Montag, 19. August 2013

Zeitverlierend treibend


Der Pazifik bei Lenga
Montags frei. Diesen Luxus hatte ich seit Jahren nicht mehr. Doch so wie es aussieht, könnte das hier in Chile Wirklichkeit werden. Jedes Wochenende ein langes Wochenende. Doch diesen Montag klingelt der Wecker dann doch. Heute kann man sich ab 8.30 Uhr in die Sportkurse einschreiben. Jara, Marie und ich sind um 8.15 Uhr am Haus des Sportes und vor uns eine Menge anderer Studenten. Wir warten. Und warten. Und warten. Und ja, wir warten. Drei geschlagene Stunden, bis wir vor der einzigen Zuständigen stehen und tatsächlich noch unsere Wünsche erfüllt bekommen, trotz der geringen Platzzahl. Zwischendurch wird einer der Chilenen angestachelt, die blonden Mädchen nach der Uhrzeit zu fragen. Ach ja, die Haarfarbe macht dann doch etwas aus. Mittags bahne ich mir alleine den Weg durch Conce, stolpere über die kleineren Fußwegschlaglöcher, hänge meine Blicke in die blühenden Kirschbäume und lasse mich von den Schachbrettstraßen treiben. Noch habe ich keinen kleinen Markt gefunden, sondern muss mich mit dem Supermarkteinkauf abfinden. Immerhin finde ich dort eine kleine Kaffeekanne für den Gasherd, denn der hier so weitverbreitete lösliche Nescafé kommt mir nicht in die Tasse. Die Auswahl hier erschlägt mich, am Ende komme ich mit fast nichts an die Kasse und der Einpacker steht schon bereit, um meinen überschaubaren Einkauf in Plastiktüten verschwinden zu lassen. Nein, halt! Nein, ich habe doch extra meinen Leinenbeutel... Zu spät. Da muss ich wohl schneller werden. Auf dem Rückweg schreibe ich meine Kurse ein, das läuft hier noch alles per Hand. Es ist ein ruhiger, fast schon zeitloser Tag, wie auch die kommenden es sein werden. Am Dienstagmorgen bin ich gespannt auf mein erstes Seminar: englischsprachige Literatur. Susan Foote, Literaturdozentin und seit 1992 an der Universidad de Concepción sitzt zunächst mit mir alleine in dem kleinen Seminarraum. Wir unterhalten uns locker-leicht über Literatur und unser Verhältnis zu ihr. Sie ist deutlich bewanderter, ist aber der Ansicht, dass es auf jeden Fall Spaß machen sollte, zu lesen. Und wir werden lesen, lesen und diskutieren. Vielleicht sogar bei einer Tasse Kaffee oder einem Gläschen Wein, da die Unterrichtszeit wohl eher in die Abendstunden verschieben wird. Die meisten in den Kurs eingeschriebenen Studenten können nämlich nicht. Kurzerhand leiht sie mir eines der beiden in der Bibliothek vorhandenen Exemplare von Salman Rushdies „Midnight’s Children“ aus. Mein Studentenvisum lässt nämlich noch mindestens einen Monat auf sich warten und damit auch mein Studentenausweis, mit dem ich Bücher ausleihen könnte und einen Haufen Vergünstigungen erhalten würde. Der zweite Kurs, lateinamerikanische Literatur des 20. Jahrhunderts findet nicht statt. Der dritte Kurs erst am Nachmittag: deutsche Literatur. Ich werde also hoffentlich viel lesen in diesem Semester. Von Kommilitonen erfahre ich, dass am Donnerstag und Freitag frei ist, Mariä Himmelfahrt beschert ein verfrühtes und sehr langes, mir noch längeres, Wochenende. Was soll ich bloß mit all der Zeit anfangen? Man gut, dass ich mir Arbeit mitgenommen habe… Am Abend treffe ich mich mit Chilenen zum gemeinsamen onces-Essen – hier das Abendbrot. Carlos will unbedingt, dass ich ein terremote, ein Erdbeben ausprobiere. Ein alkoholisches Getränk bestehend aus sehr jungem Weißwein, einem Hauch Gebranntem, Grenadine und Ananas-Eis. Süß und klebrig kommt es in einer riesigen Karaffe daher. Wir sitzen in der zweiten Etage einer kleinen Lokalität mit Liveband. Die fünf Jungs auf der Bühne sorgen für schwingende Tanzbeine und röhrende Kehlen, der Alkohol für eine angenehme Wärme und eine etwas losere Zunge. Irgendwann, lange nachdem die Band ihre dritte Zugabe gegeben hat, werden wir zunächst nach unten gebeten und dann irgendwann vor die Tür. Es ist kurz nach Mitternacht, man gut, dass der Wecker erst um 6.30 Uhr klingelt. Heile und bis hierher begleitet stehe ich vor dem rosafarbenen Haus und bekomme die Gartenpforte nicht auf. Da klemmt doch etwas, angetrunken mag ich ja sein, aber betrunken und unfähig, eine Tür zu öffnen, noch lange nicht. Ein Blick nach rechts, einer nach links. Und ich steige ein, in unseren eigenen Vorgarten. Immerhin lässt sich die Haustür problemlos öffnen.

