Samstag, 12. September 2009

De esta vez si se pasa

Ein letztes und ein erstes Mal



Ein letzter Montag, der bereits um halb fünf in der Frühe beginnt, ein letztes Mal aufstehen, bevor alle anderen auch nur im Traum daran denken zu erwachen… Ein letztes Mal morgens durch die noch recht leeren Straßen, Mädels in gekürzten Schul-Uniform-Röcken, Jungs in übergroßen abgetragenen Schul-Uniform-Anzügen, die ersten Sonnenstrahlen, streunende Hunde, halblackierte Autos, Schrottsammler, Staub vom Vortag, und da steht er vor mir, der überfüllte grasgrüne Alimentador, ich atme tief ein, die Luft ist bereits draußen schweißgeschwängert, eine innere Ruhe breitet sich in mir aus, ich sammle meine Kraft, projiziere sie auf die noch geschlossenen Türen, und dann, als diese sich öffnen, bricht alles aus mir heraus, ich erklimme die Stufen, hinauf und hinein, mein – wenn auch sehr beschränkter – Platz ist mir sicher. Umsteigen, der ganze Prozess wiederholt sich, nur mit noch mehr Willenskraft, noch mehr Mitstreitern, noch mehr Gedränge. Die mental gesammelte Kraft ist jedoch alsbald erschöpft. Genießen kann ich die Fahrt nicht. Nicht umsonst witzelt man hier, dass der man sich mit dem Erwerb eines Tickets für den Transmilenio den Eintritt ins billigste Bordell Bogotás beschaffen hat. Berührungen mit Menschen, an Stellen, bei denen man in jeder anderen Situation um sich schlagen würde (es sei denn, es handelt sich dann doch um gewollte Berührungen), Ausdünstungen, angespannte Muskeln, sich stapelnde Menschen, den warmen Atem der sich nebenquetschenden Mitfahrer. Zeitgleich, Sauna, Fitnessstudio, Bordell, Telefonzentrale, der perfekte Ort für Blind Dates (Mann und Frau, Rücken an Rücken, ein Hinterteil, das sich am anderen erfreut – was allerdings sehr selten auf Gegenseitigkeit beruht), und das alles für nur 1.500 Kolumbianische Pesos…
Das rollende Bordell führt mich ein letztes Mal entlang am Doll’s House und an einigen Wiskerias, ein Obdachloser, der sich einen Reifenmantel anzündet, um sich für den bevorstehenden Tag zu betäuben, Straßenfeger in knallroten Blaumännern, Bänker, Straßenverkäufer…
Ein letztes Mal die Zeit totschlagen, indem man in der Bücherei nach deutscher Literatur sucht, man stößt hier vornehmlich auf Goethe, aber auch Brecht, also zieht es mich in Richtung englischsprachiger Literatur, ich brauche etwas zu Zerstreuung, anspruchsvoll, aber eben nicht zu sehr, da gibt es schon ein paar. Ich könnte mich auch in einen der kleinen Räume setzen und mir einen Film ansehen oder aber wirklich arbeiten und Material für meinen Aufsatz suchen und lesen… Ein kurzes Treffen und mein Umzug ist besiegelt. Ein letztes Mal mit dem Transmilenio nach Hause, eine angenehme Fahrt, wäre da nicht der über und über tätowierte Kerl, Riesenlöcher in den Ohren, Sehnen und Muskeln, die sich unter seiner Haut hervorheben und ein enorm großer Mund, aus dem mir eine Wolke entgegenschlägt… Hhm, ich würde behaupten, dass ich schon lange nicht mehr in den Genuss dieses intensiven Geschmackserlebnis gekommen bin, Hubba Bubba Fancy Fruit, das trifft es wohl, und dieses Gekatschel, wunderschön, da hilft selbst die höchste Lautstärke meines iPods nicht. Zumindest gibt es hier keine akkordeonklimpernden Jungs und Mädchen, die von ihren Eltern zum Betteln gezwungen werden. Und da Busse, genauso wie Taxis hier noch eine Männerdomäne zu sein scheinen, ist dir Fahrweise auch etwas rasanter und man kommt ans Ziel. Mal schneller, mal weniger schnell. Aber was soll’s, die Sonne scheint, irgendwann kann ich raus (gut, an der Endhaltestelle, aber ich muss mein Leben ja nicht im Transmi verbringen). Und wieder hinein in den Exito, einer der riesigen Supermarkt-Ketten, man kriegt wirklich alles hier, denkt man oder frau zumindest, ich bin am Verzweifeln auf der Suche nach Hefe, Frischhefe, gut, die gibt es hier nicht, aber selbst Trockenhefe ist hier verdammt schwierig zu finden. Ich irre minutenlang durch die Gänge, Mehl, Backwaren, aber wo zum Henker ist die Hefe, niemand kann mir weiterhelfen (und ich weiß, wie Hefe auf Spanisch heißt), aber ich gebe nicht auf, denn heute Abend soll es Pizza geben, ein Abschieds-Pizza-Abend mit meinen Mädels. Und als ich quasi auf dem Boden herumkrieche, da sehe ich doch tatsächlich ein paar Döschen, die viel versprechend wirken, und ich werde nicht enttäuscht, schnell noch Pseudo-Mozzarella und Parmesan in den Einkaufskorb und ab zur Kasse. Ein Spaziergang durch „mein“ Viertel, noch rasch Gemüse und Obst erwerben und dann ein wenig ausruhen, die Ruhe genießen… Und dann bei cooler New-York-Style-Musik zusammen mit Caro den Pizzateig anfertigen und malträtieren, aber irgendwas stimmt nicht so ganz, der Teig will nicht so, wie ich es will, liegt höchstwahrscheinlich an der Höhe, in 2600 Metern Höhe einen vernünftigen Hefeteig zu machen ist nicht einfach, da wollen die kleinen Bakterien nicht so wie auf Meereshöhe… Ist zumindest unsere Erklärung. Dafür wird die Soße umso besser. Auch die Gradzahl ist nur abzuschätzen, Gasofen. Zum Kochen super, zum Backen eher suboptimal. Aber dieser Abend steht unter einem ganz besonderen Stern, aufgedreht, verrückt, und gleichzeitig malerisch schön, so sind wir zumindest. Erinnerungsfotos, und zwar ganz besondere, werden geschossen…







