| Der Pazifik bei Lenga |
Montags
frei. Diesen Luxus hatte ich seit Jahren nicht mehr. Doch so wie es aussieht,
könnte das hier in Chile Wirklichkeit werden. Jedes Wochenende ein langes
Wochenende. Doch diesen Montag klingelt der Wecker dann doch. Heute kann man
sich ab 8.30 Uhr in die Sportkurse einschreiben. Jara, Marie und ich sind um
8.15 Uhr am Haus des Sportes und vor uns eine Menge anderer Studenten. Wir
warten. Und warten. Und warten. Und ja, wir warten. Drei geschlagene Stunden,
bis wir vor der einzigen Zuständigen stehen und tatsächlich noch unsere Wünsche
erfüllt bekommen, trotz der geringen Platzzahl. Zwischendurch wird einer der
Chilenen angestachelt, die blonden Mädchen nach der Uhrzeit zu fragen. Ach ja,
die Haarfarbe macht dann doch etwas aus. Mittags bahne ich mir alleine den Weg
durch Conce, stolpere über die kleineren Fußwegschlaglöcher, hänge meine Blicke
in die blühenden Kirschbäume und lasse mich von den Schachbrettstraßen treiben.
Noch habe ich keinen kleinen Markt gefunden, sondern muss mich mit dem
Supermarkteinkauf abfinden. Immerhin finde ich dort eine kleine Kaffeekanne für
den Gasherd, denn der hier so weitverbreitete lösliche Nescafé kommt mir nicht
in die Tasse. Die Auswahl hier erschlägt mich, am Ende komme ich mit fast nichts
an die Kasse und der Einpacker steht schon bereit, um meinen überschaubaren
Einkauf in Plastiktüten verschwinden zu lassen. Nein, halt! Nein, ich habe doch
extra meinen Leinenbeutel... Zu spät. Da muss ich wohl schneller werden. Auf
dem Rückweg schreibe ich meine Kurse ein, das läuft hier noch alles per Hand.
Es ist ein ruhiger, fast schon zeitloser Tag, wie auch die kommenden es sein
werden. Am Dienstagmorgen bin ich gespannt auf mein erstes Seminar:
englischsprachige Literatur. Susan Foote, Literaturdozentin und seit 1992 an
der Universidad de Concepción sitzt zunächst mit mir alleine in dem kleinen
Seminarraum. Wir unterhalten uns locker-leicht über Literatur und unser
Verhältnis zu ihr. Sie ist deutlich bewanderter, ist aber der Ansicht, dass es
auf jeden Fall Spaß machen sollte, zu lesen. Und wir werden lesen, lesen und
diskutieren. Vielleicht sogar bei einer Tasse Kaffee oder einem Gläschen Wein,
da die Unterrichtszeit wohl eher in die Abendstunden verschieben wird. Die
meisten in den Kurs eingeschriebenen Studenten können nämlich nicht. Kurzerhand
leiht sie mir eines der beiden in der Bibliothek vorhandenen Exemplare von
Salman Rushdies „Midnight’s Children“ aus. Mein Studentenvisum lässt nämlich
noch mindestens einen Monat auf sich warten und damit auch mein
Studentenausweis, mit dem ich Bücher ausleihen könnte und einen Haufen
Vergünstigungen erhalten würde. Der zweite Kurs, lateinamerikanische Literatur
des 20. Jahrhunderts findet nicht statt. Der dritte Kurs erst am
Nachmittag: deutsche Literatur. Ich werde also hoffentlich viel lesen in diesem
Semester. Von Kommilitonen erfahre ich, dass am Donnerstag und Freitag frei
ist, Mariä Himmelfahrt beschert ein verfrühtes und sehr langes, mir noch
längeres, Wochenende. Was soll ich bloß mit all der Zeit anfangen? Man gut,
dass ich mir Arbeit mitgenommen habe… Am Abend treffe ich mich mit Chilenen zum
gemeinsamen onces-Essen – hier das
Abendbrot. Carlos will unbedingt, dass ich ein terremote, ein Erdbeben ausprobiere. Ein alkoholisches Getränk
bestehend aus sehr jungem Weißwein, einem Hauch Gebranntem, Grenadine und
Ananas-Eis. Süß und klebrig kommt es in einer riesigen Karaffe daher. Wir
sitzen in der zweiten Etage einer kleinen Lokalität mit Liveband. Die fünf
Jungs auf der Bühne sorgen für schwingende Tanzbeine und röhrende Kehlen, der
Alkohol für eine angenehme Wärme und eine etwas losere Zunge. Irgendwann, lange
nachdem die Band ihre dritte Zugabe gegeben hat, werden wir zunächst nach unten
gebeten und dann irgendwann vor die Tür. Es ist kurz nach Mitternacht, man gut,
dass der Wecker erst um 6.30 Uhr klingelt. Heile und bis hierher begleitet
stehe ich vor dem rosafarbenen Haus und bekomme die Gartenpforte nicht auf. Da
klemmt doch etwas, angetrunken mag ich ja sein, aber betrunken und unfähig,
eine Tür zu öffnen, noch lange nicht. Ein Blick nach rechts, einer nach links.