Wie zu erwarten war, klingelt der Wecker früh. Auf zu meinem ersten Übersetzungsseminar – Fachtext Deutsch-Spanisch. Ich bin viel zu früh da, gerade einmal sieben Minuten brauche ich von der (wieder funktionsfähigen) Gartenpforte bis zur geisteswissenschaftlichen Fakultät. Und dann: Wochenende. Wie jetzt? Zeit? Ich könnte mit einer großen Gruppe Austauschstudenten nach Pucón im Süden fahren, ein schneebedeckter Vulkan. Aber ich möchte erst einmal meine nähere Umgebung kennen lernen, bevor ich mich sechs Stunden in den Bus setze. Heute Abend wird so oder so erstmal die Uni besetzt. So ganz kann ich meinen Augen noch nicht trauen, als wir gegen acht Uhr mit Tausenden von Studenten beim Glockenturm stehen. Das Bierregal im Supermarkt ist so gut wie leer gekauft, die Straßen sind von Studenten überfüllt, die Autofahrer warten hupend darauf, abbiegen zu können. Aber es ist kalt und so richtig viel Stimmung kommt bei der inoffiziellen Semestereinweihung nicht auf.


Die Zeit treibt dahin, ich lese, arbeite, lese, gehe spazieren, gewöhne mich. Die Zeit treibt weiter und ich mit ihr. Am Freitag wartet ein klitzekleines Abenteuer auf uns. Uns das sind der Großteil meiner Mitbewohner und zwei weitere deutsche Studentinnen – Andrea und Katja. Wir steigen in den Bus Richtung Lenga. Ja, der schwarze Sandstrand kommt mir bereits bekannt vor. Aber dort bleiben wir nicht. Nachdem wir im ersten geöffneten Restaurant zwei Dutzend empanadas mit wahlweise Käse oder Meeresgetier eingetütet haben, gehen wir strammen Schrittes in Richtung Strand. Wo lang doch gleich? Der Pfeil nach Ramuntcho zeigt geradeaus. Das sieht allerdings sehr steil aus. Sehr steil. Und rutschig. Wir kraxeln den benadelten Abhang hinauf, gut, dass hier kräftige Pinien stehen, die einem den ein oder anderen Ast reichen. Einige im Schlepp haben für diesen Weg nicht gerade geeignete Schuhe an und so richtig können wir uns eigentlich auch nicht vorstellen, dass das der Weg zum weißen Sandstrand ist. Unsere Hosen werden zumindest mit jedem angedeuteten Sturz oder Ausrutscher waldbodenfarbener. Mit viel Geduld bleibt niemand auf der Strecke, die hier kultivierten Eukalyptusbäume stecken sich dem strahlend blauem Himmel entgegen, und wir kommen endlich an etwas an, das nach einem wirklichen Weg aussieht. Wir wandern und wandern, ein Weg zweigt sich nach rechts ab. Nehmen wir die Abzweigung? Oder gehen wir weiter? Weiter. Und wieder, eine Abzweigung, eigentlich müsste es hier Richtung Meer gehen, aber nach einiger Zeit zweifeln wir daran. Also zurück. Wir fragen nach, es war doch der richtige Weg. Immerhin müssen wir nicht klettern, nur nochmal denselben Weg wählen und weitergehen. Weiter, immer weiter. Die Sonne blinzelt durch die Zweige, und irgendwann scheint auch endlich weißer Strand durch. Wir sind da: Das eisig kalte Meereswasser funkelt in feinem Türkis und taucht weiter hinten in ein dunkles Blau ab. Der Sand schmiegt sich in kontrastreichem Weiß an die Gischt. Ein kleiner Himmel auf Erden, nur leider bereits vom Menschen mit Müll bedacht. Wir bleiben. Und nach einiger Zeit gehöre ich zu den erst zwei, dann sogar drei Verrückten, die sich in die Fluten stürzen. Es ist bitterkalt, aber irgendwann spürt man selbst das nicht mehr. Bibbernd, zitternd, schlotternd lassen wir uns von der Sonne trocknen. Es ist Winter.

