| Der Flugzeugblick auf die Anden |
Nach
der ersten durchtanzten Nacht – in einer Lokalität Concepcións, die sich „La
Bodeguita de Nicanor“ schimpft – steige ich schlaftrunken und mit sich
näherndem Muskelkater in den Bus nach Santiago de Chile. Es ist ein sonniger
Samstagvormittag, der mich bereits leicht zum Schwitzen bringt. Vor mir im Bus
sitzt ein kleines Mädchen, knapp zwei Jahre alt, das sich immer wieder hinter
seinen Handflächen versteckt und sich freut, wie sich eben kleine Mädchen
freuen, wenn man ihnen Aufmerksamkeit schenkt. In Santiago steige ich von einem
in den nächsten Bus, der mich dann wiederum zum Flughafen bringt. Denn das
nächste Transportmittel ist beflügelt, erhebt sich allerdings erst gegen 20 Uhr
in die Lüfte. So lange stromere ich über den hauptstädtischen Flughafen,
stöbere in den überteuerten Geschäften und frage mich, wer eigentlich in den
Duty-Free-Shops einkauft, denn wirklich günstiger sind die Produkte hier auch
nicht – und wer will schon einen Fußballgroßen ChupaChups-Lutscher im
Handgepäck transportieren?
Das
beflügelte Monstrum bringt mich ins Nachbarland, nach Argentinien. Genauer: in
die Hauptstadt Buenos Aires. Ein riesiges Lichtermeer flackert aus dem
schwarzen Loch unter uns hervor. Nach nur anderthalb Stunden Flug befinde ich
mich in einem anderen Land. Und wieder eine neue Währung, die erst einmal in
meinem Kopf ankommen muss. Ich komme zumindest am späten Abend bei Tante und
Onkel einer guten kolumbianischen Freundin an, die mich in Empfang nimmt, da
sie hier momentan ihre Pflichtpraktika für ihr Medizinstudium absolviert. Das
Haus liegt in einem sehr gediegenen Viertel in der Provinz Buenos Aires, also
nicht direkt in der Hauptstadt, dafür entlang von Bäumen gesäumten Kopfsteinpflasterstraßen.
Am Morgen blicke ich dann fast vom Bett aus direkt auf den Garten mit
Swimmingpool. Außerdem gibt es in diesem Haushalt drei Kinder im Alter von neun
bis achtzehn Jahren sowie von montags bis freitags eine Hausangestellte, die
sich um alles kümmert. Das ist mir mittlerweile leider gar nicht mehr so fremd,
aber dennoch kommt es mir noch immer so vor. Zu uns kommt samstags eine junge
Frau, die den Dreck in der Küche unserer 9er-WG beseitigt, aber tagtäglich acht
Stunden Haushalt… Ich bin gespannt, wie ich damit zurechtkommen werde.
Am
Morgen lerne ich Jackie und Juan Carlos kennen, meine Gastgeber. Und irgendwie
fühle ich mich ein bisschen Zuhause, ob das vielleicht an dem kolumbianisch
angehauchten Spanisch liegt? Von dem Viertel Martínez aus besteigen wir den Zug,
etwa 45 Minuten sind es bis ins Zentrum. Allerdings muss man ein wenig mehr
Zeit einplanen, da man nie genau weiß, wann und ob überhaupt ein Zug
angekrochen kommt. Auf dem Weg ins Herz der Stadt kommen wir am riesigen
Grundstück der momentan amtierenden Präsidentin Kirchner vorbei: Hinter hohen,
roten Mauern, geschmückt mit reichlich Stacheldraht, verbirgt sich irgendwo in
den weiten das pompöse Anwesen. An der Endhaltestelle Retiro warten Steffi und
ich auf eine Freundin, um dann gemeinsam durch San Telmo zu schlendern. Einem
kleinen niedriggebauten Viertel mit einer Vielzahl an Restaurants und Cafés,
die mit ihren bunt gepinselten Schildern an vergangene Zeiten erinnern.
