Freitag, 28. März 2014

Gutes Essen, gute Musik und guter Wein

 
Das harte chilenische Leben

Das Warten hat sich gelohnt: Als stünden diese Tage unter einem Motto, lasse ich es mir verdammt gutgehen. So dürfte das chilenische Leben gerne öfters schmecken. Im wohl gehobensten peruanischen Restaurant gehe ich mit Max, der noch ein paar Tage in meiner Studienstadt verbringt, bevor er wieder nach Deutschland fliegt, und Rita, einer guten Freundin, das Geburtstagsessen nachholen. Kellner mit weißem Hemd, Weste und Fliege bedienen uns, bei so viel Fisch und Meeresfrüchten auf der Karte fällt mir die Entscheidung nicht leicht. Und noch viel schwerer wird es, als wir die Dessert-Karte vor Augen geführt bekommen. Ob nun kluge Verkaufsmasche oder Entscheidungshilfe, die Nachtischauswahl wird uns auf einem Silbertablett präsentiert. Aufgrund meines Maracuja-Fetischs wähle ich die Maracuja-Tarte aus und wenige Minuten später versinken nicht nur unsere Löffel in feinsten süßen Träumen. Die Sonne strahlt, der Sonntag ist noch gar nicht so weit vorangeschritten. Erst gegen Mitternacht wird Max nach mehr als drei Wochen die Heimreise antreten.

Nach einem kurzen Abschied laufe ich durch die nächtlichen Straßen und bin plötzlich wieder mit mir alleine.  Der Wind fährt durch die nächtlichen Wipfel, die Wolken rasen vor dem Mond entlang und die Stadt ist still, stiller, am stillsten. Am nächsten Morgen beginnt das neue Semester, doch welche Kurse ich tatsächlich besuchen werde, weiß ich noch gar nicht so recht. Aber die einhellige Meinung: In der ersten Woche geschieht so oder so noch nicht viel. Erstmal alles ruhig angehen lassen? Nichts da. Ein Intensiv-Seminar mit einem Dozenten von der Universität Leipzig steht plötzlich bereits an, obwohl es auf der Internetpastel de choclo, einen für die Jahreszeit typischen Maisauflauf, dazu frischer Melonen-Saft. Dann noch schnell ein bombastisch geschmacksintensives Eis beim Emporio de la Rosa. Und dann müssen wir uns beeilen, die Busse zu einem der vielen Stadien Santiagos sind bereits überfüllt: Konzertgänger überall. Die Schlange ist schier unübersichtlich lang. Während Rita sich anstellt, versuche ich herauszufinden, wo ich meinen Rechnungsbeleg gegen unsere wirklichen Tickets einlöse. Tatsächlich gibt es noch freundliche Sicherheitskräfte, die mir den Weg weisen. Schneller und entspannter, als gedacht, kommen wir mit den Tickets in der Hand durch die Sicherheitskontrolle. Es kann endlich losgehen: erst Chico Trujillo, dann Manuel García und schließlich Calle 13. Vier Stunden, zwar ein wenig frisch unter freiem Himmel, aber Musik hält warm. Es hat sich auf jeden Fall gelohnt. Sowohl die mir bis dahin nicht sehr bekannten Klänge der beiden chilenischen Bands, als auch das lang erwartete Konzert der puerto-ricanischen Band haben den Santiago-Großstadt-Blues zumindest für heute zunichte gemacht.

seite der hiesigen Universität erst in zwei Wochen angeschlagen steht. So schnell kann die Uni wieder sämtliche aufgetankte Reiseenergie in Anspruch nehmen. In den Pausen schreibe ich mich dann noch schnell in weitere Kurse ein, spreche hier mit einem Dozenten, dort mit Mitstudenten und plötzlich steht der Freitag vor der Tür. Da ich mich noch nicht ganz dem universitären Leben hingeben möchte und meinen Reiseenergiespeicher auch nicht gleich komplett entladen möchte, setze ich mich wieder in den Bus. An meiner Seite: Rita. Mit Frontfenstersicht und erstaunlicherweise vernünftigen Sicherheitsgurten fahren wir in Richtung Hauptstadt. Mittlerweile kennen wir uns dort gut aus, eigentlich wollen wir gar nicht in die hitzige Großstadt mit all dem Trubel und Gewimmel. Aber wie es so ist, hier in Chile, wenn man ein bisschen Kultur genießen will, muss man meist ins Zentrum. Denn kulturell und politisch gesehen, ist Santiago leider Chile. Auch wenn das vielleicht ein wenig übertrieben klingt, doch der Zentralismus dieses Landes ist hier stark zu spüren. In einem gemütlich grünem Restaurant essen wir zu Mittag oder auch Abend, vielmehr zu Nachmittag. Das Mittagsmenü ist leider aus, dann eben à la carte: Quinoa-Risotto und ein vegetarischen
Am nächsten Morgen schlafen wir aus und trotzdem scheinen wir gegen 9 Uhr die ersten wachen Menschen in unserem 8-Bett-Zimmer zu sein. Vergebens versuchen wir den holzknarrigen Boden zum Schweigen zu bringen und sind so ungewollt Weckdienst für die anderen. Aber Frühstück gibt’s hier doch auch nur bis 10 Uhr. So übel dürften es uns unsere Bettnachbarn gar nicht nehmen. Mit wunderbar leichtem Gepäck steigen wir in die Metro. Es ist vormittags und draußen bereits grellwarm, während die Metro stickigschwulstige Luft bietet. Immerhin steigen wir in der einen Endstation ein und an der anderen aus, Sitzplatzsicherheit. Es geht immer weiter heraus aus dem Zentrum, die Gegend wird wohnlicher, die Häuer flacher und das Großstadtgefühl schwindet. An einer Station steigt eine bunte Truppe ein, insgeheim wünsche ich mir, dass irgendetwas Außergewöhnlicher passieren möge. Still und leise kommt aus der großen, schwarzen Tasche ein Kontrabass hervor, aus der Einkaufstasche lugt ein Waschbrett und aus der Ecke blitzt bereits das Saxophon. In Sekundenschnelle erfüllt jammige Jazz-Musik den Wagon und entlockt den Reisenden ein Lächeln, manch einer lässt sich sogar zum Mitklatschen hinreißen. Leider währt dieses wohlige Gefühl nicht lange, denn schnell kommt eine Sicherheitskraft, um den Künstlern ihre Kunst zu verbieten. Dagegen wehren sich die Metro-Fahrer, zeigen Solidarität und erklatschen und errufen eine Zugabe, die sich die Musiker nicht nehmen lassen. Um welchen Preis? Das werden wir nie erfahren, sie werden an der nächsten Station von weiteren Sicherheitskräften in Empfang genommen. Dafür allerdings mit Applaus aus dem Wagon heraus.