Sonntag, 11. August 2013

Gemach, gemach…

2x Mariscol in Hualpén

Die erste Dusche in Concepción ist wechselhaft lauwarm und kalt, und das bei morgendlichen Temperaturen um den Gefrierpunkt herum. Zumindest bin ich wach und meine Abwehrkräfte hoffentlich gestärkt. Ich muss kurz überlegen, welcher Tag heute ist: Donnerstag. Nach einem Nutella-Brot, auf das mich Jara eingeladen hat, laufen wir gemeinsam zum Plaza Perú, dort wartet auf mich eine der anderen ISAP-Stipendiatinnen, um mir bei den Behördengängen behilflich zu sein. Wir sind nämlich allesamt ohne Studentenvisum eingereist. Also Verbrecherfotos machen, auf die sowohl Name als auch Passnummer gedruckt werden, zum Notar und beglaubigen lassen, dass ich mit genügend Geld hier bin, Fotokopien sämtlicher Dokumente und dann zur Internationalen Polizei, Fachbereich: Auslandsangelegenheiten. Dort wird mir dann mein Reisepass abgenommen und nur auf Nachfrage erhalte ich eine Kopie davon. Angeblich kann ich ihn am Dienstag kommender Woche wieder hier abholen. Und nun? Illegal in Chile? Mein Personalausweis ist hier ja eigentlich nichts wert. Noch trotte ich Madleen hinterher ohne mich wirklich zu orientieren. Wir benötigen eine SIM-Karte. Das dürfte ja eigentlich nicht allzu schwierig sein. Und siehe da, ein Geschäft des Telekommunikationsunternehmens Entel. Doch SIM-Karten, nein, die werden hier nicht verkauft. Aber im Einkaufscenter, angeblich. Ein paar Straßen weiter öffnen sich die Türen einer riesigen Mall (,die hier auch tatsächlich so heißt). Ripley heißt eines der Warenkaufhäuser in diesem riesigen kapitalistischen Komplex. In der Mobilfunkabteilung erhalten wir allerdings ebenfalls die Information, dass es hier keine SIM-Karten käuflich zu erwerben gibt. Wir fragen nach und einer der Verkäufer kramt herum, derweil telefoniert ein zweiter der Nachfrage halber. So richtig verstehen wir nicht, was da gerade vor sich geht. Verkäufer A hat plötzlich zwei SIM-Karten in der Hand, öffnet die Kasse, legt etwa 20 Pesos hinein, lässt die Karten in einer Tüte verschwinden und überreicht sie uns. Ungläubig sehen wir ihn an, fragen, wie viel es uns kostet und er schüttelt nur den Kopf. Tja, manchmal ist die Haarfarbe nicht nur nervig.
Doch für einen Adapter, der den mir der Göttinger Saturn-Verkäufer angedreht hat, passte zwar in den USA, aber nicht in Chile, werden wir durch halb Conce geschickt. Schön auch, dass uns beim Verlassen des nächsten großen Kaufhauses eine Gruppe Demonstranten böse anschaut. Sie demonstrieren gegen Ripley, unseren SIM-Karten-Wohltäter. Wir müssen in den Baumarkt und dort werden wir dann auch fündig. Adapter, die passen.

