Montag, 14. Oktober 2013

Von der Weite des Meeres und der Enge des Kopfes


Mir wächst gerade alles über den Kopf hinaus, hoch in den Himmel. Ja, es gibt sie, diese Momente, in denen man sich fragt, weshalb eigentlich, was mache ich hier, was treibt mich, immer wieder zu fliehen. Sie kommen und gehen meistens auch wieder. Denn eigentlich liegt die Antwort auf der Hand: Es ist eine Art innere Unruhe, die mich von einem Ort zum nächsten treibt und mich eben auch gerne mal an einen anderen Kontinent anschwemmt. Dieses Fernweh, das sich trotz dessen die Waage hält mit dem Heimweh. Die Vorstellung, irgendwo tatsächlich ein ewig währendes Zuhause zu finden, die rückt in solchen Momenten immer weiter in die Ferne. Aber wer weiß, was kommt. Vielleicht bringt das weite Meer meinen engen Kopf auf andere Gedanken. Auch wenn ich eigentlich in meinem Zimmer sitzen und lernen müsste, lasse ich es mir nicht nehmen, nach dem Mittagessen mit einer Freundin eines Freundes, das schon seit Langem ausstand, ich aber nie so richtig die Zeit und Motivation gefunden hatte, mich bei ihr zu melden, ihrer Einladung zu folgen, auch noch den Nachmittag mit ihr zu verbringen. Eine ihrer Freundinnen holt uns mit dem Auto ab, zuvor habe ich das erste Mal hier Ziegenkäse – im Salat – gegessen, das muss einfach ein guter Tag werden. Wohlgemerkt ist Käse hier in Chile alles andere als ein Grundnahrungsmittel, zumindest das, was ein verwöhnter deutscher Gaumen als Käse erschmecken würde. Ziegen- und Schafskäse, die richtig fiesen und doch meine liebsten, sind hier nicht auffindbar und wenn doch, dann unbezahlbar. Wir holen noch zwei weitere Chileninnen ins Boot, pardon, ins Auto. Chilenen an sich scheinen gerne zu trinken, der Wein hier ist ja auch nicht zu verachten, ebenso wenig das Bier oder der Pisco – aber was mir tatsächlich ein wenig zu krass ist, ist die Tatsache, dass es eine Supermarktkette namens Kamadi gibt, die fast ausschließlich alkoholische Waren an Mann und Frau veräußert, immerhin darf man hier erst ab 18 alkoholische Getränke erwerben. Aber noch bin ich nie nach dem Ausweis gefragt worden wie bereits des Öfteren in Deutschland. Auch wir machen kurz Halt und versorgen uns mit Kunstmann-Bier, ein Bier, das nach deutschem Reinheitsgebot gebraut wird, denn letztlich geht die Marke zurück auf den deutschen Einwanderer Carlos Anwandter, der Mitte des 19. Jahrhunderts seine Brauerei in Valdivia gründete. Es ist eines der teureren Biere hier in Chile und auch eines, das in kleinen Flaschen gereicht wird – also in ganz normaler Größe. Denn die meisten Biere in den nicht ganz so hippen Bars kommen in Ein-Liter-Flaschen daher, die trinkt man natürlich nicht alleine, sondern schenkt am Tisch in Gläser oder manchmal auch in Plastikbecher aus. Es ist auch eher gängig, dass man sich seine Getränke selbst an der Bar holt, als dass man bedient wird, da ist so eine große Flasche durchaus handlicher als mehrere kleine Flaschen. Wir greifen also zum Bier, auf dessen Kronkorken es tatsächlich heißt: „Cerveza Kunstmann …das gute Bier“ (in deutscher Sprache, ja). Kein Wunder, dass Deutschland weltweit mit Bier assoziiert wird.