Da Chile bei den meisten Nicht-Chilenen vor allem eine Assoziation hervorruft – Wein –, kann ich dieses Land natürlich nicht verlassen, ohne nicht zumindest ein Weingut besichtigt zu haben. In vielen Regionen gibt es zahlreiche Anwesen, größere und kleinere, doch ohne Auto bleiben viele unerreichbar. Deswegen fahren wir zum größten und wohl bekanntesten Weingut namens Concha y Toro. Wir sind zu früh, viel zu früh für unsere Tour, sodass wir in der Weinbar Platz nehmen und vor der Weinführung noch etwas auf der Terrasse zu Mittag essen. Heute knausern wir nicht, sondern leben für einen halben Tag das Leben betuchterer Touristen (nur dem Kleidungsstil wollen wir uns nicht anpassen). Das Mousse au chocolat kommt im Anschluss an vegetarische Lasagne und Schrimps-Tagliatelle nicht um unsere Löffel herum. Um 14 Uhr stehen wir gut gesättigt vor dem schwarzen Eisentor, hinter dem ein hübsch aufgeräumtes Anwesen samt Garten und Weinreben steht. Seit 1883 besteht das Gut und ist nach dem US-amerikanischen Weingut Gallo laut unserer flotten Führerin das zweitgrößte, aber natürlich weltbeste Weingut. Hauptsächlich werden hier Rotweine produziert, ein paar unterschiedliche Traubensorten dürfen wir probieren: Cabernet Sauvignon, Merlot, Carménère. Aber auch guter Weißwein wird hier gekellert. Zunächst lernen wir, unser Glas richtig zu halten. Nun lassen wir den Wein im Schwenkverfahren atmen, nehmen einen ersten Nasenhieb Aroma auf, bevor es dann Salute heißt und der Trio, bestehend aus Chardonnay, Pinot Grigio und Pinot Blanc, unsere Kehlen kühlt. Ein Fest. Und zwar ein berauschendes. Oh Bacchus! Vom luftig-frischen Weißweingefühl geht es schnell hinab ins sterilkühle Lager, in dem je 225 Liter Wein in Eichenfässern gelagert wird. Der kostspieligere Rotwein des Hauses weilt bis zu 36 Monate in den Teufelstiefen, im Casillero del Diablo. Dort unten lässt uns unsere Führerin alleine, die schweren Holztüren fallen ins Schloss und über eine an die uralten Mauern projizierte Animation wird die Geschichte dieses eigenwilligen Ortes erläutert. Anschließend dürfen wir dem Teufel noch persönlich in die Augen schauen, er wacht über die preislosen Schätze: verstaubte, jahrhundertealte Weine. Dieses Teufelszeug wird uns leider nicht eingeschenkt, dafür aber zwei gute Rotweine. 

Vier Freunde und eine Käseplatte

Wieder draußen blendet die Sonne, doch wir machen weiter. Kein Trinkgelage, nein, viel besser: eine Weinverkostung mit Sommelier. Vier Weine stehen vor uns: ein Pinot Noir, ein Merlot, ein Carménère und ein Cabernet Sauvignon. Passend dazu vier unterschiedliche Käsesorten. Und auch hier heißt es erst den Kelch schwenken, Riechkolben im Glas versenken und dann den Gaumen tränken. Auch wenn die vom Sommelier benannten Nuancen nur schwerlich für mich zu erkennen sind, es vermittelt zumindest das Gefühl, die Weine ein wenig besser zu verstehen. Demnächst werde ich wohl häufiger zum mediterran leichten Pinot Noir als zum bauchig schweren Cabernet Sauvignon greifen. Salute!