Die nächste Überraschung wartet im Supermarkt: Gewürzgurken, Sauerkraut, Rotkohl, Roggenbrot. Der Einfluss Deutschlands auf das chilenische Supermarktwarensortiment ist definitiv vorhanden, denn es handelt sich nicht um hier produzierte Produkte, nein, selbst das Etikett ist in deutscher Sprache verfasst. Was ich davon halten soll, ich bin mir noch nicht so sicher. Generell sieht Conce für mich aus wie eine seltsame Mischung aus Europa und Südamerika (gut, ich habe bis jetzt auch nur den Großteil Kolumbiens gesehen): beziegelte Spitzdächer, kleine, feine Vorgärtchen hinter hohen Zäunen und vergitterte Fenster, nigelnagelneue Autos und durchbrochene Gehwege, zartrosablühende Kirschbäume und ein überköpfiges Kabelwirrwarr. Das reicht erst einmal. Mit eingeplastiktütetem Einkauf laufe ich am Universitäts-Campus entlang in Richtung pinklilafarbenem Zuhause.

Am zweiten Tag ist die Dusche heiß, der Morgen noch kälter, dafür strahlt der Himmel in seinem schönsten Türkis. Die Luft ist winterlich klar, der erste Gang führt zu einem der vielen Häuser neben dem Campus, hier muss ich mich melden und meine Kurse eintragen, doch so richtig weiß ich noch gar nicht, was und wie viel ich machen muss und möchte. Laut Stipendienvertrag sind es 30 ECTS, aber nur Übersetzung möchte ich gar nicht machen. Also zur nächsten Zuständigen, dort muss ich mich melden, hinter meinen Namen wird ein Häkchen platziert. Eine Menge deutscher Namen stehen an dem Whiteboard. Dann muss ich ins Büro der Studiengangsleiterin. Hier entscheide ich mich für die ersten Kurse, muss dann aber in die unterschiedlichen Fakultäten, um die jeweiligen Stundenpläne zu begutachten, es gibt hier nämlich kein zentrales Vorlesungsverzeichnis. In der Abteilung für Journalismus gibt es leider keinerlei Kurse, die ich ohne weitere Voraussetzungen belegen könnte. Ich bin nämlich im zweiten Semester gekommen, das Studienjahr beginnt hier zeitgleich mit dem Jahreswechsel. In der spanischen Abteilung ist niemand mehr anzutreffen und die Fakultät für Angewandte Kunst ist gleich ganz geschlossen. Das wird wohl diese Woche nichts mehr, selbst in die Sportkurse kann man sich erst ab Montag eintragen. Es gibt in etwa 500 Plätze für insgesamt 10 000 Studenten, da wird die Haarfarbe wohl leider nicht weiterhelfen.

Am Nachmittag findet sich dann eine Gruppe Austauschstudenten zusammen, die eine Campus-Führung erhält. 80 Prozent der Anwesenden sind Deutsche. Aber mein Ziel hier ist es ja auch nicht unbedingt, Spanisch zu lernen. Der Campus ist riesengroß und als Ort der Zusammenkunft für alle Bewohner Concepcións konzipiert. Durch ein wuchtiges Tor macht man am besten einen Bogen um das aus Mosaiksteinen gelegte Universitätswappen, denn wer darauf tritt, bleibt einem Aberglauben zufolge sein Leben lang an der Universität. In der Mitte prangt ein Glockenturm, das Wahrzeichen der Universidad de Concepción. Jeden Tag um 12.00 Uhr erklingt hier die Hymne der Universität. Es gibt einen Teich mit Enten und Schwänen, die stets mit ihrem Partner unterwegs sind, jede Fakultät hat ihre eigene kleine Mensa, allerdings heißen die hier Casino. Umgeben von Wald, sehr viel Wald macht der Campus schon Eindruck. Die Führung zieht sich bis hoch zu einem kleinen Wasserfall. Die Bibliothek gleicht einem Plattenbau aus DDR-Zeiten, leichte Wehmut macht sich breit, oh, Albertina, meine geliebte Bibliothek… Doch die in der Ferne versinkende Sonne macht einiges wett.