| Tango auf Papier |
Da
passt es auch umso besser, dass wie heute immer sonntags ein riesiger Flohmarkt
auf dem Marktplatz stattfindet und auch alle anderen Straßen von Kitsch- bis
Kunstverkäufern gesäumt sind. Ob nun einen mate
(Behälter für den mate-Tee,
ultramoderne Jungdesigner-Entwürfe, tanzende Tangopaare auf Büttenpapier oder
einfach nur schreckliche Mitbringsel – hier findet der suchende Tourist und
wahrscheinlich auch der gemeine Argentinier alles, was das kaufwütige Herz
begehrt. Unter das Gefeilsche, das Gemurmel und Geschrei in den Gassen mischen
sich schnelle Beats, eine Straßenecke weiter stellt eine Ska-Band ihr Bestes
preis. Da wippen meine Füße gleich wieder mit, aber der Muskelkater vom
Tanzmarathon hindert mich daran, es dem etwa zehnjährigen Mädchen gleichzutun,
das vor der Musikertruppe eine ausgefeilte und von Ausdauer geprägte Darbietung
ihrer Ska-Tanzkünste liefert.
| Städtischer Ska in San Telmo |
Wir lassen uns vom Strom der Menschen
weitertreiben, bis wir Hunger verspüren und eine Pizzeria aufsuchen, der
Einfluss der Italiener auf das Essen hier ist nicht gerade gering. Auch wenn
die Pizza Ewigkeiten auf sich warten lässt, sie schmeckt und füllt den Magen
fast zum Zerbersten voll. Draußen scheint die schwere Nachmittagssonne, wir
flüchten uns in den überdachten Markt von San Telmo, der von hunderten
Antiquitätengeschäften, aber auch Obstständen bevölkert ist. Wieder draußen
dringen sanfte Tangoklänge in mein Ohr, direkt neben dem Flohmarkt tanzt ein
Pärchen, das wahrscheinlich schon seit einem halben Jahrhundert dort wochenends
tanzt. Mit einer faltigen Anmut bewegen sich die beiden Tänzer über das
improvisierte Tanzparkett, darunter befindet sich gemeingefährliches
Kopfsteinpflaster. Wir stehen und schauen, während unser Eis in der Hand in der
Sonne dahinschmilzt. Ein paar Schritte weiter ragt die zitronengelbe Kirche von
San Telmo mit gleich zwei Türmen in den Himmel. Die Außenfassade wirkt pompös,
im Innern empfängt uns ein gedämpftes Weiß und eine angenehme Kirchenstille,
eine kurze Pause vom ganzen Großstadtwochenendtrubel. Ein Haus weiter bietet
sich eine ganz andere Aussicht: Hinter hohen Zäunen verwittert ein riesiges
Gebäude, das Künstlern als Leinwand für ihre Graffitis und Kunstwerke dient. So
langsam machen wir uns auf den Rückweg, ich mit einem mate und Steffi mit neuen Ohrringen in der Tasche, wir steigen in
den Bus und warten dann eine halbe Stunde an der Haltestelle Retiro darauf,
dass die S-Bahn herangeschlichen kommt. Wir steigen nicht in Martínez aus,
sondern fahren zwei Stationen weiter, um die Kathedrale von San Isidrio in
Augenschein zu nehmen. Vor ihr ein kleiner Park, die Verkaufsstände werden so langsam
abgebaut und uns führt ein kleiner abendlicher Spaziergang zurück zu Onkel und
Tante.
