Montag, 28. Oktober 2013

Heulen und stöhnen


Die Wochentage sind bereits zur Routine geworden, die Seminare und Vorlesungen reihen sich Tag für Tag aneinander, ich lerne dazu oder auch nicht, dennoch erscheine ich brav zum Unterricht. Und beteilige mich, aber so richtig Anschluss gefunden habe ich innerhalb der Uni noch nicht so richtig. Irgendwie bin ich weiterhin die Ausländerin im Großteil meiner Kurse. So fühle ich mich nicht nur auf der Straße wie eine Außerirdische, sondern ab und an auch im kleineren Kreis der Uni. Aber das ist wohl das Los, das ich gezogen habe und die Rolle, die ich hier einnehme. Die Blicke auf der Straße, die Köpfe, die sich nach meinem blonden Haupthaar umdrehen, alles halb so wild. Ich bin eben gringa, in den Augen der meisten.

Das felsige Zuhause der Seehunde
Der Blick aus der iglesia de piedra heraus
Zwar finde ich so langsam meine Nischen und ein paar Freunde, aber es wird sicherlich noch dauern, bis ich mich in dieser kleinstädtischen chilenischen Studentenstadt so richtig zu Hause fühle. Einer der Auswege aus diesem etwas bedrückenden Gefühl: reisen, die Gegenden rund um Concepción (und auch ein wenig weiter) erkunden. An einem frühlingshaften Oktobermorgen steige ich in das Auto von Constanza und gemeinsam mit Julia, Javier und Jack machen wir uns auf den Weg nach Cobquecura. Der kleine, gemütliche Ort – etwa zweieinhalb Stunden Autofahrt nördlich von Conce –, hört sich an, als sei er mit Cupcakes bestückt, ist er aber nicht. Vielmehr sieht man hier noch immer die verwüstenden Spuren des schweren Erdbebens im Jahre 2010 in der Region. Blanke Lehmwände kurz vorm Einsturz, Häuserruinen, die ihr Dasein fristen, anklagende Graffitis an den noch stehenden Mauern. Noch zeigt sich der Himmel wolkenverhangen, als wir nach einer kurvenreichen Fahrt das Meer entdecken. Der Wind pfeift mir um die Ohren, der schwarze Sandstrand wird von den Wellen fast verschlungen, so heftig peitschen sie heran. In nicht allzu weiter Ferne ragen einige spitze Felsen aus der Gischt. Auf ihnen hieven sich schwarze, seidig-glänzende Tiere dem grauen Himmel entgegen. Die lobería beherbergt rund 2 000 Seehunde, die sich um die scharfkantigen Felsen scharen. Normalerweise kommt man recht nah an diese erstaunlich beweglichen Lebewesen heran, doch der starke Wellengang rückt sie in eine Ferne, die gerade so mit dem Teleobjektiv herangeholt werden kann. Ein paar Kilometer weiter befindet sich die iglesia de piedra (die Steinkirche).

Doch um eine richtige Kirche handelt es sich nicht, vielmehr ist es eine riesige Höhle, die mit ihrer dunklen, in die Höhe ragenden Feuchte an eine Kirche erinnert. Ein natürliches Fenster ermöglicht den Blick auf den tobenden Pazifik und einen winzig blauen Streifen am fernen Horizont, der darauf hindeutet, dass das Wetter sich in den nächsten Stunden bessern könnte. Und noch ein paar Kilometer weiter sehen wir uns den Strand von Buchupuero an, ein Ort, der im Sommer von der etwas reicheren Sorte von Chilenen bevölkert wird, jetzt im Frühling ist er aber noch menschenleer und der Schwarzsandstrand zieht sich entlang der Steilküste bis ins Unendliche. Da unsere Mägen knurren und in dem winzigen Ort kein bezahlbares Restaurant aufzufinden ist, fahren wir zurück nach Cobquecura, um dort den Hunger nach Fisch zu stillen. Unser Mittagsschläfchen halten wir am Strand, mittlerweile zeigt sich sogar auch die Sonne in ihrer schönsten Form, sodass ich mit (un)gesunder Röte am Abend wieder in unserer Geröllhalde hinterm Haus, was hoffentlich irgendwann einmal zu einem ansehnlichen Garten wird, um noch die letzten Sonnenstrahlen einzufangen. Die Tage werden minutenweise länger, die Nächte umso kürzer. Mich freut es, einige meiner Mitbewohner sind diesen Wechsel nicht gewohnt und beschweren sich darüber, dass ihnen die Nacht „geklaut“ wird. Ich dagegen kann es kaum erwarten, meinen zweiten Sommer hier zu erleben. Und die ersten Anzeichen sind bereits da, die Bäume stehen in ihrem schönsten Grün, es wuchert und wuchert überall, beinahe schon fühle ich mich in einer Stadt von Urwald eingenommen. Selbst wenn die Stadt kulturell nicht allzu viel zu bieten hat, sie ist allemal grüner als jede Großstadt und hält wahrscheinlich noch ein paar zu entdeckende Orte bereit. Bis ich die finden werde, dauert es aber wahrscheinlich noch ein Weilchen.
Von der Schönheit des Wochenendes zurück in die Welt des Alltags und der Bürokratie fühle ich mich ein wenig verhohnepiepelt, als es darum geht, meinen chilenischen Ausweis abzuholen. Eigentlich sollte er nach einer Woche abholbereit sein, da mich die Frau am Schalter bei der Beantragung allerdings bat, erst in zwei Wochen vorbeizuschauen, folge ich ihrer Bitte und schwinge mich am Montagmorgen auf mein Rad und fahre zum registro civil. Zweieinhalb Wochen sind um und mein Ausweis ist noch nicht da, wie lange es noch dauern wird, kann mir aber auch niemand sagen. Herrlich. Dann versuche ich mein Glück in der Uni – ich würde gerne irgendwann mal meinen Studentenausweis haben. Also gehe ich zur Abholstelle, bei der ich bereits vor meiner Reise in die Wüste aufgeschlagen bin. Und siehe da, nichts ist in der Zwischenzeit geschehen. Nicht einmal der Antrag ist gestellt worden, obwohl die sehr herzliche und hilfsbereite Dame bei der zuständigen Stelle angerufen hatte und ihr versichert worden war, dass dieser Antrag gestellt werden würde. Aber wozu benötige ich auch einen Studentenausweis? Der könnte mir ja nur das Studieren erleichtern, da er mir endlich Zugang zur zwar nicht sonderlich gute sortierten Bibliothek verschaffen würde und auch die Studententarife würden mir dann vielleicht endlich in den Bussen gewährt werden. Also ruft die Dame noch einmal bei der zuständigen Stelle an und bleibt hartnäckig. Ob jetzt aber tatsächlich der Antrag gestellt wurde, steht noch in den Sternen. Da anscheinend wirklich alle schlechten Dinge drei sind, fällt dann auch noch mein Pilates-Kurs für diese Woche aus – davon erfahre ich natürlich erst, als ich in Sportklamotten vor der Halle stehe. Immerhin habe ich heute Abend meinen Literaturkurs, der meine Laune ein wenig bessert. Und die Aussicht auf einen kurzen Aufenthalt im Ausland hellt meine finsteren Gedanken ebenfalls auf. Um ganz im stereotypen Denken zu verweilen: nächster Halt die Hauptstadt des Tangos erwartet mich mit frühlingshaften Temperaturen. Buenos Aires, tanz mit mir.

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