Der nächste Morgen will sich nicht erhellen, es bleibt grau, die Feuchtigkeit hängt in jeder Ritze. Am Nachmittag treffe ich mich mit Juan Carlos, einem Chilenen, der hier aus der Nähe kommt. Wir wandern durch die Straßen, langsam aber sicher orientiere ich mich. Am Parque de Ecuador vorbei, hin zu einem wunderschönen verfallenem Theater – dem Teatro del Liceo Enrique Molina: 1935 erbaut, 1960 geschlossen und seitdem steht es dort, wird vom Moos bewuchert, von Graffiti-Künstlern genutzt und wahrscheinlich auch für zwielichte Geschäfte. Ich bereue ein wenig, meine Kamera nicht dabei zu haben. Dann nehmen wir den Micro (so werden die kleinen Busse des öffentlichen Nahverkehrs genannt) und fahren nach Hualpén, eine an Concepción grenzende kleinere Stadt. Wir steigen erst mit den letzten Fahrgästen an der Avenida Lenga aus. Vor uns schwarzer Sandstrand, die Pazifikwellen rauschen heran, lassen den mit sich getragenen Sand am Strand und ziehen sich schweigend zurück. Immer und immer wieder. Derweil hängen sich die schweren grauen Wolken in die Wälder der umgebenden Küstenhänge. Rechts in der Ferne prangt eine riesige Ölraffinerie, die sich mit zunehmender Dämmerung immer surrealistisch-schöner in dieser Landschaft ihren Platz sucht. Vor dieser etwas seltsam-idyllischen Kulisse lassen wir uns in einem kleinen Restaurant namens „San Lorenzo“ nieder und essen Mariscol, eine Brühe mit allerlei Meeresgetier und Ei, dazu werden frittierte, blätterteigige Brötchen, scharfe Soße und eine Masse aus Tomaten, Zwiebeln und Koriander gereicht. Die Chilenen schenken das Bier aus Literflaschen aus und wundern sich darüber, wenn man ihnen erzählt, dass diese in Deutschland nicht gerade gängig sind. Wärme, endlich. Dann spazieren wir noch am verlassenen Strand auf und ab, bis sich der Himmel in der Dunkelheit verfängt und wir wieder in den Micro steigen. Auch wenn es nicht so licht war, für mich ein erster Lichtblick hier in Chile. Ich weiß, es wird dauern, mich hier zurechtzufinden und wohl zu fühlen.

Warum einfach, wenn es auch kompliziert geht...


