Montag, 19. August 2013

Zeitverlierend treibend


Der Pazifik bei Lenga
Montags frei. Diesen Luxus hatte ich seit Jahren nicht mehr. Doch so wie es aussieht, könnte das hier in Chile Wirklichkeit werden. Jedes Wochenende ein langes Wochenende. Doch diesen Montag klingelt der Wecker dann doch. Heute kann man sich ab 8.30 Uhr in die Sportkurse einschreiben. Jara, Marie und ich sind um 8.15 Uhr am Haus des Sportes und vor uns eine Menge anderer Studenten. Wir warten. Und warten. Und warten. Und ja, wir warten. Drei geschlagene Stunden, bis wir vor der einzigen Zuständigen stehen und tatsächlich noch unsere Wünsche erfüllt bekommen, trotz der geringen Platzzahl. Zwischendurch wird einer der Chilenen angestachelt, die blonden Mädchen nach der Uhrzeit zu fragen. Ach ja, die Haarfarbe macht dann doch etwas aus. Mittags bahne ich mir alleine den Weg durch Conce, stolpere über die kleineren Fußwegschlaglöcher, hänge meine Blicke in die blühenden Kirschbäume und lasse mich von den Schachbrettstraßen treiben. Noch habe ich keinen kleinen Markt gefunden, sondern muss mich mit dem Supermarkteinkauf abfinden. Immerhin finde ich dort eine kleine Kaffeekanne für den Gasherd, denn der hier so weitverbreitete lösliche Nescafé kommt mir nicht in die Tasse. Die Auswahl hier erschlägt mich, am Ende komme ich mit fast nichts an die Kasse und der Einpacker steht schon bereit, um meinen überschaubaren Einkauf in Plastiktüten verschwinden zu lassen. Nein, halt! Nein, ich habe doch extra meinen Leinenbeutel... Zu spät. Da muss ich wohl schneller werden. Auf dem Rückweg schreibe ich meine Kurse ein, das läuft hier noch alles per Hand. Es ist ein ruhiger, fast schon zeitloser Tag, wie auch die kommenden es sein werden. Am Dienstagmorgen bin ich gespannt auf mein erstes Seminar: englischsprachige Literatur. Susan Foote, Literaturdozentin und seit 1992 an der Universidad de Concepción sitzt zunächst mit mir alleine in dem kleinen Seminarraum. Wir unterhalten uns locker-leicht über Literatur und unser Verhältnis zu ihr. Sie ist deutlich bewanderter, ist aber der Ansicht, dass es auf jeden Fall Spaß machen sollte, zu lesen. Und wir werden lesen, lesen und diskutieren. Vielleicht sogar bei einer Tasse Kaffee oder einem Gläschen Wein, da die Unterrichtszeit wohl eher in die Abendstunden verschieben wird. Die meisten in den Kurs eingeschriebenen Studenten können nämlich nicht. Kurzerhand leiht sie mir eines der beiden in der Bibliothek vorhandenen Exemplare von Salman Rushdies „Midnight’s Children“ aus. Mein Studentenvisum lässt nämlich noch mindestens einen Monat auf sich warten und damit auch mein Studentenausweis, mit dem ich Bücher ausleihen könnte und einen Haufen Vergünstigungen erhalten würde. Der zweite Kurs, lateinamerikanische Literatur des 20. Jahrhunderts findet nicht statt. Der dritte Kurs erst am Nachmittag: deutsche Literatur. Ich werde also hoffentlich viel lesen in diesem Semester. Von Kommilitonen erfahre ich, dass am Donnerstag und Freitag frei ist, Mariä Himmelfahrt beschert ein verfrühtes und sehr langes, mir noch längeres, Wochenende. Was soll ich bloß mit all der Zeit anfangen? Man gut, dass ich mir Arbeit mitgenommen habe… Am Abend treffe ich mich mit Chilenen zum gemeinsamen onces-Essen – hier das Abendbrot. Carlos will unbedingt, dass ich ein terremote, ein Erdbeben ausprobiere. Ein alkoholisches Getränk bestehend aus sehr jungem Weißwein, einem Hauch Gebranntem, Grenadine und Ananas-Eis. Süß und klebrig kommt es in einer riesigen Karaffe daher. Wir sitzen in der zweiten Etage einer kleinen Lokalität mit Liveband. Die fünf Jungs auf der Bühne sorgen für schwingende Tanzbeine und röhrende Kehlen, der Alkohol für eine angenehme Wärme und eine etwas losere Zunge. Irgendwann, lange nachdem die Band ihre dritte Zugabe gegeben hat, werden wir zunächst nach unten gebeten und dann irgendwann vor die Tür. Es ist kurz nach Mitternacht, man gut, dass der Wecker erst um 6.30 Uhr klingelt. Heile und bis hierher begleitet stehe ich vor dem rosafarbenen Haus und bekomme die Gartenpforte nicht auf. Da klemmt doch etwas, angetrunken mag ich ja sein, aber betrunken und unfähig, eine Tür zu öffnen, noch lange nicht. Ein Blick nach rechts, einer nach links. Und ich steige ein, in unseren eigenen Vorgarten. Immerhin lässt sich die Haustür problemlos öffnen.