Dienstag, 18. März 2014

Patagonische Winde, körperliche Anstrengung und freie Gedanken

An der Küstenstraße von Punta Arenas

Auf dem Weg in die Hauptstadt wird deutlich, dass der Sommer langsam, ganz langsam zur Neige geht. Die Weizenfelder sind kahl geschoren, nur noch die übergebliebenen Stoppeln und die quadratisch geformten Heuballen glänzen gülden in der grellen Februarsonne. Je weiter der Bus gen Norden rast, desto ausgetrockneter schaut die Landschaft drein, die ersten Blätter an den Bäumen verfärben sich, doch die Hitze steht noch immer über Santiago.
Ich stehe am Flughafen und warte, ein seltsames Gefühl: Besuch aus Deutschland. Eigentlich sollte mein Bruder bereits gelandet sein, doch die Anzeigetafel zeigt 40 Minuten Verspätung an. Irgendwann kommt er dann verschwitzt und müde hinter der Glasschiebetür hervor und wir machen uns auf zum Hostel im wohl touristischsten Viertel der chilenischen Hauptstadt. Die Häuser sind bunt und niedrig, zeigen Gesicht – mal in Form eines Graffitis, mal schlichtweg durch ihre Fassade. Nach einem äußerst fleischhaltigen Abendessen kaufen wir noch churros beim Geschäft auf Rädern nebenan und die erste 1-Liter-Bierflasche für Max, machen es uns auf der Dachterrasse unseres Hostels gemütlich und starren in den sternenbedeckten Himmel über unseren Köpfen. Ausgeschlafen erwachen wir mit der Sonntagssonne, entlang des etwas unschön gefärbten Flusses Maipo laufen wir durch die Stadt. Die meisten Geschäfte sind geschlossen, die Hauptstraßen für Fahrradfahrer, Skater und Fußgänger freigegeben und die Museen kostenfrei. Die Plaza de Armas ist leider von hohen Holzzäunen umgeben – Bauarbeiten bis August –, also statten wir nur der Kathedrale einen Besuch ab, bevor wir uns Chiles Geschichte vor Chile im Museum für präkolumbische Kunst zu Gemüte führen. Im unterirdischen Ausstellungsraum befinden sich aufgespannte Inka-Knoten, die eher wie ein Meisterwerk der modernen Kunst daherkommen als ein Informationssystem der ersten Eroberer Chiles. Hier liegen die ältesten Mumien der Welt, es sind winzig kleine Kindermumien, daneben prangen abgedrehte Hüte anhand derer man sich früher einem indigenen Volk zugehörig gezeigt hat und am anderen Ende des Raumes tummeln sich Figuren der Rapa-Nui-Kultur. Ein wundervoll kondensiertes und ästhetisch grandioses Museum. Dann statten wir dem Präsidenten in seinem Palast „La Moneda“ (eigentlich früher Chiles Münzprägungsstätte) ab, so fühlt es sich zumindest an beim Schlange stehen für die Sicherheitskontrolle. Eine persönliche Vorladung haben wir nicht und deswegen dürfen wir nur die akribisch gepflanzten Orangenbäume im ersten Innenhof des strahlend weißen Protzbaus und die Kupferkanonen aus dem 18. Jahrhundert im zweiten Innenhof bestaunen. Die Männer in weiß(er Uniform) salutieren zum Abschied und schon sind wir wieder draußen, biegen um die Ecke und sehen uns das Ganze noch einmal von unten an. Das Kulturzentrum „La Moneda“ befindet sich nämlich direkt unter dem Vorplatz. Derweil weht die riesige, chilenische Trikolore über unseren Köpfen und die Sonne brennt. Der Erfrischung wegen kaufen wir uns mote con huesillo, laufen weiter und weiter, vorbei an der im Februar leider geschlossenen Oper, hin zum Cerro Santa Lucía. Die ausgetreten Stufen führen uns zu einem Aussichtspunkt, von dem aus Santiagos Größe ganz andere Dimensionen annimmt. Auf dem Rückweg kommen wir noch am Museum der Schönen Künste vorbei, betreten die Bauhaus-Ausstellung im Untergeschoss, haben schnell genug von deutschen Videos und verweilen lieber ein bisschen länger in der Abteilung für chilenische Kunst unter der Diktaturzeit. Um 17 Uhr gibt es Live-Musik, die erste Band allerdings lädt eher zum Gehen als zum Bleiben ein, die Sototo Blues Band hingegen lohnt das Warten im klimatisierten Veranstaltungsraum. Jorge Soto, ein recht bekannter chilenischer Gitarrist und Sänger, legt eins ums andere Gitarren-Solo hin. Um der Hitze draußen zu trotzen, gehen wir in eine der angeblich 25 besten Eisdielen der Welt: Maracuja- und Himbeer-Minz-Sorbet auf meiner Waffel, Joghurt-Pfirsich- und Araukanisches Schokoladeneis auf Max’ Waffel. Im Parque Forestal genießen wir dann noch wie tausende Hauptstädter die letzten Sommersonnenstrahlen.
Und am nächsten Morgen geht es wieder hoch hinaus, auf den Cerro San Cristobal, von dem aus tatsächlich ganz Santiago zu sehen ist. Da die Standseilbahn ihre klapprigen Türen erst um 13 Uhr öffnet, machen wir uns zu Fuß auf den Weg und befördern uns selbst über die gewundenen Wege nach oben. Gewaltig groß, diese Stadt. Unten im Getummel gehen wir noch für unsere Wanderung einkaufen, trinken noch ein kühles Bier, bevor wir uns wieder in Richtung Flughafen begeben, um das Flugzeug in den Süden zu nehmen.

Angler in der Magellan-Straße
Wenn man dann nachts um 3 Uhr am kleinen, kuschligen, holzverkleideten Flughafen von Punta Arenas ankommt, bleibt man erstmal dort. Wir sind zumindest nicht die einzigen, die Isomatte und Schlafsack ausbreiten. Ein paar Stündchen Flughafenschlaf und gegen 10 Uhr fahren dann endlich die ersten Taxis. Unser Hostel liegt ein wenig außerhalb des Zentrums, doch dafür nur ein paar Häuserblocks entfernt von der Magellan-Straße. Der Himmel zeigt sich gnädig, die Sonne wärmt unsere windumtosten Gesichter. Das Meer liegt recht ruhig da, nur ab und an malt sich der Südwind selbst in die Meeresengenwasseroberfläche. Wir spazieren an der Küstenstraße entlang ins Stadtinnere, hinauf zu einem Aussichtspunkt. Diese kleine, scheinbar unbewohnte Stadt birgt winzig kleine und sehr große Schätze der Vergangenheit: Werbeschilder aus dem vergangenen Jahrhundert, gut erhaltene Kolonialzeitvillen. Und doch ist alles flach, als ob der Wind hier dafür sorgt, dass kein Haus über den zweiten Stock hinauswächst – abgesehen von zwei protzigen Luxushotels. Und noch mehr Vergangenheit klebt an den Wänden des Cafés; alte Werbeplakate und seichte, jazzige Musik begleitet den Ziegenkäse-Spargel-Crêpe. Aufgewärmt und gesättigt laufen wir bis zum Friedhof, der irgendwie sehr fremd wirkt. Die haushohen Buchsbäume sind bauchig-rund geschnitten, das grelle Abendlicht strahlt die weißen Gräber an und der patagonische Wind sorgt für eine Überdosis frischer Luft. Früh aufstehen. Das könnte unser Motto sein, aber es lohnt sich ja meistens. Mit der rostroten „Melinka“-Fähre geht es hinaus auf die Magellan-Straße zur Insel „Magdalena“, ein Naturreservat für Magellan-Pinguine. Wenn die Jungtiere der monogamen Wesen im Frack schlüpfen, bewohnen diese paar Quadratkilometer mehr als 200 000 Exemplare. Die ganz Kleinen sind bereits aufgebrochen, und auch die anderen verschwinden bald von ihrer Sommerresidenz. Es röhrt und schnattert ununterbrochen. Eine Stunde lang dürfen wir an diesem Spektakel teilnehmen, wie die kleinen Frackmänner und -frauen tollpatschig über die staubig-steinige Insel watscheln, in ihren irdischen Nestern verschwinden oder in kleinen Grüppchen aus dem inselnahen Meerwasser schießen. Fast noch spannender sind allerdings die Touristen, die aus dem Fotomachen gar nicht mehr herauskommen.

