Mir
wächst gerade alles über den Kopf hinaus, hoch in den Himmel. Ja, es gibt sie,
diese Momente, in denen man sich fragt, weshalb eigentlich, was mache ich hier,
was treibt mich, immer wieder zu fliehen. Sie kommen und gehen meistens auch
wieder. Denn eigentlich liegt die Antwort auf der Hand: Es ist eine Art innere
Unruhe, die mich von einem Ort zum nächsten treibt und mich eben auch gerne mal
an einen anderen Kontinent anschwemmt. Dieses Fernweh, das sich trotz dessen
die Waage hält mit dem Heimweh. Die Vorstellung, irgendwo tatsächlich ein ewig
währendes Zuhause zu finden, die rückt in solchen Momenten immer weiter in die
Ferne. Aber wer weiß, was kommt. Vielleicht bringt das weite Meer meinen engen
Kopf auf andere Gedanken. Auch wenn ich eigentlich in meinem Zimmer sitzen und
lernen müsste, lasse ich es mir nicht nehmen, nach dem Mittagessen mit einer
Freundin eines Freundes, das schon seit Langem ausstand, ich aber nie so
richtig die Zeit und Motivation gefunden hatte, mich bei ihr zu melden, ihrer
Einladung zu folgen, auch noch den Nachmittag mit ihr zu verbringen. Eine ihrer
Freundinnen holt uns mit dem Auto ab, zuvor habe ich das erste Mal hier
Ziegenkäse – im Salat – gegessen, das muss einfach ein guter Tag werden.
Wohlgemerkt ist Käse hier in Chile alles andere als ein Grundnahrungsmittel,
zumindest das, was ein verwöhnter deutscher Gaumen als Käse erschmecken würde.
Ziegen- und Schafskäse, die richtig fiesen und doch meine liebsten, sind hier
nicht auffindbar und wenn doch, dann unbezahlbar. Wir holen noch zwei weitere
Chileninnen ins Boot, pardon, ins Auto. Chilenen an sich scheinen gerne zu
trinken, der Wein hier ist ja auch nicht zu verachten, ebenso wenig das Bier
oder der Pisco – aber was mir tatsächlich ein wenig zu krass ist, ist die Tatsache,
dass es eine Supermarktkette namens Kamadi
gibt, die fast ausschließlich alkoholische Waren an Mann und Frau veräußert,
immerhin darf man hier erst ab 18 alkoholische Getränke erwerben. Aber noch bin
ich nie nach dem Ausweis gefragt worden wie bereits des Öfteren in Deutschland.
Auch wir machen kurz Halt und versorgen uns mit Kunstmann-Bier, ein Bier, das
nach deutschem Reinheitsgebot gebraut wird, denn letztlich geht die Marke
zurück auf den deutschen Einwanderer Carlos Anwandter, der Mitte des 19. Jahrhunderts
seine Brauerei in Valdivia gründete. Es ist eines der teureren Biere hier in
Chile und auch eines, das in kleinen Flaschen gereicht wird – also in ganz
normaler Größe. Denn die meisten Biere in den nicht ganz so hippen Bars kommen
in Ein-Liter-Flaschen daher, die trinkt man natürlich nicht alleine, sondern
schenkt am Tisch in Gläser oder manchmal auch in Plastikbecher aus. Es ist auch
eher gängig, dass man sich seine Getränke selbst an der Bar holt, als dass man
bedient wird, da ist so eine große Flasche durchaus handlicher als mehrere
kleine Flaschen. Wir greifen also zum Bier, auf dessen Kronkorken es
tatsächlich heißt: „Cerveza Kunstmann …das
gute Bier“ (in deutscher Sprache, ja). Kein Wunder, dass Deutschland
weltweit mit Bier assoziiert wird.
Zu
fünft heizen wir wie alle anderen auch über die Straßen Concepcións, geregeltes
Heizen würde ich es nennen. Bis, oh, war das jetzt? Tatsächlich. Uns folgt ein
Polizist auf dem Motorrad, wir müssen anhalten. Die Ampel war wohl etwas rot.
Unsere Fahrerin steigt aus, diskutiert ein wenig (ein anderer Autofahrer hatte
sie kurz zuvor geschnitten, was sie ein wenig aus ihrem Fahrkonzept gebracht
hatte), ihre Daten werden aufgenommen, aber eine Strafe scheint es nicht zu
geben. Seltsam, sehr seltsam.