Meine Mädels



Caro(lina) Chaparro, studierte Sängerin, liebt es Lieder zwanzigmal hintereinander bei voller Lautstärke abzuspielen, ihre Kochkünste fotografisch festzuhalten, und mit Tenor Ignacio zu chatten.



Luz Stella Corredor, Mikrobiologin, die älteste unter uns, und auch die verrückteste, wischt gerne und oft die Wohnung, Lieblingsgetränk: kolumbianische Cola (und Roncito ist kein menschliches Wesen), für Scherze als auch tiefsinnige Gespräche zu haben.



Caro(lina) Rojas, Studentin und Lehrerin, verliert öfters ihre Make-up-Tasche, liebt ihr neues bracketfreies Lächeln, schreibt an Gott, führt eine Fernbeziehung und hat erst kürzlich ihre Leidenschaft für Sojamilch entdeckt.


Am nächsten Morgen heißt es Koffer packen, seltsam, aber ist ja erst einige Wochen her, dass ich alles ausgepackt habe… Ein letztes Mal aus meinem vergitterten Fenster schauen, auf dem Bett liegen und sich Gedanken machen, über eine wunderschöne Zeit, mit wundervollen Menschen und sich freuen, auf eine neue Wohnung, mitten im Zentrum, drei Minuten Fußweg zur Uni, eine verrückte mexikanische Mitbewohnerin, die viele internationale Freunde hat. Dann kommt der Augenblick, an dem ich mich verabschieden muss und dann passiert etwas, womit ich niemals gerechnet hätte. Ich erhalte ein Abschiedsgeschenk von der leicht internetabhängigen Caro, sie überreicht mir feierlich ihre Bibel, ihr Name ist eingraviert, abgenutzte Seiten, Notizen, Eselsohren und wie sie sagt, vielleicht werde ich sie eines Tages lesen, wie ein ganz normales Buch, Johannes, 14 hat sie mir ans Herz gelegt, ich bin gerührt, wirklich sehr, auch wenn ich nicht gerade gläubig bin, aber ich glaube an die Aufrichtigkeit, an Freundschaft und das ist eins der schönsten Geschenke, das ich jemals erhalten habe. Ganz ehrlich.
Mein Umzugsauto ist diesmal recht klein, ich nehme mir ein Taxi. Eine Stunde Fahrt durch die halbe Stadt, 18.000 Pesos, Gespräche über Essen (der Taxifahrer ist bis zu seinem Rauswurf wegen Alkoholproblemen Koch gewesen) und Obst und Säfte (man bezeichnet hier auch sämtliche Flüssigkeiten, die mit Obst und Milch zubereitet werden, als Säfte), Bekehrungsversuche zum Fleischessen später, erreiche ich mein neues Heim. Der Pförtner schaut mich und mein Gepäck misstrauisch an, öffnet mir dennoch die Tür, ich schleppe meine Sachen hinauf in den dritten Stock, höre Musik, Stimmengewirr, klingele und eine neue Tür geht auf. Menschen über Menschen, nein, keine Willkommens-Party, nur eine kleine Zusammenkunft, und ich kann meinen Augen kaum trauen, Manchego, frisch aus Spanien eingeflogen, Käse, wirklicher Käse, frisches Ciabatta dazu, ein Traum.
Die erste Nacht, es ist ruhig, das Fenster unseres Schlafraums geht nach hinten raus, ich schaue direkt hinauf zum Monserrate, unglaublich viel grün. Chévere.
Und dann ein erstes Mal, nicht um halb fünf morgens aufstehen müssen, eine Stunde länger schlafen, ein erstes Mal ein wirklich sicheres Gefühl unter der Dusche haben, denn dies ist keine elektrische Dusche. Ein erstes Mal das Haus verlassen und ein paar Schritte zum Unterrichtsraum laufen, ein erstes Mal zu spät kommen (aber der Dozent ist auch noch nicht aufgetaucht). Ein erstes Mal in meiner vierstündigen Pause nach Hause gehen können, ein kleines Nickerchen machen und dann meinen Mittwochs-Oma-Kaffee zu mir nehmen und genießen (der Kaffee wird weder von Großmüttern geerntet, noch zubereitet, noch bin ich nicht dahinter gekommen, weshalb eine bekannte Kette so benannt wurde). Weder das letzte noch das erste Mal.

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