Frackmann in Aktion

Unsere Rucksäcke liegen schwer auf unseren Schultern, doch daran werden wir uns wohl gewöhnen müssen. Am Morgen machen wir uns auf nach Puerto Natales, etwa 250 Kilometer von Punta Arenas entfernt. Trotz Stadtplan laufen wir zunächst in die entgegengesetzte Richtung, vielleicht auch aufgrund des Stadtplans, der so scheint es Max und mir den Kopf verdreht hat. Wir sind die ersten in unserem kuschligen 5-Bett-Zimmer im noch viel kuschligeren erratic-rock-Hostel. Wir bringen schnell unsere Wäsche zur Wäscherei und schlendern dann durch die Straßen dieses kleinen Städtchens, an das sich Berge und Wasser gleichermaßen schmiegen. In vielen Fenstern, diesen schaufensterartigen Auslagen, liest es sich Hebräisch. Und es gibt wirklich sehr viele Israeli hier unten im Süden, bislang hatte ich das nur für verschwörungsreiche Märchen gehandelt. Aber es gibt auch mindestens so viele Deutschsprachige unter jenen, die in Patagonien wohnen. Um 15 Uhr gibt es ein Informationsgespräch über das, was uns in den nächsten fünf Tagen im Parque Torres del Paine erwarten wird: viele Kilometer zu Fuß, viele unterschiedliche Blautöne und sehr viel Wind. Mit unserer Ausrüstung fühlen wir uns gar nicht mal so Unvorbereitet. Doch bevor wir uns ins Wanderabenteuer stürzen, wollen wir noch einmal richtig gut essen. Das tun wir abends in der ortsansässigen Brauerei Baguales, auch wenn das dort gebraute Bier leicht süßlich nach Litschi schmeckt, das Essen stärkt uns für unser Vorhaben. Draußen frischt der Wind auf, fährt durch die Bäume, doch unser Hostel ist gut beheizt.

Früh am Morgen klingelt der Wecker. Julie, die Hostelmama, macht uns Frühstück: Omelette, frisch gebackenes Vollkornbrot, selbst gemachte Marmelade und Erdnussbutter, Joghurt, Kaffee. Da möchte man am liebsten gar nicht mehr aufstehen. Doch das Frühstück soll uns ja gerade dabei helfen: den ersten Tag im Nationalpark überleben. Und dann beginnt alles doch recht gemächlich: Fußmarsch zum Busterminal, Rucksäcke abgeben, Fenstersitzplätze ergattern und die ersten Guanacos, Nandus und Füchse aus dem Bus heraus bestaunen. Fünf Tage ohne Strom, ohne Mobilfunknetzempfang, alles, was wir brauchen auf unserem Rücken – bis auf unser Durchhaltevermögen. Am Eingang zum 8. Weltwunder, so wird dieser Nationalpark hier immer wieder angepriesen, müssen wir bezahlen und uns ein Video zu den Regeln im Park ansehen. Mit etlichen anderen Touristen werden wir in einen kleinen Raum gequetscht und wiederholt darauf hingewiesen, dass das Feuermachen verboten ist. Der Park ist zuletzt vor zwei Jahren von ein paar unvorsichtigen Touristen in Brand gesetzt worden. Die Spuren sind unübersehbar. Wir steigen wieder in den Bus, um zur Anlegestelle des Katamarans zu gelangen, der uns zum Camping-Platz „Paine Grande“ bringt. Die Oberfläche des türkisblauen Sees schlägt Falten, der Wind bläst uns beinahe um. 