Zeitvertreib: Delta-Maschinen zählen

Der Wecker klingelt morgens um 4 Uhr, der Himmel ist blau und sonnenversprecherisch. Doch davon werde ich nicht allzu viel haben, denn mir stehen knapp 40 Stunden Reise bevor. Nachdem gestern Abend noch einiges von Gewicht aus meinem Koffer weichen musste, hoffe ich nun, am Frankfurter Flughafen damit durchzukommen. Doch der Weg zur Gepäckabgabe ist nicht ganz einfach. Da ich noch kein Studentenvisum habe (in meinen Unterlagen hieß es, es sei einfacher dies vor Ort in Chile zu beantragen), müsse ich einen Rückflug innerhalb von 90 Tagen haben, so zumindest einer der Zuständigen bei Delta Airlines. Trotz meiner Erklärungen würde er mich so nicht in die USA einreisen lassen, denn wenn ich unter falschen Umständen nach Chile reisen würde, müssten die USA 500 US-Dollar Strafe zahlen. Schön, dann buche ich halt meinen Rückflug für schlappe 120 Euro auf den 3. November um, damit ich ihn später noch einmal umbuchen kann. Endlich zur Gepäckabgabe freigegeben werde ich in die Schlange gelotst. Vor mir ein achtjähriges Mädchen mitsamt Vater und Großmutter, da das Kind allerdings alleine reist, dauert es 25 Minuten bis ich endlich an der Reihe bin. 23,2 Kilogramm wiegt mein Koffer – gerade noch so im Rahmen. Mit Flugticket in der Hand geht es direkt zur Sicherheitskontrolle, mein Magen hängt mir derweil in den Kniekehlen. Eigentlich wollte ich mit meinen Eltern noch entspannt frühstücken gehen, jetzt muss ein Croissant im Stehen reichen. Ein kurzer Abschied und schon trennen uns Sicherheitsmenschen und eine Wand voller Röntgengeräte. auf Wiedersehen. Kurz danach beginnt das Boarding. Um 10.15 Uhr hebt das Flugzeug ab, zwei Filme, etwas Schlaf und zwei Mahlzeiten später landen wir in Atlanta. Anderthalb Stunden dauert es, bis ich meinen Stempel im Reisepass habe und die USA Fotos und Fingerabdrücke von mir und ich dann noch sechs Stunden am Flughafen totschlagen muss. Ich warte am Gate, habe keine Lust, mir irgendetwas anzusehen, sondern arbeite an einer Übersetzung.
Um 22.35 Uhr setzen wir dann zum zweiten etwa 10-stündigen Flug an, diesmal mit dem Ziel Santiago de Chile. Ein Schlafflug. Dort angekommen heißt es wieder auf einen Stempel warten. Der ist zumindest schillernd bunt, geht vom Violettrot über ins Dunkelblau. Mein Gepäck ist angekommen, jetzt muss ich nur noch zum Geldautomaten, dann kann es weiter per Bus nach Concepción gehen – 500 Kilometer gen Süden. Tja, es wäre auch zu schön, wenn das funktionieren würde. Am Geldautomaten erhalte ich kein Geld und mitgenommen habe ich auch keine chilenischen Pesos, da man mir bei der Postbank versichert hat, es sei besser und günstiger, vor Ort Geld abzuheben. Ich komme an nichts. Einer der aufdringlichen Taxi-Besteller überredet mich, zu einer anderen Bank zu fahren, das Problem sei bekannt, es liege wohl an der Bank. Ganz kann ich dem keinen Glauben schenken, aber was soll ich machen. Am Flughafen festhängen und drei Monate dort ausharren, um meinen umgebuchten Rückflug zu nehmen? Also fahren wir zur Banco de Chile. Am Automaten wird mir wieder mitgeteilt, dass eine Abhebung nicht möglich sei. Grandios. Die Bankangestellten können mir nicht weiterhelfen, das sei nicht ihr Problem. Herzlichen Dank. Zurück im Taxi sehe ich Alex mit traurigen Rehaugen an, bin innerlich unglaublich nervös und weiß nicht weiter. Der wiederum ruft seinen Chef an, Pedro – derjenige, der mich am ersten Geldautomaten aufgegabelt hatte –, um nach Rat zu fragen. Western Union. Also in Deutschland anrufen, glücklicherweise sind dort noch vertretbare Uhrzeiten. Ich erreiche meinen Vater, der zunächst übers Internet nichts überweisen kann, also zur Bank muss. Das dauert. In dieser Zeit geht es zurück zum Flughafen, dort sammeln wir Pedro ein, fahren unter seinen Angaben zu einem Western-Union-Büro und dort stehen wir und warten. Und warten und warten. Mir dämmert bereits, dass es teurer wird als die so oder so schon wucherhaften Preise für eine Fahrt von 15 Minuten vom Flughafen zum Busterminal; 18 000 chilenische Pesos sind abgemacht. Immerhin sind beide nett und freundlich. Irgendwann steigt Pedro dann aus, Alex lädt mich auf einen Kaffee ein und irgendwann kommt dann die erwartete Nachricht: Das Geld ist da. Hinein ins Büro, Geld zählen, unterschreiben und ab ins Taxi, um nach etwa zweieinhalb Stunden den Weg zum Busterminal anzutreten. 45 000 chilenische Pesos hat mich der Spaß gekostet, ich rechne es lieber nicht um. Zum Vergleich: die sechsstündige Busfahrt nach Concepción kostet im Liegesessel 13 000 Pesos (und das ist schon fast doppelt so viel wie der Normalpreis).