Am
nächsten Morgen bin ich alleine im Haus, der Rest ist ausgeflogen, entweder zur
Arbeit, zur Schule oder zu einer Prüfung. Da ich nicht alleine vor die Tür
soll, weshalb auch immer, verbringe ich den Vormittag ganz ohne Fernsehen und
Rumgezicke. Gegen 10 Uhr kommt Sandra, um das Haus zu putzen, das Mittagessen
vorzubereiten und ich weiß gar nicht so recht, wie ich mich ihr gegenüber
verhalten soll. Gegen frühen Nachmittag mache ich mich auf den Weg ins Zentrum
und treffe mich dort mit Steffi, die eine Prüfung in der kolumbianischen
Botschaft schreiben musste. Gemeinsam laufen wir durch das aufgewühlte microcentro, die enge Fußgängerzone ist
stark belaufen, überall wird der Tausch von Dollar in argentinische Pesos
angeboten, schwarz versteht sich. Vor der Citibank wird Tango in Frack und
hautengem Kleid getanzt. Ansonsten fühlt es sich wie jede europäische Großstadt
an, bekannte Marken haben hier genauso ihre Geschäfte wie in Paris, an das mich
Buenos Aires tatsächlich stark erinnert, aufgrund der Architektur, der
Geschäftigkeit und der Vielfalt. Nur ist die argentinische Variante deutlich
schmutziger, da lässt man mal eben den Müll einfach fallen, auch wenn der Mülleimer
einen Meter weiter steht. Plötzlich stehen wir auf dem Plaza de Mayo, dem wohl politischsten Ort in der Hauptstadt, hier
wird nicht nur den Opfern des Krieges um die Falklandinseln gedacht, sondern
auch den Tausenden von Verschleppten und Ermordeten unter Videla. Auf den Boden
sind weiße Kopftücher gemalt, das Symbol für die Madres de Plaza de Mayo, die Mütter, die hier noch immer jeden
Donnerstag gegen das Verschwindenlassen und für die Menschenrechte
protestieren. Direkt hinter diesem historischen Platz befindet sich das Casa Rosada, der Präsidentenpalast.
![]() |
| Gemalte Kopftücher auf der Plaza de Mayo |
Auf
dem Weg nach Hause steigen wir in Belgrano
aus, wo wir vorbei an einem Drachen und durch ein haushohes Tor hindurch in das
Chinatown von Buenos Aires gelangen. Zwei Straßenzüge voll chinesischer Schriftzeichen,
kleiner Asia-Märkte, fremder Gerüche. Nur leider ist es schon ein wenig spät
und das geschäftige Treiben findet wahrscheinlich andernorts statt. In einem
nahegelegenen Park gehen die blauen Lichter in einem kleinen Pavillon an und
wieder schwappt warme Tango-Musik zu uns herüber. Wir könnten eine Tango-Stunde
nehmen, ich bevorzuge aber das Zuschauen.
| Tanze Tango mit mir… |
Ein
neuer Morgen, ein neues Ziel: das Mamba, das Museum für Moderne Kunst. Klein
aber fein kommt es daher. In einem Raum befindet sich die Lichtinstallation der
argentinischen Künstlerin Karina Peisajovich: El aire tomará esta forma („Die Luft wird diese Form annehmen“). Es
ist stockdunkel, die Augen sind unfähig auch nur die kleinste Kontur
wahrzunehmen, vorsichtig ins Nichts hineintastend stolpere ich in die
Dunkelheit. Am anderen Ende des Raumes gibt es eine Lichtquelle, eine Reihe von
schwacher Glühbirnen, deren Licht sich farblich langsam verändert. Nach einer
gefühlten Ewigkeit tauchen plötzlich Umrisse aus der Dunkelheit hervor, die
tölpelhafte Unsicherheit weicht von mir und sicheren Schrittes laufe ich durch
den Raum. Draußen dagegen scheint die Frühlingssonne auf den kleinen Yachthafen
im Viertel Porto Madero. Kräne ragen
in die Höhe und die Brücke Puente de la
Mujer über das Wasser. In piekfeinen Restaurants ließe sich hier feinstes
argentinisches Rinderfleisch verspeisen, wenn man denn Fleisch äße und auch
einiges an Scheinen in seinem Portemonnaie hätte. Stattdessen spazieren wir am
Ufer entlang und sind froh, dem städtischen Smog eine Weile entfliehen zu
können.
