Montag, 23. Juni 2014

Mitten im Nirgendwo

Wellenwildfang an der Nordküste Rapa Nuis

Es sei noch einmal Mai. Zweieinhalb Wochen noch in Chile. Gerade bin ich in meiner alten WG hängen geblieben, draußen schüttet es in herbstlichen Strömen. Der Sushi-Lieferant badet deswegen in unserem Mitleid, denn erst nach einer Stunde klingelt er an der Tür. Er hat sich verfahren und dann hilflos gesucht, bis er endlich durchweicht zu uns gefunden hat. Das Sushi mundet, es kommt natürlich nicht gegen den Tokyoter Fischmarkt an, aber schlecht ist es nicht. Langsam muss ich dann aber doch aufbrechen, der Bus fährt um 23 Uhr mit Hauptstadtrichtung. Schnell nach Hause, die letzten überlebenswichtigen Dinge in den Rucksack packen, Rita abholen, mit der micro zum Busbahnhof und durch die Nacht fahren. Draußen ist es ungemütlich, die Ledersitze der Busgesellschaft sind zwar nicht kuschlig, dennoch erträglich. Es ist noch dunkel, als wir in Santiago ankommen, der Morgen ergraut erst am Flughafen. Ach, eine letzte Reise vor der Rückkehr. Da steht er auch schon angeschlagen: 9.05 Uhr, Osterinsel. Sechs Stunden Flug, mehr als 3700 Kilometer vom chilenischen Festland entfernt liegt dieses winzige Eiland. Ein zuvor nicht existenter Traum geht gerade in Erfüllung, nicht einen Gedanken habe ich bislang daran verschwendet, dem Reiseführerzusatz (Chile & Osterinsel) Beachtung zu schenken. Ganz plötzlich keimte die Schnapsidee und auch ganz plötzlich saßen wir im LAN-Büro, um die Flugtickets zu kaufen. Das Flugzeug ist voll, hauptsächlich gut betuchte Touristen, nur wenige Insulaner auf dem Heimweg. Neben mir sitzt eine ältere Festland-Chilenin, die es vor 23 Jahren auf die Insel verschlagen hat und für Nichts in der Welt zurückgehen würde. Es soll mir ähnlich ergehen, nur leider werde ich dieses Paradies wieder verlassen müssen.

Im Landeanflug erahne ich, wie klein und abgelegen diese Insel ist. Wir landen, das einzige Flugzeug für den heutigen Tag. Gegen eine feucht-warme Wand laufe ich beim Heraustreten aus dem Flugzeugbauch. Um uns herum ist es grün, ich eratme das Meer, weit ist es nicht. Im hölzernen Flughafengebäude werden wir bereits von Oscar erwartet, durch die gläserne Schiebetür wieder hinaus, eine leuchtend gelbe Blumenkette um den Hals gelegt. Das Gepäck kommt in den Geländewagen, eine kurze Rundfahrt durch den Ort soll uns einen ersten Überblick verschaffen, dann endet unsere Fahrt im Hostel Kona Tau. Ob es die Flugstunden oder das feucht-warme Klima ist, wir wissen es nicht, doch sind wir erledigt, kuscheln uns in unsere Betten und schlafen eine Weile. Das Aufstehen am späten Nachmittag fällt schwer, doch viel Zeit bleibt uns in diesem Paradies leider nicht, also ziehen wir los, streunen durch die Straßen, entdecken bereits die ersten moai-Statuen und wollen jetzt doch mehr wissen. So begeben wir uns auf die Suche nach dem einzigen Museum der Insel. Es liegt ein wenig abseits, die Insulaner, so stellen wir fest, zeigen sich zwar gerne oberkörperfrei, doch nicht allzu aufgeschlossen. Iorana, mehr können wir nicht auf Rapa Nui sagen, schade, denn die hiesige Sprache hat einen wunderschönen Klang, da schlägt das Linguistenherz gleich höher. Also müssen wir auf unser chilenisch gefärbtes Spanisch zurückgreifen und werden daraufhin auch nur mit richtungsweisenden Handbewegungen bedacht. Etwa eine Stunde vor Schließung stehen wir vor dem modernen Bau des von einem Deutschen gegründeten Museums. Sebastian Englert, zunächst Mönch des Kapuzinerordens, Geistlicher während des ersten Weltkrieges, der dann Chiles Süden und die indigenen Sprachen erkundete. Wahrscheinlich hat ihn irgendwann das Inselfieber gepackt und sich deswegen auf die Kultur und Sprache Rapa Nuis konzentriert. Einen Teil seiner Arbeit durchforsten wir also im gleichnamigen Museum. Doch wie auch alle anderen Wissenschaftler konnte dieser Mann das ein oder andere Geheimnis der Insel nicht lüften, zwar erfahren wir viel über Riten und Traditionen, über den Bau von inseltypischen Kanus, die originäre Flora und Fauna, doch was die Riesen der Insel betrifft, die maoi-Statuen, bleiben Fragen. Mit vollem Kopf und neuem Wissen bewaffnet taumeln wir hinaus, blicken aufs Meer und bemerken unsere grummelnden Mägen. Auch wenn es ein wenig edel und teuer daherkommt, lassen wir uns im Te Moana nieder und starren, passend zum Restaurantnamen, auf das tiefe Blau des Ozeans.

