| Sonntägliche Gemütlichkeit |
Es
ist ein wunderschöner Sonntag: wolkenlos, sonnig, alltagsflüchtig. Gegen
Nachmittag setze ich mich zusammen mit Andrea in einen der vielen micros, die kleinen Busse des
öffentlichen Nahverkehrs in Concepción und Chile allgemein. Dieser Bus bringt
uns über Lirquén und Penco nach Tomé. Ein kleines verschlafenes Nestchen mit
einer bezaubernd abfallenden Steilküste, vereinzelten Traumholzhäuschen in den
Hängen hin zum Meer und mehreren Strände, die teils erheblich bevölkert sind –
besonders an einem wie dieser Sonntagnachmittage –, teils aber auch einsam und
verlassen ein paar Buchten weiter liegen und im Frühlingslicht von den Wellen
beglückt werden. Sobald wir das erste Körnchen Sand sehen, heißt es Schuhe aus
und den Strand unter den Fußsohlen spüren. Wir spazieren am eisig kalten
Meereswasser entlang, das in kleinen und größeren Wellen an den Strand gespült
kommt. Je weiter wir von den Strandlustigen aber Lauffaulen gelangen, desto
farben- und formenreicher zeigen sich Flora und Fauna entlang der Pazifikküste.
Das Algengrün steht im krassen Kontrast zum kraftvollen Meeresblau, die winzig
schwarz-violetten Miesmuschelansammlungen klappern ein rauschendes Konzert,
sobald sie von den Meereswellen umspült werden und die Pelikane erobern sich
ihre Felsvorsprünge mit ihrer bloßen Anwesenheit. Fischer staksen und stochern
am Ufer herum und wir klettern über Felsen und Steine, um immer weiter zu
gelangen, weiter, weiter. Obwohl? Warum nicht einfach rasten, die Vogelvielfalt
belauschen und die ruhigen Linien des Wassers verfolgen, während die
Frühlingssonne die Haut wärmt? Irgendwann wollen die Füße aber doch mehr von
dem bimssteinartigen Untergrund und wir ziehen weiter. Zwei ältere Herren haben
uns wohl schon eine Weile beobachtet. Zu ihren Füßen eine Ledertasche, ein
scharfes Messer und ein Haufen Muschelschalen. In einer kleinen Tüte wartet
eine Überraschung: frisch gefischte Muscheln, welche genau, das weiß ich nicht.
Groß, weiß und recht rundlich schauen sie drein. Und der kleinere der beiden
Herren öffnet mir sogleich mit etwas Gewalt eine, beträufelt sie mit etwas
Zitrone und reicht mir einen nachmittäglichen, eiweißreichen Imbiss. Ich
überlege kurz, aber hmmm… Das zarte Muschelfleisch ist fester als erwartet,
schmeckt nach Meer und nach mehr. Ich bekomme noch eine zweite auf die Hand und
per Handschlag verabschieden wir uns, klettern mit bloßen Füßen weiter über die
vielen Steinformen mit Möwengeschrei im Ohr und Sonne auf der Haut.
| Klappernde Miesmuschelchen am Strand von Tomé |
Da
stellt sich uns eine etwa 1,50 Meter hohe Mauer in den Weg, die wir zwar
leichter Hand erklimmen, aber dann, ja ich weiß auch nicht. Ich will meine
Tasche vorsichtig hinunterlassen, da klirrt und kracht es. Meine Kamera, mein
Baby, dotzt auf den flachen Stein auf und landet halberseits in einer
Meereswasserpfütze. Gefühlte zehn Minuten später erkennt mein Hirn, was da
gerade passiert ist, mein Körper springt hinterher, meine Hände suchen die
Einzelteile zusammen, aber so ganz habe ich noch nicht verstanden, dass ich
gerade meine langjährige Gefährtin (und wohl irgendwie auch beste Freundin)
fallen lassen habe. Der Schmerz sitzt tief, aber traut sich noch nicht an die
Oberfläche. Der Tag ist trotzdem weiterhin schön, Hoffnung besteht auch, denn
nur das Objektiv ist auseinander gebrochen, die Kamera an sich hat „nur“ eine
ordentliche Fuhre Salzwasser nach dem Sturz abbekommen. Nicht darüber
nachdenken. Jetzt nicht. Lieber eine Weile aufs Meer starren und froh über die
Weite sein, vielleicht passt ja auch noch ein wenig Meeresweite in meinen Kopf.