Farbenfröhlichkeit am Paine Grande


Immer mehr Wanderer strömen herbei, es wird voll auf dem Katamaran, die Besatzung stapelt Wanderrucksäcke übereinander, bis zur Decke hoch – pro Saison kommen rund 150 000 Menschen in den Park, viele von ihnen bleiben nur einen Tag, immer noch viele laufen wie wir auch den W-Weg, andere genießen wahrscheinlich den etwas ruhigeren Teil des Rundweges, für den wir aber nicht ausgerüstet sind und auch zu wenig Zeit haben. Also werden wir einiges von diesen Menschenmassen zu spüren bekommen. Fast zuletzt gehen wir von Bord. Eine leichte Brise empfängt uns, die sich in Windeseile auf etwa 70 Stundenkilometer emporbläst, sodass es nicht immer einfach ist, das Gleichgewicht mit den 15 Kilogramm auf dem Rücken zu halten, geschweige denn voran zu kommen, denn bei dem Wind handelt es sich um Gegenwind. Einfach zu bewältigen ist der Weg auch nicht unbedingt, denn bei jedem Schritt lädt sich das Rucksackgewicht, größtenteils Schuld daran sind Essen, Gas und Zelt, an Kleidung haben wir nur das Allernötigste mit, auf Füße, Knie, Oberschenkel und Gesäß nieder. Erst ist es nur der Gegenwind, dann wird auch die Gegend ein wenig unfreundlicher, felsiger, rauer, ausgetreten. Die Bäume sind blattlos und stehen fast schon leblos in ihren Grautönen da – wohl das erste Weltwunder, das nicht zum ersten Mal abgebrannt ist. Doch gleichzeitig schafft dieser Totenwald wunderschöne Kontraste. Der fahl leuchtende Astwald hebt sich von den violetten und weißen glockenbehangenen Blumen ab, die mannshoch wachsen, zu unseren Füßen sättigen Moos, Klee und Löwenzahn das Farbspektrum. An manch einer Stelle schimmert es grasiggülden, an anderen erstrahlt plötzlich ein kräftiges Rot in der Sonne. Mit jedem Schritt gewöhnen wir uns mehr oder minder an die Umstände, Jacke auf und wieder zu, Mütze auf- und wieder abgesetzt, ein Wechselspiel, nicht nur der Gefühle. Der erste See ist in Sichtweite, beim zweiten gibt es dann den ersten Sichtkontakt mit Eis, schwere, trümmerhafte Eisschollen, der Grey-Gletscher bricht sich immer wieder türkis-grau-blau in den gleichnamigen See. Nach etlichen Kilometern mit vielen wunderschönen Ausblicken – für uns unerfahrene Wanderer waren die 11,5 Kilometer sehr viel länger – kommen wir am windumtosten Campingplatz an und versuchen unser Zelt aufzuschlagen. Auch das ist leichter gesagt, als getan, die Windböen machen es beinahe unmöglich. Nachts werden wir auch einige Male das Zelt in unserem Gesicht spüren, so sehr wird unser Dach über dem Kopf eingedrückt, aber immerhin ist es wasserdicht. 15 Minuten ohne großes Gepäck schaffen wir noch, von hier aus sehen wir dem Gletscher in der Abendsonne zu. Eine heiße Dusche bringt Energie zurück und unser Festmahl auf dem Gaskocher füllt unsere Mägen. Die Nacht ist stürmisch und ungemütlich, der nächste Morgen kommt ein wenig zu früh, das Frühstück brodelt auf dem Kocher, das Zelt packt sich leider nicht von selbst ein und irgendwann sind wir wieder auf dem Rückweg, wir laufen schließlich den W-Weg. Heute pustet uns der Wind in den Rücken, auch das ist nicht immer ganz einfach. Die Landschaft mag dieselbe sein, doch entdeckt man immer wieder andere Kleinigkeiten , sie ist noch immer wunderbar kontrastreich, auf der einen Seite See, auf der anderen Seite Felsinformationen, einzigartig auf dieser Welt. Am Paine Grande wollten wir nur kurz eine Mittagspause einlegen, doch Max geht es nicht allzu gut, also bleiben wir. Auch hier windet es ungemein, als unser Zelt dann endlich steht, beginnt es zu regnen. Alle Welt drängt sich in die kleine, sechseckige Quincho, dem Raum zum Kochen und Essen. Gegen Abend entnehmen wir meinem Rucksack etwas Gewicht, suchen uns einen Platz im Getummel und trinken dann noch eine Schlummertrunkschokolade mit einem Schuss Rum. An meinem Geburtstagsmorgen klart der Himmel auf, der Wind lässt nach, wir schnüren unsere Wanderstiefel und los. Da wir keinen sechsten Tag dranhängen wollen, lassen wir eine Strecke aus, auch wenn sie wunderschön sein soll, wir laufen über das „Campamento Italiano“ im tiefen Wald direkt zum Camping-Platz „Los Cuernos“. Das Bild ändert sich: Die Bäume werden grüner, die Wege sumpfiger, der See, an dem wir entlangwandern variiert seine Blautöne im Rhythmus der Wolken. Auch wenn zahlreiche Touristen hier wandern, immer wieder habe ich den Eindruck, sie würden in dieser Märchenlandschaft verschwinden. Sie verschwinden wie auch die Wanderwege in den Hügeln, Bergen und Wäldern, fast als würde sich die Natur wehren und alles Fremde verschlucken. Wir treffen Sara und Raúl wieder, die wir am Flughafen in Punta Arenas kennen gelernt haben, ein kleines, sehr schönes und vor allem unerwartetes Geburtstagsgeschenk. 

Geburtstagsgruß
Das größere ist die Natur und das Nicht-Erreichbarsein, auch keine Anrufe oder SMS schaffen es bis hierher. Die Aussicht am Campingplatz ist unschlagbar. Unten der türkisvariierende „Nordernskjöld“-See, weit oben die Cuernos del Paine und im Hintergrund schneebedeckte Berge sowie dann und wann das tiefe Grollen der sich brechenden Gletscher. Der Himmel ist sternenklar, die Nacht wird eisig, doch schnell brennt die Morgensonne das letzte Frösteln weg. Die extrem hohe UV-Strahlung kommt heute wolkenfrei vom Himmel. Und wieder ändert sich der Ausblick. Es wird felsiger, karger, die Landschaft hat kaum Erbarmen mit uns, die schattenspendenden Bäume werden immer rarer, die Anhöhen mit Blick aufs kühle Nass immer höher. An jedem Flusslauf füllen wir unser Wasser auf, unter jedem Baum suche ich Schatten, mein Kopf summt, meine Beine laufen und laufen, doch als wir vor dem Scheideweg stehen, wähle ich die leichtere Variante zum Camping „Las Torres“. Je karger die Umgebung wird, desto schwerer tut sich mein Kopf. Nach einer gefühlten Ewigkeit kommen wir am Campingplatz an, zuvor sind wir am Hotelkomplex vorbeigestolpert, wir lassen uns ins Gras fallen und wünschen uns jemanden herbei, der das Zelt aufbaut. Am nächsten Morgen stehen wir im Dunkeln auf, köcheln ein letztes Mal unser Frühstück unter freiem Himmel und marschieren dann ohne größeres Gepäck los. Steil bergauf. Es geht von Null auf Tausend. Der Himmel kommt zwar regenverhangen daher, doch wir laufen trotzdem dem Gipfel entgegen. Immerhin ist es der erste Tag, an dem wir längere Zeit keinen anderen Menschen sehen. Erst am nächsten Campingplatz bekommen wir Gesellschaft. Der Tag klart leider nicht auf, doch der Landschaftswechsel ist frappierend. Eben ging es noch Schotterwege am steilen Abgrund entlang und nun laufen wir durch hohe, sattgrüne Wälder. Die letzte halbe Stunde ist steil und schlittrig, die Felsen werden brockiger und scheinen mir manchmal unüberwindbar. Doch so kurz vorm Ziel lohnt das Aufgeben nicht. 