Das Leben ist hart und ungerecht, zumeist


Michelada und Guayaba-Saft im Sonnenuntergang, ein großartiges Fischfilet dazu violettes Süßkartoffel-Püree und frisches Gemüse in Kokossoße. Und weil es noch nicht vulkanisch genug hier ist, lassen wir uns den Schokoladen-Vulkan bringen. Direkt neben uns lässt der Pazifik seine Wellen zerschellen. Im Abendlicht beobachten wir Surfer, die wie wartende Wale ihre Welle herbeisehnen und sich dann behände erheben, um sich der Wasserkraft zu bemächtigen. Nur ungerne verlassen wir unseren Ausblick, doch der Wind frischt auf und die Nacht hüllt uns bereits ein. Gegenüber des winzigen Hafens von Hanga Roa erstreckt sich ein Fußballfeld, auf das die einzigen Flutlichtstrahler der Insel gerichtet sind und auf dem jeden Abend Trikots verschwitzt werden. Es ist also nicht verwunderlich, dass der Großteil der Menschen hier gut durchtrainiert über die Insel spaziert. Dazu das große Statuenhafte der polynesischen Wurzeln, da könnte man sich glatt verlieben, und das ist erst das Äußerliche.

Postkartenwürdiges Sonnengold

Am nächsten Morgen erkunden wir noch ein wenig den einzigen Ort auf der Insel, dann wollen wir hinauf auf einen der ältesten Vulkane -  den Rano Kau, der zu der Orongo-Kultstätte führt. Immer an der Küste entlang entdecken wir die Ana Kai Tangata, eine Höhle auf Meeresniveau. An den Wänden lassen sich Manutara-Vögel erahnen, doch die Witterung hat seit Jahrhunderten dafür gesorgt, dass die Wandmalereien langsam verschwinden. Das schwarze Vulkangestein und das Tiefblau des Pazifiks stehen im Kontrast zum grünen Inselinneren. Im Manavai-Garten stehen Bäume, Sträucher und andere Pflanzen von einer hüfthohen Steinmauer umringt, damit sich die Feuchtigkeit besser hält. Durch einen der wenigen Inselwälder wandern wir nach oben, wirklich hoch gelegen ist der erloschene Vulkan nicht, doch die Hitze bringt uns zum Schwitzen.

Der Kratersee des erloschenen Rano Kau

Hibiskus, Eukalyptus, Bougainville, Orchideen und allerlei andere mir fremde Pflanzen säumen den Weg, das wilde Gras verleibt sich die menschlichen Spuren ein, hier ein umgestürztes Schild, dort ein zugewucherter Weg. Nur wenige wandern zum Kratersee, die meisten fahren mit dem Auto hoch. Der Blick auf die ganze Insel zeigt, wie vielfältig sie doch ist, das grün changiert, die Hügelkuppen sind dort hinten rundlicher, erinnern mich ein wenig an die rundgeschnittenen Friedhofsbäume im patagonischen Punta Arenas. Wir sind alleine hier oben, kein Touristenansturm. Ruhe.