Wir
fahren nach Chome, das liegt irgendwo zwischen der Flussmündung des Bíobios und
des Strandes Ramuntcho. Ein winziger Ort mit knapp 120 Einwohnern, Steilküste,
einem kleinen, steinreichen Strand und ohne Mobilfunknetzempfang. Ich verliebe
mich auf Anhieb. In den 1950er Jahren hat man sich hier dem Walfang gewidmet,
Überreste sind noch im Örtchen zu sehen: Es gab eine riesige Anlage, in denen
die Tiere verwertet wurden, von der heute noch ein Großteil steht. Dachlose
Mauern, tiefgründige Betontröge und rostige Ketten erwecken den Eindruck, dass
man einfach alles stehen und liegen lassen hat, nachdem der letzte Wal vor etwa
dreißig Jahren hier sein Ende gefunden hatte.
Die
sonnenbebrillten Chileninnen sitzen am Strand, ich darf das Bier für alle mit
einem flachen Stein öffnen, ich bin schließlich die Deutsche, die das können
muss (und tatsächlich auch kann). Wir stoßen an auf einen entspannten
Samstagnachmittag (nur die Fahrerin hält sich brav an Brause). Ich sitze da,
höre teils den Gesprächen der Freundinnen zu, doch irgendwann verlieren sich
die Stimmen in den glitzernden Wellen, die an die Felsen klatschen. Es fühlt
sich an wie Urlaub in kleinen Häppchen – jedes Wochenende einmal ans Wasser,
Meeresluft schnuppern und mir den Kopf durchpusten lassen. Ihm ein bisschen
Weite geben und ablassen von all den Verpflichtungen und Aufgaben und und und…
Ist nicht eher das hier das Leben? Es ist zumindest eine gewisse Freiheit, die
ich mir hier nehme, um nicht zu sehr in den Gedanken zu versinken. Meeresweite
gegen Kopfenge. Und gar keine Kamera dabei, die fristet eingesperrt in meinem
Zimmer ihr Dasein. Irgendwie traue ich mich nicht, ihr wieder Leben
einzuhauchen. Zumal sie arretiert werden müsste, am besten einmal in die
professionelle Reinigung, damit sie keinen Rost ansetzt, aber das ist hier in
Concepción unmöglich. Ein Fachgeschäft für Fotografie? Fehlanzeige.
Nach
einer Sonnenstunde streifen wir entspannt durch das Örtchen, kaufen den
Einheimischen ein paar empanadas ab,
meine zwei frittierten Teigtaschen sind jeweils mit locos (eine Schneckenart aus dem Pazifik, und wenn man es wörtlich
übersetzen würde, wären es „Verrückte“, der vollständige lateinische Name
lautet Concholepas concholepas) und
mit carapacho (Krebsfleisch) gefüllt.
Ein wenig später unterhalten wir uns noch mit Señora Ruth, die hier geboren
wurde und ganz alleine in ihrem hellblau gestrichenen Häuschen mit Blick auf
das dunkellaue Meer wohnt. Der Tiefe ihrer Falten nach zu urteilen, wohnt sie
bereits sehr lange hier. Einmal in der Woche gibt es hier einen Bus, mit dem
man die 22 Kilometer bis nach Concepción kommt. Jeden Dienstagmorgen um 8.30
Uhr, nachmittags um 17 Uhr fährt der dann zurück. Wenn man also kein Auto
besitzt, anscheinend kaum jemand, dann kann man hier, gar nicht mal so weit weg
vom mittelstädtischen Trubel, ein sehr ruhiges Leben führen. Selbst die
Touristen, die sich am Wochenende in dieses idyllische Nichts verirren, können
nicht mit lautstarken Telefongesprächen nerven, denn es gibt hier keinen
Empfang, dazu muss man schon hoch auf die höchste Spitze des Dorfes wandern.
Könnte ich mir tatsächlich vorstellen, so zu leben? Ich weiß es nicht. Aber in
diesem Augenblick halte ich es für möglich. Am liebsten würde ich mich Stunden
über Stunden mit Ruth unterhalten, aber die Mädels zieht es wieder in die Stadt
zurück. Ich mache noch ein paar Kopfbilder, lasse den Wind nochmal durch meine
Haare fahren und steige dann wieder ins Auto.
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