dem kläffenden Straßenköter zerfleischt zu werden und eile herbei. Denn das Gitter alleine wieder anzubringen, das würde dann doch an ein Wunder grenzen. Eine Schraube hier, eine Schraube dort, noch ein wenig zurechtrücken, anziehen und man sieht nichts mehr. Mein Magen grummelt und Andrea lädt mich zum Dank zu einer Pizza ein. Alles dabei? Schlüssel? Ja. Geld? Ja. Handy? Nein. Also kurz nochmal ins Haus. Hallo? Ins Haus! Mist, die Tür lässt sich nicht öffnen. Das kann doch jetzt nicht… Wer hat sich den Scherz erlaubt? Universum, wir lachen. Lauthals, aber ein wenig Verzweiflung mischt sich auch darunter. Sollen wir das Gitter nochmal abschrauben? Lieber nicht, die Passanten schauen schon ein wenig seltsam. Immerhin können wir das Tor in die Freiheit öffnen. Also klingeln wir beim Nachbarn, der erst Andreas Mitbewohnerin und dann den Vermieter anruft, welcher auch ziemlich schnell mit einer Auswahl an Schlüsseln da ist und sich selbst dem Versuch des Türaufschließens widmet. Doch da tut sich nichts. Also laufen wir drei Straßenblöcke bis zu seinem Haus, nehmen in seinem wohl geordneten Wohnzimmer auf dem Ledersofa Platz und sehen dem Spektakel zu, wie er versucht, einen Schlüsseldienst an einem Sonntagabend anzurufen. Das ist schwieriger, als gedacht. Aber irgendwann erreicht er jemanden, der innerhalb von sieben chilenischen Minuten an der Tür steht und mit Hilfe von Taschenlampenlicht am Schloss herumwerkelt, bis es nachgibt. Hätte ich mal bloß besser aufgepasst. Nach der ganzen abenteuerlichen Aufregung schmeckt die Pizza zwar deutlich später, als geplant, aber dennoch sehr gut.


Und das nächste Abenteuer? Ein weniger erfreuliches, würde ich behaupten. Es beginnt eigentlich sehr ruhig an einem Dienstagabend im Hause von Masiel und Paloma, ihrer Schwester, die an diesem Tag Geburtstag hat. Ein kleiner Freundeskreis sitzt zusammen, nimmt onces zu sich, das, was in Deutschland vielleicht Kaffee und Kuchen sein könnte, ein spätnachmittaglicher Imbiss, auch wenn es zeitlich eher Abendbrot ist. Irgendwann, nach reichlich aufgerollten, mit manjar (einer Karamellcreme) oder wahlweise Kastanienpüree gefüllten Eierkuchen, macht sich der Großteil auf den Weg zurück nach Hause, da die letzten micros nach Conce fast schon nicht mehr fahren. Gemeinsam mit einem Freund besteige ich den höchstwahrscheinlich allerletzten Bus, wundere mich über die überhöfliche Art und Weise des Fahrers, den sturzbetrunkenen Fahrgast, der mit einer Hand seine 3-Liter-CocaCola-Flasche liebkost und mit der anderen auf eine Plastiktüte eindrischt und der seltsamen Stimmung der anderen Fahrgäste. Mir dämmert es, aber es ist bereits zu spät. Wir sind auf dem Weg zurück nach Conce, der Fahrer nicht mehr ganz bei Sinnen, mal schrammt er ein wenig zu dicht am Bordstein entlang, mal versagt der Motor. Nach einer gefühlten Ewigkeit sind wir im Stadtzentrum und ich kann aussteigen, flüchtig verabschiede ich mich von meinem Freund und springe erleichtert aus dem Bus. Demnächst vertraue ich wohl lieber wieder nur meinen eigenen Füßen, frei nach Bob Marley. Genug Aufregung. Ich habe wohl ein bisschen zu laut nach Abwechslung gerufen. Erleichtert falle ich ins Bett und bin für die mündliche Prüfung am nächsten Morgen mehr als gewappnet.

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