Irgendwann wird es Abend und wir waten durch das ansteigende Meer und seinen
algigen Salatsumpf, der an Land geschwemmt wird. Ein paar empanadas wären jetzt großartig, aber so richtig viel ist sonntags
nirgends geöffnet (bis auf die größeren Supermärkte, aber die gibt es hier in
Tomé nicht). Also weichen wir auf completos
und Hamburger aus. Completos werden
hier riesige Hotdogs genannt, da sind nicht nur der heiße Hund und ein paar
Zwiebelchen drin, sondern zumeist noch Avocado und anderes Grünzeug, der
allerdings wiederum mit einem ordentlichen Berg Mayonnaise verziert wird. Ich
entscheide mich für einen Thunfisch-Hamburger, der meine Vorstellung dessen,
was ein Hamburger tatsächlich ist, gänzlich auf den Kopf stellt: ein
tellergroßes Brotgestell mit ordentlich Thunfisch und jeder Menge frischem
Gemüse, natürlich auch dieser dekoriert mit Mayonnaise. Im letzten
Frühlingssonnenlicht lassen wir uns unser Abendbrot unter freiem Himmel munden,
um dann gesättigt den Rückweg anzutreten. Zuhause wird mir so langsam der
Verlust bewusst. Selbst wenn meine Kamera zu retten ist, der Schreck sitzt tief
und die Lust, mich weiterhin der Fotografie zu widmen, ist gedämpft.
Aber
es kann ja quasi nicht schlimmer kommen. Das denke ich mir zumindest vorm Schlafengehen.
Montag ist Unitag, nichts Verwunderliches. Gut, dass meine Woche mit einer
Pilates-Stunde am Vormittag beginnt, ein seichter (manchmal aber doch
auch sehr anstrengender) Einstieg in die neue Woche. Mittags ein wenig frischen
Fisch im Ofen, dann zu meinen Seminaren und Vorlesungen am Abend, nach Hause.
Ja, alles ganz normal. Nun. Nicht ganz. Nachts wache ich gegen zwei Uhr auf,
ich kann nicht schlafen. Vor Schmerzen. Mein Magen zieht sich zusammen, es
fühlt sich an, als hätte man mir mit aller Wucht in den Unterleib getreten. Bis
zum Morgengrauen verbringe ich im Bad, am nächsten Morgen habe ich definitiv
nichts mehr in mir. Eigentlich fühle ich mich besser, will duschen. Doch in der
Dusche überkommt mich die Übelkeit, meine Ohren machen dicht, ich sacke
zusammen und weiß nicht, wie lange ich tatsächlich auf dem Boden liege. Das zu
heiße Wasser lässt mich wieder zu mir kommen. Ich tapere halb benommen zurück
in mein Bett, kraftlos versinke ich einen unruhigen Schlaf. Da habe ich mich
wohl überschätzt. Meiner Mitbewohnerin geht es auch ziemlich schlecht, und sie
hat als einzige ebenfalls vom Fisch gegessen. Großartig. Eine
Lebensmittelvergiftung. Dabei habe ich am Tag zuvor noch gedacht, es könne
nicht schlimmer kommen. Aber man soll ja niemals nie sagen. Die nächsten Tage
verbringe ich mit viel Schlaf, sehr viel Schlaf, nehme ein wenig Brühe und
irgendwann auch Reis zu mir. Am Freitag geht es mir wieder so gut, dass ich
meine Übersetzungsprüfung schreiben kann und endlich meinen chilenischen Personalausweis
beantragen kann.