Doch ganz ohne Touristen-Programm kommen wir nicht aus, am Abend entscheiden wir uns dazu, das kulturelle Kai-Kai-Ballett zu begutachten. Spärlich bekleidete Männer mit Trommeln, Ukulele und anderen Zupfinstrumenten nehmen im hinteren Teil der Bühne Platz, der Kopfschmuck ist opulenter als das Untenrum. Einige Frauen in langen Hawaii-Kleidern stimmen die ersten Gesänge an, es wirkt fröhlich-melancholisch. Und dann kommen die ersten Tänzer auf die Bühne. Die Männer, allesamt tätowiert, tragen einen Bastrock und auch um ihre Waden schlingt sich Pflanzengewebe. Die Frauen dagegen tragen Röcke aus Federn. Die Körper bewegen sich fließend zur Musik, ganz anders als die Festlandchilenen wissen die Insulaner ihre Hüfte einzusetzen, ihren ganzen Körper, als würden sie eins sein mit ihrer Umgebung. Ob das alles noch mit Tradition und Natürlichkeit zu tun hat, oder ob es nicht nur noch ausschließlich der touristischen Unterhaltung dient, es lässt sich nur schwer sagen. Die tanzenden Körper erzählen Geschichten ohne Untertitel, es lässt sich oft erahnen, worum es geht, doch auch hier wird Kultur bewahrt, nicht ganz preis gegeben. Und ein wenig vorgeführt werden tanzwillige Touristen dann glücklicherweise auch. Auf der Bühne bewegen sich die meisten eher hölzern und wirken neben den Tänzern wie Witzfiguren. Ein Glück, dass ich mich hinter meiner Kamera verstecken kann und mich keiner der halbnackten Männer ins Rampenlicht zerrt. Da genieße ich doch lieber die Fremdscham, die mich beim Anblick der Peinlichkeit überkommt. Mittlerweile hat sich die Nacht auf die Insel gelegt, nur wenige Straßenlaternen helfen beim Nachhauseweg. Der Mond steht voll am Himmel, es ist noch ruhiger als am Tage. Von der Gartenterrasse aus sehe ich sogar das silbrig-plätschernde Meer, der schwarze Horizont verspricht einen stillen Schlaf.

Am nächsten Morgen begeben wir uns ans andere Ende der Insel, wir ziehen um ins Hostel Petero Atamu, eigentlich wollten wir wegen des günstigeren Übernachtungspreises bereits anfangs hierhin, doch es war bis zum heutigen Tage ausgebucht. Erst als uns eine Ladenbesitzerin hilft, finden wir die versteckte Herberge. Wie überall auf der Insel laufen hier ziemlich viele Hühner herum. Ich würde meinen, es lebten mehr gefiederte Tiere auf Rapa Nui als Menschen – und da würde ich sogar die 60 000 Touristen pro Jahr mitzählen. Heute geht es endlich unter Wasser, vorher ein leichtes Mittagessen, doch das Dessert im Café Caramelo mitsamt frischem Mangosaft liegt uns vor dem Tauchgang doch ein wenig schwer im Magen. In der Tauchbasis Mike Rapu erwarten uns Neoprenanzüge, eine bereits vorbereitete Tauchausrüstung sowie Bruno und der namenlose Argentinier mit den schönen Augen. Eine kurze Einführung – neben mir sitzen drei Tauchneulinge, für mich ein Auffrischen, denn es ist bereits vier Jahre her seit meinem letzten Tauchgang in der kolumbianischen Karibik. Heute wird mir alles abgenommen, das Ablassen der Luft, das Austarieren unter Wasser. Doch erst einmal fahren wir mit dem kleinen Boot auf See, zehn Minuten vom Hafen entfernt liegt ein kleines Korallenriff, um Rapa Nui herum befindet sich nach dem australischen Great Barrier Rief das zweitgrößte lebende Korallenriff der Welt. Rückwärtsrolle vom Bootsrand hinein in den Pazifik, selbst da wird uns geholfen. Während ich mit Bruno abtauche, beschäftigt sich Rita mit den stahlblauen Augen des Argentiniers und so tauchen wir getrennte Wege. Tief hinunter geht es nicht, 12 bis 15 Meter. Doch auch hier ist es bereits bunt und geht auch so zu: Langnasen-Pinzettenfische streiten sich mit Doktorfischen, Falterfischen und anderen farbenfrohen Gesellen um die Überreste eines Seeigels. Hie und da schweben Trompetenfische kopfüber über dem Korallenriff, in einer dunklen Höhle versteckt sich eine giftige Abotts-Muräne, im sandigen Untergrund ein Fasanbutt. Mitten im Gewusel schwimmt mir ein Perlhuhn-Kugelfisch vor die Maske, und auch ein Skorpionsfisch lässt sich blicken, eine Muräne verschwindet ebenso schnell, wie wir sie erblickt haben. Nur der auch hier heimische Galapagoshai hat sich nicht zeigen wollen, vielleicht auch besser so. Die halbe Stunde unter Wasser geht schneller um, als mir lieb ist, doch der Wunsch, das Tauchen wieder ernster zu nehmen, ist im flachen Blau entsprungen. Immerhin schaukeln wir noch eine halbe Stunde auf dem Boot vor der Steilküste Rapa Nuis, bevor das Schwanken der Wellen wieder durch festen Boden unter den Füßen ersetzt wird.
Tiefes Meeresblau und neugierige Fische