Nicht viel zu sehen von den Torres del Paine

Die Torres del Paine verstecken sich zwar größtenteils in tiefhängenden Regenwolken, doch der Gletschersee schimmert gräulich-grün und im Nieselregen und den zahlreichen gletschergespeisten Wasserfällen bildet sich ein zarter Regenbogen. Wir sitzen da und lassen das Schauspiel auf uns wirken. Nach einer Stunde treten wir den Rückweg an. Max stiefelt davon, als ob er die letzte Etappe um alles in der Welt schnell hinter sich bringen wollen würde. Insgesamt siebeneinhalb Stunden sind wir gelaufen, noch einmal duschen, die letzten Essensreserven aufbrauchen und dann auf den Bus warten, der uns zum Parkeingang bringt. Dort steigen wir in den Bus, der uns zurück nach Puerto Natales bringt, wo wir erst spät am Abend ankommen. Doch dank Warteliste haben wir wieder ein Bett bei Julie.

Nach nur wenigen Stunden Schlaf und dem besten Frühstück der Welt (zumindest der Hostel-Welt) werden wir abgeholt, wir haben die nächsten Tage zusammen mit einer kleinen lokalen Reiseagentur gebucht. Wir fahren nach Argentinien. Ein wenig zu früh sind wir mit Juan, unserem Fahrer, an der Grenze, die nur von 8 bis 22 Uhr geöffnet ist. Also warten wir noch eine Weile, bis der Schlagbaum aufgeschlossen wird. Ausreisen, Niemandsland und einreisen. Gerade wird die argentinische Flagge gehisst. Hunderte von Kilometern patagonischer Steppe liegen vor uns, die Pflanzen sind flachgedrückt, die wenigen Bäume mit dem Wind gewachsen. In El Calafate, eine Kleinstadt mit dem Namen einer patagonischen Beere, steigt Franco zu uns in den Kleinbus, um uns durch den Gletscherpark „Los Glaciares“ zu begleiten und uns allerlei Interessantes dazu zu erläutern. Angeblich sei es einer der ersten wunderschönen Sommertage in der Gegend. Das kriegen wir zu spüren, erst recht, als wir vor der Touristenattraktion des Parks stehen: dem Gletscher „Perito Moreno“. Es ist einer der wenigen Gletscher, der noch wächst. Erst stehen wir etwa 400 Meter entfernt auf einem riesigen Balkon vor ihm, dann besteigen wir den Katamaran und bestaunen die unterschiedlich blaustarken Wildwüchse vom Wasser aus. 

Natürliche Eisskulpturen

4000 bis 5000 Jahre schieben sich hier durch Geröll und Gewässer, die Sonne sucht ihr Spiegelbild im Eis und die vielen Touristen Platz auf den Außensteigen des Bootes. Viel zu schnell reisen wir wieder ab. Max und ich werden in El Calafate abgesetzt, dort lesen wir noch einmal im uns treu begleitenden Reiseführer nach und bemerken, dass wir zu wenig argentinisches Bargeld dabei haben, denn an unserem nächsten Ziel gibt es keinen Bankautomaten. Also nutzen wir die letzten zehn hektischen Minuten vor Abfahrt zur Bankautomatensuche. Erfolgreich – Glück gehabt. Wir fahren in den Norden Patagoniens, immer am Lago Argentino entlang, der drittgrößte See in Südamerika. Doch nach zwanzig Minuten hält der Bus erst einmal, kurz darauf ein zweites Mal. Nach einer gefühlten Ewigkeit werden wir gebeten in den mittlerweile angekommenen Zweitbus umzusteigen. Dann rollen wir weiter. Nach viel Steppe prangt das Fitz-Roy-Massiv am Abendhimmel. Und dann kommen wir endlich im nächsten Dorf an, das plötzlich mit seinen nächtlichen Lichtern an der nächsten Abbiegung aufgetaucht ist. Ein Lichtersee umringt von tiefschwarzen Granitriesen.

Da ist etwas mit unserer Reservierung schief gegangen, denn es gibt nur noch ein freies Bett. Nach einigem Hin und Her sowie tausendfacher Entschuldigung werden wir für diese Nacht in einer Hütte nebenan untergebracht. Leider führt das zu der ungewollten Bekanntschaft mit der gefühlt vollständigen Besatzung eines Flohzirkus. Selbst vor meinem Gesicht haben die Biester keinen Halt gemacht. Am Morgen ziehen wir dann um, frühstücken in aller Ruhe, schlendern durch fast jede Straße dieser kleinen Ortschaft. An der Hauptstraße säumen sich Hotels, Hostels, Souvenir-Geschäften, Restaurants, Cafés, als ob El Chaltén nur für wanderwütige Deutsche, feiernde Israelis und naturverliebte Argentinier gemacht wäre – so kann es einem hier zumindest vorkommen. Wir setzen uns in die kleine, unscheinbare Bäckerei „Las Nieves“, essen Kuchen, trinken Mate und schreiben Postkarten für die Familie. So lassen wir Minute um Minute dieses regnerischen Tages hinter uns. Nach dem Einkaufen, trotz unmöglicher Öffnungszeiten, aber auch das gehört zu dem deutlich ruhigeren Leben hier dazu, wollen wir so richtig gut essen gehen. Wir entscheiden uns für das Restaurant „Estepa“. Für Max gibt es patagonisches Steppenlamm mit Calafate-Soße an Kräuterkartoffelpüree und Gnoccis, vor mir steht ein Teller mit Auberginen-Pilz-Risotto und hauchdünn geschnittenen, angebratenen Zucchini-Scheiben. Plötzlich verstummt die angenehme Hintergrundmusik und wird durch einen Gitarrenspieler ersetzt, der mit lokaler Folklore aufwartet. Seine Stimme bricht das rege Gespräch am Nachbartisch und auch das Geklimper von Gabeln und Messer verstummt – es sind feine Klänge, die er auf seinen Saiten anschlägt, so fein, dass ich am liebsten mit ihnen verschwinden würde. Verschwinden sollte dagegen das Dessert nicht so schnell: Weißweinmousse auf saftigem Biskuitboden. Es ist, als würden wir Ewigkeiten in der Steppe sitzen, die Zeit klebt fest, so wie die Geschmacksnuancen an meinem Gaumen. Gut gesättigt und mit diesem wohlig-glücklichen Gefühl im Bauch trotzen wir dem auffrischenden Nachtwind. Die Nacht ist unruhig, kratzig. Der nächste Morgen strahlt uns früh an, wir schnüren die Wanderstiefel und entscheiden uns dann doch gegen die lange, anstrengende Strecke zum Fitz Roy, anstatt dessen wandern wir zum Gletschersee „Lago Torres“. Wie Haifischzähne ragen die Felsen in den strahlend blauen Himmel. Erst bildet sich links von uns ein kleiner Zwergenwald, dann überragen sich plötzlich die gleichen Bäume zu unserer Rechten, als wollten sie es den Bergen gleichtun. Dann steppt es wieder, ein milchig-blauer Gletscherfluss zieht seine Kurven durch bunt marmoriertes Gestein, ein Totenwald hebt sich über dem Grün mit den ersten gelben Herbsttupfern ab. Am Gletschersee angekommen steige ich aus meinen Schuhen und kühle meine Füße kurz im Eiswasser. Die patagonische Sonne malt sich in unsere Haut, so wie zwei Nächte zuvor sich die Flöhe auf meinem Körper verewigt haben.