Wie zu erwarten war, klingelt der Wecker früh. Auf zu meinem ersten Übersetzungsseminar – Fachtext Deutsch-Spanisch. Ich bin viel zu früh da, gerade einmal sieben Minuten brauche ich von der (wieder funktionsfähigen) Gartenpforte bis zur geisteswissenschaftlichen Fakultät. Und dann: Wochenende. Wie jetzt? Zeit? Ich könnte mit einer großen Gruppe Austauschstudenten nach Pucón im Süden fahren, ein schneebedeckter Vulkan. Aber ich möchte erst einmal meine nähere Umgebung kennen lernen, bevor ich mich sechs Stunden in den Bus setze. Heute Abend wird so oder so erstmal die Uni besetzt. So ganz kann ich meinen Augen noch nicht trauen, als wir gegen acht Uhr mit Tausenden von Studenten beim Glockenturm stehen. Das Bierregal im Supermarkt ist so gut wie leer gekauft, die Straßen sind von Studenten überfüllt, die Autofahrer warten hupend darauf, abbiegen zu können. Aber es ist kalt und so richtig viel Stimmung kommt bei der inoffiziellen Semestereinweihung nicht auf.


Die Zeit treibt dahin, ich lese, arbeite, lese, gehe spazieren, gewöhne mich. Die Zeit treibt weiter und ich mit ihr. Am Freitag wartet ein klitzekleines Abenteuer auf uns. Uns das sind der Großteil meiner Mitbewohner und zwei weitere deutsche Studentinnen – Andrea und Katja. Wir steigen in den Bus Richtung Lenga. Ja, der schwarze Sandstrand kommt mir bereits bekannt vor. Aber dort bleiben wir nicht. Nachdem wir im ersten geöffneten Restaurant zwei Dutzend empanadas mit wahlweise Käse oder Meeresgetier eingetütet haben, gehen wir strammen Schrittes in Richtung Strand. Wo lang doch gleich? Der Pfeil nach Ramuntcho zeigt geradeaus. Das sieht allerdings sehr steil aus. Sehr steil. Und rutschig. Wir kraxeln den benadelten Abhang hinauf, gut, dass hier kräftige Pinien stehen, die einem den ein oder anderen Ast reichen. Einige im Schlepp haben für diesen Weg nicht gerade geeignete Schuhe an und so richtig können wir uns eigentlich auch nicht vorstellen, dass das der Weg zum weißen Sandstrand ist. Unsere Hosen werden zumindest mit jedem angedeuteten Sturz oder Ausrutscher waldbodenfarbener. Mit viel Geduld bleibt niemand auf der Strecke, die hier kultivierten Eukalyptusbäume stecken sich dem strahlend blauem Himmel entgegen, und wir kommen endlich an etwas an, das nach einem wirklichen Weg aussieht. Wir wandern und wandern, ein Weg zweigt sich nach rechts ab. Nehmen wir die Abzweigung? Oder gehen wir weiter? Weiter. Und wieder, eine Abzweigung, eigentlich müsste es hier Richtung Meer gehen, aber nach einiger Zeit zweifeln wir daran. Also zurück. Wir fragen nach, es war doch der richtige Weg. Immerhin müssen wir nicht klettern, nur nochmal denselben Weg wählen und weitergehen. Weiter, immer weiter. Die Sonne blinzelt durch die Zweige, und irgendwann scheint auch endlich weißer Strand durch. Wir sind da: Das eisig kalte Meereswasser funkelt in feinem Türkis und taucht weiter hinten in ein dunkles Blau ab. Der Sand schmiegt sich in kontrastreichem Weiß an die Gischt. Ein kleiner Himmel auf Erden, nur leider bereits vom Menschen mit Müll bedacht. Wir bleiben. Und nach einiger Zeit gehöre ich zu den erst zwei, dann sogar drei Verrückten, die sich in die Fluten stürzen. Es ist bitterkalt, aber irgendwann spürt man selbst das nicht mehr. Bibbernd, zitternd, schlotternd lassen wir uns von der Sonne trocknen. Es ist Winter.

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