Eigentlich
hätte ich den Personalausweis beantragen müssen, als ich endlich mein Visum in
den Händen hielt. Aber die Chilenen streiken gerne, was nicht schlimm ist,
schließlich streiken sie nicht aufgrund irgendwelcher Belanglosigkeiten,
sondern aufgrund der schlechten Bezahlung. Drei Wochen hat er gedauert und so
langsam neigen sich die 30 Tage, die ich ab der Visumsausstellung zur
Ausweisbeantragung habe, dem Ende zu. Anfang der Woche hatte das registro
civil, das Bürgeramt hier in Chile, bereits wieder geöffnet, allerdings nur
eine gewisse Anzahl von Menschen bedient. Ich stehe also da, habe alla
Unterlagen beisammen, ziehe eine Nummer und warte. Warten kann tatsächlich sehr
anstrengend sein, wenn um einen herum alle außerordentlich nervös sind, alle
zwei Minuten ein gräulicher Klingelton der unzähligen Mobiltelefone erklingt
und man nicht einmal in Ruhe lesen kann. Nach einer Stunde des Wartens bin ich
an der Reihe, zumindest wird meine Nummer von der Dame vorne aufgerufen – die
Anzeigentafel funktioniert nicht. Die freundliche Dame am Schalter sagt mir
nach einem kurzen Blick auf meine Unterlagen, dass das Datum beim
Einreisestempel nicht lesbar genug ist. Ich müsse noch einmal zur Policía de
Investigaciones, um mir bestätigen zu lassen, dass ich am 7. August nach
Chile eingereist bin. Ich maule ein wenig herum, bis sie meint, ich solle
schnell dorthin gehen und wieder herkommen, ich müsse auch keine neue Nummer
ziehen, sondern einfach wieder zu ihr an den Schalter kommen. Ein wenig
schlecht gelaunt, stapfe ich mit großen Schritten durch den
freitagvormittaglichen Kaufrausch der Stadt, gute fünfzehn Minuten Fußweg (und
sehr viel länger hat weder die Polizei für internationale Angelegenheiten, noch
das Bürgeramt offen). Immerhin erhalte ich die Beglaubigung, dass ich
tatsächlich am abgestempelten Datum nach Chile eingereist bin problemlos. Dann
nehme ich wieder meine Beine in die Hand und schlage kurz vor Wochenende wieder
bei der Dame am Schalter auf. Ja, sie ist wirklich freundlich. Also darf ich
jetzt freundlich in die Kamera lächeln, einmal, zweimal, dreimal – ich höre auf
zu zählen. Und dann gibt es Probleme bei meinem Nachnamen, der enthält nämlich
ein „ä“ und das ist auf ihrer Tastatur nicht vorhanden, auch das Tastenkürzel
funktioniert nicht – irgendwann gibt sie auf und meint, das würde schon
klappen. Ich bin gespannt, wenn schon der Stempel unleserlich war, was passiert
denn bitte, wenn mein Nachname zwei Schreibweisen erfährt? Abwarten und faden
Tee oder doch lieber löslichen Kaffee trinken? Es gibt ein weiteres Problem,
aber nicht mit mir, irgendwo an einem anderen Schalter. Die nette Dame
entschwindet, an ihre Stelle rückt eine Dame, die meine Finger auf das
Fingerabdruckgerät presst, als würde ich mich wehren wollen. Außerdem spricht
sie mit mir, als ob ich kein Spanisch beherrschen würde: langsam und als sei
ich irgendwie geistig zurückgeblieben. Ich bin zwar blond, aber ich bin des
Spanischen durchaus mächtig. Dann muss ich noch etwas unterschreiben. Was? Ich
kann keine Organspenderin sein? Ich frage nochmal nach. Nein, als Ausländerin
ginge das nicht. So ganz traue ich ihr nicht über den Weg (später stellt sich
heraus, dass andere unterschrieben haben, dass sie sehr wohl Organspender
sind). Dann versucht mir die Dame zu erklären, dass ich den Ausweis laut dem
Papier – sie markiert das Datum neongelb – zwar in einer Woche abholen könne,
sie nimmt sich dann aber einen Kalender und zeigt auf die darauffolgende Woche.
Es dauere gerade länger. Ah, danke. Demnächst werde ich auf ganz dummblond
stellen, wenn man mich mal wieder nicht verstehen möchte. (Mir ist durchaus
bewusst, dass man auch gerne Ausländern so in unserem wunderschönen Land
begegnet.) Eine Erfahrung mehr. Sind das jetzt bereits die drei schlechten
Dinge oder kommt gar noch etwas? So richtig schlimm war das ja jetzt nicht… Da
fällt mir auf, dass sich ein guter Freund schon lange nicht mehr gemeldet hat
und sich auch sonst sehr distanziert verhält. Immerhin verbrennt mir die Sonne
die Nase. Das kann ja jetzt nun wirklich nur noch besser werden.
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