Und ich steige ein, in unseren eigenen Vorgarten. Immerhin lässt sich die
Haustür problemlos öffnen.
Wie
zu erwarten war, klingelt der Wecker früh. Auf zu meinem ersten
Übersetzungsseminar – Fachtext Deutsch-Spanisch. Ich bin viel zu früh da,
gerade einmal sieben Minuten brauche ich von der (wieder funktionsfähigen)
Gartenpforte bis zur geisteswissenschaftlichen Fakultät. Und dann: Wochenende. Wie
jetzt? Zeit? Ich könnte mit einer großen Gruppe Austauschstudenten nach Pucón
im Süden fahren, ein schneebedeckter Vulkan. Aber ich möchte erst einmal meine
nähere Umgebung kennen lernen, bevor ich mich sechs Stunden in den Bus setze.
Heute Abend wird so oder so erstmal die Uni besetzt. So ganz kann ich meinen
Augen noch nicht trauen, als wir gegen acht Uhr mit Tausenden von Studenten
beim Glockenturm stehen. Das Bierregal im Supermarkt ist so gut wie leer
gekauft, die Straßen sind von Studenten überfüllt, die Autofahrer warten hupend
darauf, abbiegen zu können. Aber es ist kalt und so richtig viel Stimmung kommt
bei der inoffiziellen Semestereinweihung nicht auf.
Die
Zeit treibt dahin, ich lese, arbeite, lese, gehe spazieren, gewöhne mich. Die
Zeit treibt weiter und ich mit ihr. Am Freitag wartet ein klitzekleines
Abenteuer auf uns. Uns das sind der Großteil meiner Mitbewohner und zwei
weitere deutsche Studentinnen – Andrea und Katja. Wir steigen in den Bus
Richtung Lenga. Ja, der schwarze Sandstrand kommt mir bereits bekannt vor. Aber
dort bleiben wir nicht. Nachdem wir im ersten geöffneten Restaurant zwei
Dutzend empanadas mit wahlweise Käse
oder Meeresgetier eingetütet haben, gehen wir strammen Schrittes in Richtung
Strand. Wo lang doch gleich? Der Pfeil nach Ramuntcho zeigt geradeaus. Das
sieht allerdings sehr steil aus. Sehr steil. Und rutschig. Wir kraxeln den
benadelten Abhang hinauf, gut, dass hier kräftige Pinien stehen, die einem den
ein oder anderen Ast reichen. Einige im Schlepp haben für diesen Weg nicht
gerade geeignete Schuhe an und so richtig können wir uns eigentlich auch nicht
vorstellen, dass das der Weg zum weißen Sandstrand ist. Unsere Hosen werden
zumindest mit jedem angedeuteten Sturz oder Ausrutscher waldbodenfarbener. Mit
viel Geduld bleibt niemand auf der Strecke, die hier kultivierten
Eukalyptusbäume stecken sich dem strahlend blauem Himmel entgegen, und wir
kommen endlich an etwas an, das nach einem wirklichen Weg aussieht. Wir wandern
und wandern, ein Weg zweigt sich nach rechts ab. Nehmen wir die Abzweigung?
Oder gehen wir weiter? Weiter. Und wieder, eine Abzweigung, eigentlich müsste
es hier Richtung Meer gehen, aber nach einiger Zeit zweifeln wir daran. Also
zurück. Wir fragen nach, es war doch der richtige Weg. Immerhin müssen wir
nicht klettern, nur nochmal denselben Weg wählen und weitergehen. Weiter, immer
weiter. Die Sonne blinzelt durch die Zweige, und irgendwann scheint auch
endlich weißer Strand durch. Wir sind da: Das eisig kalte Meereswasser funkelt
in feinem Türkis und taucht weiter hinten in ein dunkles Blau ab. Der Sand schmiegt
sich in kontrastreichem Weiß an die Gischt. Ein kleiner Himmel auf Erden, nur
leider bereits vom Menschen mit Müll bedacht. Wir bleiben. Und nach einiger
Zeit gehöre ich zu den erst zwei, dann sogar drei Verrückten, die sich in die
Fluten stürzen. Es ist bitterkalt, aber irgendwann spürt man selbst das nicht
mehr. Bibbernd, zitternd, schlotternd lassen wir uns von der Sonne trocknen. Es
ist Winter.