Eigentlich sind wir erledigt, doch wir müssen noch das Auto an unsere ersten Bleibe abholen, damit wir morgen früh pünktlich zum Sonnenaufgang am anderen Ende der Insel sind. Also raffen wir uns nach zu Hause gekochten Nudeln auf, bei deren Kochvorgang beinahe die hauseigene Katze mit im Kochtopf gelandet wäre, so sehr hat sie uns genervt (ein Glück für sie sind wir beide keine Fleischesser), spazieren durch das abendliche Hanga Roa, einmal quer durch den Ort, nur um dann die Information zu erhalten, dass das uns zugesagte Auto momentan nicht verfügbar ist. Aber morgen früh, ganz sicher. Chilenische Zuverlässigkeit also auch mitten im Nirgendwo. Großartig. Dabei haben wir unserer zweiten Möglichkeit bereits abgesagt.
Am nächsten Morgen werden wir angerufen, das Auto sei nicht da, aber für den darauffolgenden Tag ganz bestimmt. Ja, sicher. Gereizt und bereits mit belegtem Festlandvollkornbrot im Gepäck versuchen wir unser Glück bei einer hoffentlich seriösen Autovermietung. Und siehe da, wir müssen nur eine halbe Stunde (im etwas zu großen Massage-Sessel) warten und dann steht uns ein kleiner, roter Geländewagen zur Verfügung. Da Rita ihren Führerschein in Deutschland gelassen hat, werde ich mich wohl hinter das Steuer des Suzuki klemmen, der erste Japaner. Die Straßen sind mindestens genauso ruhig wie das gesamte Inselleben. Auf der einzigen Küstenstraße ist viel Platz und mit 40 Stundenkilometern (Höchstgeschwindigkeit) kurven wir durch die raue Natur. Laut Karte sind wir bereits an den ersten moai-Statuen vorbeigefahren, doch das soll uns nicht stören. Wir stellen das Auto am Straßenrand ab, wenn es uns beliebt, klettern über Vulkangestein zu den Ecken, die uns rufen, halten hier, halten dort. Irgendwann biegen wir links ab, ins Inselinnere, wohlgemerkt bis hierher die einzige Möglichkeit, abzubiegen und kommen am Rano Raraku kaum noch aus dem Staunen heraus. An diesem Vulkan schauen allerorts maoi in die himmlische Ferne, nicht abgehoben, von oben herab, sondern mit einer Weitsicht aufs hinter ihnen liegende Leben. Trotz der zahlreichen Touristen hier birgt der Ort Ruhe und Gemütlichkeit, zugleich Großes. In jedem Winkel steht oder liegt ein moai, im Vulkangestein warten halb herausgearbeitete moai auf ihr Auferstehen. Doch das wird niemals stattfinden, ein ewig währender Schlaf steht ihnen bevor. Alles scheint hier still zu stehen, die unerklärliche Geschichte der Insel lacht uns ein wenig hämisch ins Gesicht, alles können wir Menschen denn dann doch nicht entziffern und verstehen. Gut so.

moai am Rano Raraku

Irgendwo steht eine einsame Palme, die Grüntöne haben sich verändert, im Osten ragt die Halbinsel Poike empor, der älteste Vulkan dieser Insel. Die Meeresluft strömt zum weit geöffneten Fenster hinein, und da, zu unserer Rechten stehen 15 moai nebeneinander aufgereiht, einer der wenigen restaurierten Orte: Tongariki. Dem Tsunami im Jahre 1960 konnten selbst die schweren Steinkolosse nicht standhalten und erst Jahrzehnte später, in den 1990er Jahren wurde die ahu, die Zeremonie-Plattform, wieder mit den ins Inselinnere gerichtete Ahnen bestükt. Gerade sind zwei Busse voller Touristen angekommen, wir nehmen uns Zeit und essen mit Blick auf das Meer und die Statuen unsere Brote, bis wir tatsächlich für kurze Zeit ganz alleine sind.

moai-Interpretation

Über Schotterpisten im Schritttempo geht es zum einzigen Strand der Insel. Doch zuvor machen wir Halt am Bauchnabel der Welt, Te Pito O Te Henua, ein runder Stein am Pazifik, an dem wir mana sammeln, Kraft. Der Stein ist warm und auch wenn es esoterisch klingen mag, es herrscht ein Frieden an diesem Ort, der sich leicht aufs Innere überträgt. Mit aufgelegten Händen sitzen wir hier und vergessen die Zeit, bis eine Gruppe Chilenen kommt und uns mit ironischen Blicken verscheucht. Aber wir warten noch einmal, bis sie wieder verschwunden sind und der Frieden zurückgekehrt ist. Ein paar Kilometer weiter liegt der Anakena-Strand, weißer Sandstrand, ein Palmenwäldchen, moai-Statuen, die Bucht lädt zum Baden ein. Und das tun wir auch ausgiebig, das Pazifikwasser ist wärmer als erwartet und damit perfekt für diesen luftigen Tag. Wir plätschern dahin, paddeln, schwimmen, lassen uns treiben. Herrlich.
Da der Mensch ein Gewohnheitstier ist und die michelada einfach sehr gut dort geschmeckt hat, laufen wir später noch einmal zum Te Moana und genießen das Rauchen der nächtlichen tief-schwarzen Wellen. Um uns scharen sich die Kellner, viel los scheint nicht zu sein. Mit Felipe kommen wir ins Gespräch, er ist vor anderthalb Jahren wegen seiner großen Liebe auf die Insel gekommen, welche mittlerweile allerdings erloschen ist. Die Geschichten der Festlandchilenen ähneln sich, Gestrandete aus einem anderen Leben, die auf Rapa Nui das einfache Leben für sich entdeckt haben und anscheinend auch recht gutes Marihuana anbauen. Erst wollen wir zu einer Inselparty, doch die Müdigkeit übermannt mich fast. Wir schauen am Veranstaltungsort vorbei, setzen uns auf eine der dunklen Bänke und sehen, wer so alles hineingeht. So richtig verlockend ist es nicht, also bleiben wir weiterhin draußen sitzen. Irgendwann traut sich ein junger Insulaner zu uns, erzählt uns, dass er der König der Insel sei, er das schnellste Pferd namens Pegasus besäße, Sänger und Surfer sei,... Nach einem zweiten Annäherungsversuch seinerseits verabschieden wir uns und laufen zurück zum Hostel. Kurz bevor wir schlafen gehen, meldet sich Felipe und wir ziehen doch noch einmal los...
Wir kommen zwar erst sehr spät im Bett, und doch schaffen wir es zum sonntäglichen Gottesdienst in der einzigen Kirche der Insel. Um 9 Uhr versammeln sich hier Einwohner und Touristen, das Gebäude platzt beinahe aus allen Nähten, auch wir stehen im hinteren Teil, verfolgen den Trubel und unser Blicke bleiben vor allem an den kleinen herumtollenden Kindern hängen. Im Wechsel wird auf Spanisch gebetet und auf Rapa Nui gesungen, anstatt in die Orgeltasten zu hauen, zupft und trommelt die ältere Belegung an ihren Klampfen oder auf ihren Trommeln herum. Geräuschig bunt. Sehr anders, irgendwie befremdlich dieser Synkretismus. Wir geben das Auto ab und wandern dann auf eigene Faust von Hanga Roa aus in Richtung Norden. Nicht nur in der Kirche, sondern ebenso auf dem Friedhof mit Meeresblick mischt sich Inselkult(ur) mit christlichem Glauben.

Grab auf dem Inselfriedhof


Immer an der Küste entlang, den Weg lassen wir schnell rechts liegen und schnuppern zumindest so ein wenig Abenteuerluft. Zerklüftete Felsen, es geht steil hinab, das wilde Gras weht im Küstenwind, einsame Korallenbäume tupfen rot-orangefarbene Kleckse in die Landschaft und Flechte und Moose zeichnen ihre ganz eigenen Malereien auf das Vulkangestein. Als wir nach Pferdebekanntschaften irgendwann wieder auf einen befestigten Weg stoßen, hält neben uns ein Auto, dessen Fahrer uns bestätigt, dass es zu unserem Ziel nicht mehr weit ist: Wir wollen die Ana Kagenga sehen. Der Höhleneingang ist so versteckt, dass wir ihn ohne die Hilfe der Chilenen wohl niemals gefunden hätten und uns wahrscheinlich auch nicht hinab getraut hätten. Ein Loch im Boden, mehr ist da nicht. Es ist eng und stockdunkel, wir lassen das Tageslicht hinter uns, eine Hand immer am Kopf, damit wir uns nicht stoßen. Langsam weicht das mulmige Gefühl und auch im Inneren der Vulkaninsel wird es geräumiger, wir können aufrecht stehen. Rechts und links vor uns öffnen sich zwei Fenster mit Blick auf den wilden Pazifik, daher der Namenszusatz „Zwei-Fenster-Höhle“. Raus geht es deutlich schneller als rein und unverletzt stehen wir wieder auf der Insel. Wir sehen dem Wellenspiel noch eine Weile zu, dann wandern wir langsam zurück. Der letzte Abend und damit die letzte Möglichkeit, den Sonnenuntergang am Ahu Tahai zu betrachten. Wir schaffen es tatsächlich noch, setzen uns auf eine Anhöhe, so manch ein Tourist stößt zum Schauspiel dazu, aber auch Insulaner gesellen sich hier zusammen, spielen Musik, tanzen... Und dann versinkt sie im Meer: die Osterinselsonne. Die ganzen Tage über war sie nicht so erbarmungslos wie auf dem Festland, das Licht war angenehmer eher golden als gleißend. Die Himmelsfarben verwaschen langsam. Später am Abend setzen wir uns noch mit Felipe an die kleine Bucht, trinken ein Bier mit Wellenklang und starren dann ewig in den überfluteten Sternenhimmel. Die Milchstraße führt mich zu einer wohligen Einsamkeit, dieses Gefühl, nur ein winziger Krumen auf der Erde zu sein. Und doch spüre ich eine innere Freiheit. Ach, wenn wir nur morgen nicht zurück in diese andere, so hektische Realität müssten. Bleiben. Das wäre etwas.


Doch der nächste Morgen kommt und mit ihm der Abschied. Noch ein Mangosaft und einmal Meergucken, dann wartet das Flugzeug auf uns, nun gut, wir warten aufs Flugzeug. Mit einer Stunde Verspätung verlassen wir Rapa Nui. Iorana.

Montag, 2. Juni 2014

Die Ruhe nach dem Sturm

Der Besuch ist weg, die Realität wieder da, die Tage werden kürzer, Winterzeit. So langsam klopft der Herbst an die Tür, es wird kalt und feucht. Es fällt mir schwer aus dem Bett zu kriechen, die Dusche bequemt sich kaum, warm zu werden. Es scheint, als würden die Tage Trauer tragen, in Tristheit und Einsamkeit gewandte Stunden, aus denen gefühlt ganze Wochen werden. Winterblues im April? Ich muss raus, raus aus dem Bett, rein in die Welt. Die Uni hilft da herzlich wenig, es geht nur träge voran.
Tage, aus denen Wochen wurden. Und in diesen Wochen hat sich dann auch mein Wunsch konkretisiert, auszuziehen. Nicht wegen meiner Mitbewohner, einen großen Teil habe ich sehr ins Herz geschlossen, vielmehr geht es um die Umstände. Da sich angeblich nicht alle an die Besucherregeln halten, will der Hausbesitzer Überwachungskameras im und am Haus installieren, nicht zu unserer Sicherheit, sondern zur Überwachung eben. Das stößt mir ziemlich sauer auf. Mindestens genauso sauer wie sein Vorhaben, einen 12 Meter hohen Mobilfunkmasten in unseren Hinterhof zu stellen. Auch wenn nicht mehr viel Zeit bleibt, ich möchte weder gefilmt werden, noch hinterhältigen Strahlen ausgesetzt werden. Also halte ich Augen und Ohren offen. Tatsächlich eröffnet sich mir eine Möglichkeit, von der ich nicht zu träumen gewagt hätte: eine ganze Wohnung, nur für mich alleine, ich darf die Wohnung einer guten Freundin bewohnen, solange sie den Mai über in Deutschland ist. Stille. Eine ordentliche und saubere Küche, ein Balkon mit Aussicht auf die Stadt. Der Weg zur Uni ist nun ein wenig weiter, aber 20 Minuten Fußmarsch halten mich zumindest wach.

Eine Zugfahrt, die ist lustig...

Es ist viel zu tun, die letzten Prüfungen warten, aber glücklicherweise ebenso ein Wochenende in einem kleinen Dorf. Zusammen mit ein paar meiner ehemaligen Mitbewohnern steigen wir am 2. Mai, der hier Brückentag ist, mittags pünktlich in den orangefarbenen Zug. Vor der Diktatur war die Eisenbahn-Infrastruktur sehr viel ausgeprägter, mittlerweile gibt es nur noch vereinzelt Personenzüge. Mit Rucksäcken und Kartons bewaffnet bahnen wir uns den Weg zu den wenigen verbleibenden Sitzplätzen. Langsam ruckelt die volle Bahn durch die Landschaft. Araukarien strecken ihre Arme gen Himmel, zwischen dem immergrünen Nadelwald leuchten hier und da feuerrot gefärbte Laubbäume auf. Der Fluss Bíobio glänzt in der Herbstsonne. Wir schmieren Käsebrote und beobachten unsere Mitreisenden. Erst werden die Fahrkarten kontrolliert, dann werden uns abwechselnd Getränke, Nüsse, Sandwiches, Kaffee und noch so einiges mehr feilgeboten. Hinter uns spielen Kinder lautstark, obwohl, es sind eher ihre lautstarken elektronischen Geräte, auf denen sie spielen. Böse Blicke, selbst lästerliche Kommentare helfen da lange nicht weiter. Erst, als wir bereits fast in Laja ankommen, hat es sich ausgespielt.

Abendliche Stille

Am Endbahnhof stolpern wir in kleine Straßen, niedrige Häuser, ausgeblichene Farben. Rocío holt uns ab, gemeinsam stiefeln wir gut bepackt durch die Ortschaft und kommen dann an einem niedlichen, kleinen Reihenhäuschen an, das von Anfang an magisch auf mich wirkt. Die Wände sind dünn, alles wirkt so zart besaitet, friedlich. Mit unserem Besuch kommt natürlich ein bisschen Leben hinein, doch die Ruhe bleibt bestehen. Wir packen aus, kochen Nudeln und machen uns auf in den sich bereits verdunkelnden Abend, hinauf zum Wald. Die Tannennadeln färben den Waldboden in ein rostbraunes Rot, die kahlen Baumstämme recken sich in den wolkenverhangenen Himmel. Ein verlassener Spielplatz taucht im abendlichen Grau aus dem Nichts auf. Ein Karussell, Schaukeln, Wippen. Unsere Herzen springen beinahe aus unseren Kehlen. Ausgetobt spazieren wir zum See, der Mond spiegelt sich im schwarzen Nass wider, in der Luft hängt nebliger Geruch nach Brennholz. Trotz der Kälte zieht es uns ans Wasser, fast ins Wasser. Wieder im kleinen Reihenhäuschen zurück, machen wir sopaipillas und trinken dazu pisco sour, spielen Karten und reden bis in die Nacht hinein.

Am Samstagmorgen kommt der Großteil nur schwerlich aus den Federn, ich lese für meine bevorstehende Literaturprüfung und entscheide mich dann dafür, hier zu bleiben, während der Rest aufbricht – in Richtung Nationalpark. Irgendetwas hält mich in diesem Haus fest, die Ruhe überträgt sich langsam, ganz langsam auf meinen Gemütszustand. Gemeinsam mit Rocío bleibe ich also. Sie muss lernen ich lesen. Und dazwischen finden wir Zeit für Gespräche, für ein Mittagessen. Zeit. Am späten Nachmittag kommen Manuel, Lorena, Gabriela, Marie und Maëlys zurück und wir laufen zusammen nach San Rosendo, der Nachbarort. 

Über eine Brücke müssen wir gehen.

Die mit ihrem spärlichen Fußweg, in dem so manch eine Holzplanke fehlt, bedachte Brücke führt über den Fluss, in diesen Ort, der einem Zugfriedhof gleicht: rostige Gleise, eine quietschende Drehscheibe, halb eingestürzte Gebäude und überall alte, begehbare Waggons. Und wieder sorgt der Abendhimmel für dieses seltsame Gefühl der Heimeligkeit. Im Dunkeln laufen wir über die Brücke zurück, sitzen zu Hause wieder zusammen. Am Sonntagnachmittag nehme ich nach einem ausgiebigen Spaziergang etwas Ruhe mit.