Zu fünft heizen wir wie alle anderen auch über die Straßen Concepcións, geregeltes Heizen würde ich es nennen. Bis, oh, war das jetzt? Tatsächlich. Uns folgt ein Polizist auf dem Motorrad, wir müssen anhalten. Die Ampel war wohl etwas rot. Unsere Fahrerin steigt aus, diskutiert ein wenig (ein anderer Autofahrer hatte sie kurz zuvor geschnitten, was sie ein wenig aus ihrem Fahrkonzept gebracht hatte), ihre Daten werden aufgenommen, aber eine Strafe scheint es nicht zu geben. Seltsam, sehr seltsam.
Wir fahren nach Chome, das liegt irgendwo zwischen der Flussmündung des Bíobios und des Strandes Ramuntcho. Ein winziger Ort mit knapp 120 Einwohnern, Steilküste, einem kleinen, steinreichen Strand und ohne Mobilfunknetzempfang. Ich verliebe mich auf Anhieb. In den 1950er Jahren hat man sich hier dem Walfang gewidmet, Überreste sind noch im Örtchen zu sehen: Es gab eine riesige Anlage, in denen die Tiere verwertet wurden, von der heute noch ein Großteil steht. Dachlose Mauern, tiefgründige Betontröge und rostige Ketten erwecken den Eindruck, dass man einfach alles stehen und liegen lassen hat, nachdem der letzte Wal vor etwa dreißig Jahren hier sein Ende gefunden hatte.
Die sonnenbebrillten Chileninnen sitzen am Strand, ich darf das Bier für alle mit einem flachen Stein öffnen, ich bin schließlich die Deutsche, die das können muss (und tatsächlich auch kann). Wir stoßen an auf einen entspannten Samstagnachmittag (nur die Fahrerin hält sich brav an Brause). Ich sitze da, höre teils den Gesprächen der Freundinnen zu, doch irgendwann verlieren sich die Stimmen in den glitzernden Wellen, die an die Felsen klatschen. Es fühlt sich an wie Urlaub in kleinen Häppchen – jedes Wochenende einmal ans Wasser, Meeresluft schnuppern und mir den Kopf durchpusten lassen. Ihm ein bisschen Weite geben und ablassen von all den Verpflichtungen und Aufgaben und und und… Ist nicht eher das hier das Leben? Es ist zumindest eine gewisse Freiheit, die ich mir hier nehme, um nicht zu sehr in den Gedanken zu versinken. Meeresweite gegen Kopfenge. Und gar keine Kamera dabei, die fristet eingesperrt in meinem Zimmer ihr Dasein. Irgendwie traue ich mich nicht, ihr wieder Leben einzuhauchen. Zumal sie arretiert werden müsste, am besten einmal in die professionelle Reinigung, damit sie keinen Rost ansetzt, aber das ist hier in Concepción unmöglich. Ein Fachgeschäft für Fotografie? Fehlanzeige.


Nach einer Sonnenstunde streifen wir entspannt durch das Örtchen, kaufen den Einheimischen ein paar empanadas ab, meine zwei frittierten Teigtaschen sind jeweils mit locos (eine Schneckenart aus dem Pazifik, und wenn man es wörtlich übersetzen würde, wären es „Verrückte“, der vollständige lateinische Name lautet Concholepas concholepas) und mit carapacho (Krebsfleisch) gefüllt. Ein wenig später unterhalten wir uns noch mit Señora Ruth, die hier geboren wurde und ganz alleine in ihrem hellblau gestrichenen Häuschen mit Blick auf das dunkellaue Meer wohnt. Der Tiefe ihrer Falten nach zu urteilen, wohnt sie bereits sehr lange hier. Einmal in der Woche gibt es hier einen Bus, mit dem man die 22 Kilometer bis nach Concepción kommt. Jeden Dienstagmorgen um 8.30 Uhr, nachmittags um 17 Uhr fährt der dann zurück. Wenn man also kein Auto besitzt, anscheinend kaum jemand, dann kann man hier, gar nicht mal so weit weg vom mittelstädtischen Trubel, ein sehr ruhiges Leben führen. Selbst die Touristen, die sich am Wochenende in dieses idyllische Nichts verirren, können nicht mit lautstarken Telefongesprächen nerven, denn es gibt hier keinen Empfang, dazu muss man schon hoch auf die höchste Spitze des Dorfes wandern. Könnte ich mir tatsächlich vorstellen, so zu leben? Ich weiß es nicht. Aber in diesem Augenblick halte ich es für möglich. Am liebsten würde ich mich Stunden über Stunden mit Ruth unterhalten, aber die Mädels zieht es wieder in die Stadt zurück. Ich mache noch ein paar Kopfbilder, lasse den Wind nochmal durch meine Haare fahren und steige dann wieder ins Auto.

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