Ich sitzliege in dunkelblauen Polstern, der Bus fährt stets geradeaus und die chilenische Landschaft zieht an mir vorbei: kahle Weinreben, überschwemmte Felder auf denen neben weidenden Kühen auch ein, zwei Gerippe ihrer Artgenossen liegen, Wald, unglaublich viel Nadelwald. Und es geht immer nur geradeaus. Vielleicht ist das Land tatsächlich nur so breit, dass man wie auf einem Drahtseil auf ihm balancieren muss. Die Sonne kriecht zwischen den sich dicht an dicht drängenden Wolken hervor, Apfelbäume reihen sich aneinander, ich gleite durch diese Landschaft und fühle mich an deutsche Autobahnen erinnert, auch wenn wir nicht ganz so schnell fahren. Die Scheiben beschlagen und ich nehme nur noch die Silhouetten der spitzen Bäume wahr, alles verschwindet hinter einem Schleier der Verschwommenheit. Es werden Törtchen und Saft gereicht wie auch ein unendlich gesüßter aufgelöster Kaffee. Vorne laufen Filme, die Kopfhörer hängen jedoch über meinem Haupt, es gibt WiFi an Bord. Und mit jeder Minute nähere ich mich meiner neuen Unterkunft. Da ich später als gedacht in Concepción ankommen werde, gibt es leider kein Empfangskomitee, also fahre ich alleine mit dem Taxi zur mir bekannten Adresse. Vor dem pinkfarbenen Haus stehen gerade zwei junge Frauen, Jara und Marie, zwei meiner künftigen neun Mitbewohner. Dann kommt die Hausbesitzerin, zeigt mir noch das zweite Haus für Studenten, doch ich habe mich bereits mit dem Pastelllila und dem vergitterten Fenster im ersten Haus angefreundet und noch viel mehr mit den Mitbewohnern: Lorena aus Kolumbien, Manuel und Gloria aus Ecuador, Izquel aus Mexiko, Jara aus Deutschland (die ebenfalls Übersetzung studiert, allerdings im Bachelor in Germersheim) und Marie aus Frankreich, drei fehlen noch, die im Laufe der nächsten Tage ankommen werden.

Mein Koffer steht im Zimmer, so langsam macht sich mein Magen bemerkbar. Ich schließe mich Marie und Jara an, die sich mit anderen Austauschstudenten zum Essen treffen. Ein erster Spaziergang im bereits dunklen Concepción (kurz Conce, daran muss ich mich noch gewöhnen), die fein säuberlich aufgereihten Straßen tragen Namen wie Las Vegas, Chacabuco oder Colo Colo. Eine Horde aufgedrehter Ausländerinnen mitsamt einem männlichen Vertreter aus Frankreich streifen durch den Abend und irgendwann lassen wir uns dann in einer Pizzeria nieder. Groß, gut belegt und lecker. Aber ich bin müde, unglaublich müde und wanke, trotz des nicht konsumierten Alkohols mit Jara, Marie und Maëlys, einer weiteren Französin, die in unserer Nähe wohnt, in Richtung Studentenpension. Schlafen. An meinem vergitterten Fenster hat es sich bereits eine Schicht Feuchtigkeit bequem gemacht.