Sonnenpause am Gletschersee

Auch der vorletzte Morgen auf argentinischem Boden strahlt aus allen Knopflöchern, wir checken spät aus, erhalten das Geld für die erste Nacht zurück und gehen frühstücken: Kaffee und Halbmonde, so werden hier Croissants genannt. Die Zeit bis zur Busabfahrt geht nur langsam um. Am Busbahnhof treffen wir auf bekannte Gesichter, Patagonien erstreckt sich zwar über tausende Quadratkilometer, doch irgendwie trifft man immer wieder auf dieselben Touristen. Gegen Nachmittag kommen wir dann in El Calafate an, scheinbar belebter als El Chaltén, zumindest tummeln sich hier auf der Hauptstraße viele Familien und Backpacker. Wir streunen etwas ziellos durch das Städtchen, stolpern in jedes zweite Souvenir-Geschäft, in denen sich die meisten Dinge wiederholen. Doch gleichzeitig springt uns die Kreativität der Argentinier entgegen, was den unnötigen Kram anbelangt, irgendwie ist alles bunter, ausgetüftelter: Lavendelhausschuhe zum Erwärmen, faltbare, neonfarbene Mate-Gefäße, aufwendig geklebte Postkarten. In Argentinien darf natürlich auch ein ordentliches Rindersteak nicht fehlen, nicht für mich, sondern für Max. Ich begnüge mich mit echt argentinischer Pizza und einer Pinguinkaraffe voll Wein.
Die Reise zurück nach Chile ist lang, nach einem Frühstück mit schwarz gefärbtem Wasser und Zuckeraufstrich, der sich als Marmelade tarnt, laufen wir zum Busbahnhof. Wie oft auf unserer Reise sind wir von Deutschen umgeben. Wir fahren und fahren, die Landschaft zieht an uns vorbei, viel Veränderung lässt sich nicht erkennen. Kurz vor dem Grenzübergang durchqueren wir ein kleines Grubenarbeiterdorf, dessen Häuser wie von Wind und Sonne abgewetzt dastehen. Das Ausreisen raubt viel Zeit, wir sind schließlich mit einem ganzen Reisebus unterwegs, doch noch länger dauert die Einreise nach Chile, ein paar Kilometer weiter. da das Gepäck ausgeladen und durch den Zoll muss. Max’ Salami bleibt leider in Argentinien, die darf nicht mit nach Chile. Nach einer unendlich langen Fahrt kommen wir in Puerto Natales an, lassen uns dort am Seeufer noch einmal den patagonischen Wind um die Nase wehen, essen ein Calafate-Eis und fahren dann weiter nach Punta Arenas. Auf dem Weg dorthin zeichnet die Abendsonne skurrile Kontraste in die gräsergüldenen Hügel, in denen sich Tarnschafe verstecken und das Wasserblau unglaublich tiefgründig erscheint.

Auch wenn wir ins Flugzeug steigen, unsere Reise ist noch nicht zu Ende. Wir nehmen zwar Abschied vom rauen Ende der Welt, aber Patagonien verlassen wir noch nicht wirklich. Wir steigen am Zwischenstopp in Puerto Montt aus, wo uns tiefhängende Wolken in Empfang nehmen. Bloß schnell weg hier. Ancud auf der Insel Chiloé ist unser nächstes Ziel. Bei Pargua fährt der Bus auf die hauseigene, knallgelbe Fähre und wir setzen über. Mittlerweile ist der Himmel aufgeklart und wir stürmen die Reling, oder der Wind uns? An Land grinst uns dann noch ein kleiner Seelöwe entgegen und kurze Zeit später landen wir dann im Fischerdorf Ancud, früher Haupthafen für Spanier, Niederländer und Briten. Unser Hostel liegt direkt am Meer, die Sonne, ganz ungewöhnlich für das Inselwetter, lockt uns in die kleinen, teils steil ansteigenden oder wahlweise abfallenden Straßen, die gesäumt von kleinen, bunten, mit Holzschindeln gedeckten und verkleideten Häuschen Kurven schlagen. Auch hier bestimmt der Wind die Höhe der Häuser. Hoch oben auf der Anhöhe stehen noch die Überreste einer Festung, während im Zentrum ein kleines Fischerlokal mit ausschließlich männlicher Besatzung Meeresgetier und andere Leckereien kredenzt, darunter auch curanto, ein lokaler Muschel-Fleisch-Kartoffel-Eintopf, ursprünglich in der Erde mit heißen Steinen gegart, an den ich mich leider aufgrund des Fleisches nicht herantraue.
Ich gehe früh ins Bett, da es mir erstens nicht sonderlich gut geht, irgendwo habe ich mir eine kleine, fiese Erkältung eingefangen, und zweitens der Wecker morgen um 5 Uhr klingen wird. Zusammen mit Janina und Jürgen aus München nehmen wir den ersten Bus um 6.45 Uhr nach Pumillahue, von dort aus wollen wir zu den Islotes de Puñihuil, auf denen Magellan- und Humboldt-Pinguine hausen und um die herum zu dieser Jahreszeit auch Blauwale kalben. Noch ist es finstere Nacht und man könnte meinen, wir seien die einzigen Menschen auf dieser Welt, nur unsere Stimmen verdrängen Nacht und Müdigkeit. Der Busbahnhof „Mar Brava“ liegt stockdunkel vor uns, so recht trauen wir dem Ganzen noch nicht. Aber pünktlich werden die Lichter eines Busses angeschmissen, der auf uns zurattert. Recht schnell zeichnen sich die haushohen Büsche gegen den frühmorgendlichen Himmel ab. Innerhalb von 40 Minuten ist es hell und wir stehen auf der Straße, eigentlich sind es noch zwei Kilometer Fußmarsch bis zum Strand, doch weit kommen wir nicht. Ein anderer Bus hält neben uns und der Fahrer chauffiert uns kostenlos bis auf den Strand. Drei Stunden müssen wir noch warten, bis die ersten Fischerboote rausfahren. 