| Frau vor der Frauenbrücke |
Am
Mittwochvormittag steigen wir in die S-Bahn, allerdings in die dem Zentrum
entgegengesetzte Richtung: nach Tigre. Die Stadt, die ihren Namen einem Tiger
verdankt, klebt quasi fast an Buenos Aires, hat aber rein gar nichts mit dem
großstädtischen Treiben gemeinsam, höchstens die vielen Menschen mit ihren mate-Behältern. Nach einigen Irrungen
und Wirrungen finden wir den Puerto de
Frutos, den Obsthafen, doch hier werden schon lange keine Obstwaren mehr
feilgeboten, vielmehr ist es ein touristisches Viertel mit vielen kleinen
Geschäften geworden. Geschäfte in einem Hafen, durchzogen von kleinen Becken,
in die das Wasser eines Arms des Flusses Río de la Plata schwappt. Die andere
Uferseite sieht aus, wie aus dem Amazonas-Gebiet geklaut. Auf Grund gelaufene
Schlepper, Holzhütten auf Stelzen und irgendwie wild. Wir ziehen im großen
Bogen am Wasser entlang, kommen an unzähligen Rudervereinen vorbei, deren Sitze
an den Reichtum vergangener Tage erinnern. Die fast schon salzige Luft weht uns
die Sonne ins Gesicht, mit einem frisch gepressten Saft machen wir einen
ausgedehnten Spaziergang hin zum Kunstmuseum der Stadt, was vormals ein Casino
war. Die Werke im Innern sind nicht gerade berauschend, aber der ausladende
Balkon bietet einen wunderschönen Ausblick auf die Umgebung.
![]() |
| So fährt man hier Taxi |
Eigentlich
wollten wir früh aufstehen, das hat auch einigermaßen geklappt, dennoch
schaffen wir es nicht pünktlich ins Zentrum zur Friedhofsführung, die ich gerne
mitgenommen habe, aber es gibt halt Menschen, die eine halbe Ewigkeit im Bad
benötigen und auch, um endlich loszukommen. Wir kommen also zu spät, aber der
Friedhof La Recoleta ist auch ohne Führung magisch.
| Gut verwahrt |
Die Mausoleen drängen sich
dicht an dicht wie winzige Reihenhäuser, und doch sind sie alle ganz unterschiedlich.
Viele stammen noch aus dem 19. Jahrhundert, nur wenig neue Mausoleen
stehen hier. Oftmals sind die Scheiben eingeschlagen, die Türen jedoch mit
schweren Schlössern verhangen, als ob man den Toten im Untergrund den Weg ins
Hier und Jetzt versperren müsste. In den Gräberalleen finden sich Namen, die
auch überall in Argentinien die Straßen schmücken: Präsidenten, Wissenschaftler,
Schauspieler, usw.. Einige Gräber sind mit Plastikblumen versehen, wie das von
Eva Perón, auch bekannt unter dem Namen Evita. Mir schießt die Frage durch den
Kopf, weshalb dem Tod eigentlich Häuser gebaut werden, in denen es vor allem
hinab in die Tiefe geht, nur wenige der Särge befinden sich überirdisch,
Wendeltreppen führen Hinab, ins Jenseits? Langsam rollt Berta heran, der Sturm
Berta, der seit zwei Tagen die argentinischen Nachrichten beherrscht. Der
Himmel zieht sich zu und die ersten Tropfen fallen vom Himmel. Wir flüchten uns
in ein Café, bevor wir uns mit einem Regenschirm bewaffnet in die Fluten
stürzen, hin zur Bushaltestelle. Die Stadt steht Kopf und das Himmelswasser
überspült Straßen und Gehwege. Und Berta belässt es nicht beim Donnerstag, den
Freitag über regnet und regnet es, ich würde ja rausgehen, aber…
Auch
wenn ich nicht ganz so viel von der argentinischen Hauptstadt gesehen habe, wie
ich eigentlich wollte, eine Woche raus aus der Kleinstadt, die Concepción doch
irgendwie ist, rein in eine andere Welt, dafür hat es sich gelohnt. Und dann
passiert noch etwas: In Argentinien selbst habe ich eigentlich keinen
Argentinier kennen gelernt, da ich ja bei einer kolumbianischen Familie war. Im
Bus von Santiago de Chile nach Concepción sitzt neben mir ein Argentinier aus
La Plata, mit dem ich mich lang und breit über sein Heimatland und die
Gewohnheiten dort unterhalte. Er zeichnet ein weniger klischeehaftes Bild, als
das es sich mir in Buenos Aires selbst ergeben hat.


Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen