Montag, 2. Juni 2014

Die Ruhe nach dem Sturm

Der Besuch ist weg, die Realität wieder da, die Tage werden kürzer, Winterzeit. So langsam klopft der Herbst an die Tür, es wird kalt und feucht. Es fällt mir schwer aus dem Bett zu kriechen, die Dusche bequemt sich kaum, warm zu werden. Es scheint, als würden die Tage Trauer tragen, in Tristheit und Einsamkeit gewandte Stunden, aus denen gefühlt ganze Wochen werden. Winterblues im April? Ich muss raus, raus aus dem Bett, rein in die Welt. Die Uni hilft da herzlich wenig, es geht nur träge voran.
Tage, aus denen Wochen wurden. Und in diesen Wochen hat sich dann auch mein Wunsch konkretisiert, auszuziehen. Nicht wegen meiner Mitbewohner, einen großen Teil habe ich sehr ins Herz geschlossen, vielmehr geht es um die Umstände. Da sich angeblich nicht alle an die Besucherregeln halten, will der Hausbesitzer Überwachungskameras im und am Haus installieren, nicht zu unserer Sicherheit, sondern zur Überwachung eben. Das stößt mir ziemlich sauer auf. Mindestens genauso sauer wie sein Vorhaben, einen 12 Meter hohen Mobilfunkmasten in unseren Hinterhof zu stellen. Auch wenn nicht mehr viel Zeit bleibt, ich möchte weder gefilmt werden, noch hinterhältigen Strahlen ausgesetzt werden. Also halte ich Augen und Ohren offen. Tatsächlich eröffnet sich mir eine Möglichkeit, von der ich nicht zu träumen gewagt hätte: eine ganze Wohnung, nur für mich alleine, ich darf die Wohnung einer guten Freundin bewohnen, solange sie den Mai über in Deutschland ist. Stille. Eine ordentliche und saubere Küche, ein Balkon mit Aussicht auf die Stadt. Der Weg zur Uni ist nun ein wenig weiter, aber 20 Minuten Fußmarsch halten mich zumindest wach.

Eine Zugfahrt, die ist lustig...

Es ist viel zu tun, die letzten Prüfungen warten, aber glücklicherweise ebenso ein Wochenende in einem kleinen Dorf. Zusammen mit ein paar meiner ehemaligen Mitbewohnern steigen wir am 2. Mai, der hier Brückentag ist, mittags pünktlich in den orangefarbenen Zug. Vor der Diktatur war die Eisenbahn-Infrastruktur sehr viel ausgeprägter, mittlerweile gibt es nur noch vereinzelt Personenzüge. Mit Rucksäcken und Kartons bewaffnet bahnen wir uns den Weg zu den wenigen verbleibenden Sitzplätzen. Langsam ruckelt die volle Bahn durch die Landschaft. Araukarien strecken ihre Arme gen Himmel, zwischen dem immergrünen Nadelwald leuchten hier und da feuerrot gefärbte Laubbäume auf. Der Fluss Bíobio glänzt in der Herbstsonne. Wir schmieren Käsebrote und beobachten unsere Mitreisenden. Erst werden die Fahrkarten kontrolliert, dann werden uns abwechselnd Getränke, Nüsse, Sandwiches, Kaffee und noch so einiges mehr feilgeboten. Hinter uns spielen Kinder lautstark, obwohl, es sind eher ihre lautstarken elektronischen Geräte, auf denen sie spielen. Böse Blicke, selbst lästerliche Kommentare helfen da lange nicht weiter. Erst, als wir bereits fast in Laja ankommen, hat es sich ausgespielt.

Abendliche Stille

Am Endbahnhof stolpern wir in kleine Straßen, niedrige Häuser, ausgeblichene Farben. Rocío holt uns ab, gemeinsam stiefeln wir gut bepackt durch die Ortschaft und kommen dann an einem niedlichen, kleinen Reihenhäuschen an, das von Anfang an magisch auf mich wirkt. Die Wände sind dünn, alles wirkt so zart besaitet, friedlich. Mit unserem Besuch kommt natürlich ein bisschen Leben hinein, doch die Ruhe bleibt bestehen. Wir packen aus, kochen Nudeln und machen uns auf in den sich bereits verdunkelnden Abend, hinauf zum Wald. Die Tannennadeln färben den Waldboden in ein rostbraunes Rot, die kahlen Baumstämme recken sich in den wolkenverhangenen Himmel. Ein verlassener Spielplatz taucht im abendlichen Grau aus dem Nichts auf. Ein Karussell, Schaukeln, Wippen. Unsere Herzen springen beinahe aus unseren Kehlen. Ausgetobt spazieren wir zum See, der Mond spiegelt sich im schwarzen Nass wider, in der Luft hängt nebliger Geruch nach Brennholz. Trotz der Kälte zieht es uns ans Wasser, fast ins Wasser. Wieder im kleinen Reihenhäuschen zurück, machen wir sopaipillas und trinken dazu pisco sour, spielen Karten und reden bis in die Nacht hinein.

Am Samstagmorgen kommt der Großteil nur schwerlich aus den Federn, ich lese für meine bevorstehende Literaturprüfung und entscheide mich dann dafür, hier zu bleiben, während der Rest aufbricht – in Richtung Nationalpark. Irgendetwas hält mich in diesem Haus fest, die Ruhe überträgt sich langsam, ganz langsam auf meinen Gemütszustand. Gemeinsam mit Rocío bleibe ich also. Sie muss lernen ich lesen. Und dazwischen finden wir Zeit für Gespräche, für ein Mittagessen. Zeit. Am späten Nachmittag kommen Manuel, Lorena, Gabriela, Marie und Maëlys zurück und wir laufen zusammen nach San Rosendo, der Nachbarort. 

Über eine Brücke müssen wir gehen.

Die mit ihrem spärlichen Fußweg, in dem so manch eine Holzplanke fehlt, bedachte Brücke führt über den Fluss, in diesen Ort, der einem Zugfriedhof gleicht: rostige Gleise, eine quietschende Drehscheibe, halb eingestürzte Gebäude und überall alte, begehbare Waggons. Und wieder sorgt der Abendhimmel für dieses seltsame Gefühl der Heimeligkeit. Im Dunkeln laufen wir über die Brücke zurück, sitzen zu Hause wieder zusammen. Am Sonntagnachmittag nehme ich nach einem ausgiebigen Spaziergang etwas Ruhe mit.



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