Wilde Farben und Formen an der Westküste Chiloés

Es zieht sich zu, wird ungemütlich feucht. Wir stellen uns unter, nach einiger Zeit kommt ein olivfarbener VW-Bus auf den Strand gefahren, ein Pärchen steigt aus, ebenfalls deutschsprachig, sie wollen Wale sehen. Doch ihr angehauener Fischer mit wettergegerbtem Gesicht meint, der Wellengang sei zu stark und das Wetter zu schlecht, als dass die Wale an die Oberfläche kommen würden. Über unseren Köpfen tut sich langsam etwas, das erste Restaurant öffnet. Da freuen wir usn sogar über heißen Instant-Milchkaffee. Langsam kommt die Sonne raus. Aus den angepeilten 10.30 Uhr wird schnell 11.45 Uhr, so ist das hier mit der chilenischen Zeitmessung nunmal. Auf einem aberwitzigen Gestellt werden wir zur Titanic III gefahren, die bereits in den Wellen schaukelt. Nach ein paar Startschwierigkeiten steuern wir die kleinen, vorgelagerten Inselchen an, sehen die noch verbliebenen Pinguine, tollpatschige Gänse, die aufgrund ihrer Statur nicht fliegen können, einen Fischotter, der schnellstmöglich verschwindet, posierende Kormorane und einen faulenzenden Seelöwen. Wieder zurück an Land überlegen wir eine Weile, der einzige Bus würde erst um 16.30 Uhr zurückfahren. Wir sprechen ein paar der Touristen an, bis uns ein frisch vermähltes Pärchen auf Hochzeitsreise uns mitnimmt, zwar nicht bis nach Ancud, aber immerhin bis zur letzten großen Kreuzung. Vergeblich versuchen wir, jemanden dazu zu bewegen, uns mitzunehmen, also wandern wir und wandern wir, naschen Brombeeren am Straßenrand. Ganz unverhofft hält ein Jeep neben uns, dessen Fahrer uns auf der Ladefläche bis vors Hostel fährt. Nach einer kurzen Pause im Wohnzimmer mit Meeresblick bessern wir unser Geschichtswissen noch im Regionalmuseum auf und fahren dann weiter nach Castro, an der Ostküste der mystischen Insel. Dort ist es auf den ersten Blick vorbei mit der Gemütlichkeit, großes Gedränge, viele Menschen. Aber in unserem Hostel geht es glücklicherweise sehr viel ruhiger zu. Es steht auf Stelzen wie viele der Häuser hier. Es ist klein und holzig-warm, im Ofen brennen Holzscheide, die Decken sind niedrig, wie für uns gemacht. Die Betten sind mit Daunendecken ausstaffiert und zusätzlich gibt es noch eine Wolldecke, der man die Genügsamkeit der Schafe noch ansehen kann. Ein kleiner Abendspaziergang und dann schlafen. Ich weiß nicht, ob meine Müdigkeit von der Erkältung herrührt oder ob es nicht vielmehr eine sich langsam einstellende Reisemüdigkeit ist.

Das Frühstück mit Blick auf das schwindende Meer gibt mir ein bisschen Kraft, wir fahren mit dem Bus nach Curaco de Vélez, eine winzige Ortschaft, in der eine der berühmten Holzkirchen steht, die Teil des UNESCO-Weltkulturerbe ist. 

Kirche von Curaco de Vélez
Leider ist sie verschlossen und auch sonst ist es in dem beschaulichen Dorf sehr ruhig, die touristische Hauptsaison ist vorbei und selbst das Austernrestaurant hat geschlossen. Schade. Wir steigen in den nächsten Bus, der uns bis nach Achao bringt, hier steht die älteste Holzkirche von Chiloé. Ansonsten plätschert das Leben hier sehr gemütlich vor sich hin. Erst auf dem Rückweg in Dalcahue sehen wir mehr als drei Menschen zusammen stehen. In einem auf Holzstelzen über dem Wasser schwebenden Restaurant kochen die hiesigen Frauen deftige Mahlzeiten, frischer Lachs kommt auf meinen Teller. So lässt es sich leben. Doch mein Kopf summt immer stärker, ich sehne mich nach einem warmen Bett. Noch einmal mit Meeresgarten frühstücken, noch einmal die steilen Straßen nach oben wandern, unser heutiges Ziel liegt außerhalb des Stadtzentrums, wir laufen und laufen, glauben schon fast nicht mehr daran und doch das Museum für Moderne Kunst gibt es wirklich. Lokale Künstler haben hier eine Plattform. Auch Castro hat eine farbenfrohe Kirche, die wir von innen betrachten können, alles sehr holzig. Generell ist Holz hier der Hauptrohstoff – man sieht ihn nicht nur in der Architektur der Häuser, sondern riecht es auf den Straßen… Ein nettes Fleckchen.