| 2x Mariscol in Hualpén |
Die erste Dusche in Concepción ist wechselhaft lauwarm und
kalt, und das bei morgendlichen Temperaturen um den Gefrierpunkt herum.
Zumindest bin ich wach und meine Abwehrkräfte hoffentlich gestärkt. Ich muss
kurz überlegen, welcher Tag heute ist: Donnerstag. Nach einem Nutella-Brot, auf
das mich Jara eingeladen hat, laufen wir gemeinsam zum Plaza Perú, dort wartet
auf mich eine der anderen ISAP-Stipendiatinnen, um mir bei den Behördengängen
behilflich zu sein. Wir sind nämlich allesamt ohne Studentenvisum eingereist.
Also Verbrecherfotos machen, auf die sowohl Name als auch Passnummer gedruckt werden,
zum Notar und beglaubigen lassen, dass ich mit genügend Geld hier bin, Fotokopien
sämtlicher Dokumente und dann zur Internationalen Polizei, Fachbereich:
Auslandsangelegenheiten. Dort wird mir dann mein Reisepass abgenommen und nur
auf Nachfrage erhalte ich eine Kopie davon. Angeblich kann ich ihn am Dienstag
kommender Woche wieder hier abholen. Und nun? Illegal in Chile? Mein
Personalausweis ist hier ja eigentlich nichts wert. Noch trotte ich Madleen
hinterher ohne mich wirklich zu orientieren. Wir benötigen eine SIM-Karte. Das
dürfte ja eigentlich nicht allzu schwierig sein. Und siehe da, ein Geschäft des
Telekommunikationsunternehmens Entel. Doch SIM-Karten, nein, die werden hier
nicht verkauft. Aber im Einkaufscenter, angeblich. Ein paar Straßen weiter
öffnen sich die Türen einer riesigen Mall (,die hier auch tatsächlich so
heißt). Ripley heißt eines der Warenkaufhäuser in diesem riesigen kapitalistischen
Komplex. In der Mobilfunkabteilung erhalten wir allerdings ebenfalls die
Information, dass es hier keine SIM-Karten käuflich zu erwerben gibt. Wir
fragen nach und einer der Verkäufer kramt herum, derweil telefoniert ein
zweiter der Nachfrage halber. So richtig verstehen wir nicht, was da gerade vor
sich geht. Verkäufer A hat plötzlich zwei SIM-Karten in der Hand, öffnet die
Kasse, legt etwa 20 Pesos hinein, lässt die Karten in einer Tüte verschwinden
und überreicht sie uns. Ungläubig sehen wir ihn an, fragen, wie viel es uns
kostet und er schüttelt nur den Kopf. Tja, manchmal ist die Haarfarbe nicht nur
nervig.
Doch für einen Adapter, der den mir der Göttinger
Saturn-Verkäufer angedreht hat, passte zwar in den USA, aber nicht in Chile,
werden wir durch halb Conce geschickt. Schön auch, dass uns beim Verlassen des
nächsten großen Kaufhauses eine Gruppe Demonstranten böse anschaut. Sie
demonstrieren gegen Ripley, unseren SIM-Karten-Wohltäter. Wir müssen in den
Baumarkt und dort werden wir dann auch fündig. Adapter, die passen.
Die nächste Überraschung wartet im Supermarkt: Gewürzgurken,
Sauerkraut, Rotkohl, Roggenbrot. Der Einfluss Deutschlands auf das chilenische
Supermarktwarensortiment ist definitiv vorhanden, denn es handelt sich nicht um
hier produzierte Produkte, nein, selbst das Etikett ist in deutscher Sprache
verfasst. Was ich davon halten soll, ich bin mir noch nicht so sicher. Generell sieht Conce für mich aus wie eine seltsame Mischung aus
Europa und Südamerika (gut, ich habe bis jetzt auch nur den Großteil Kolumbiens
gesehen): beziegelte Spitzdächer, kleine, feine Vorgärtchen hinter hohen Zäunen
und vergitterte Fenster, nigelnagelneue Autos und durchbrochene Gehwege,
zartrosablühende Kirschbäume und ein überköpfiges Kabelwirrwarr. Das reicht
erst einmal. Mit eingeplastiktütetem Einkauf laufe ich am Universitäts-Campus
entlang in Richtung pinklilafarbenem Zuhause.
Am zweiten Tag ist die Dusche heiß, der Morgen noch kälter,
dafür strahlt der Himmel in seinem schönsten Türkis. Die Luft ist winterlich
klar, der erste Gang führt zu einem der vielen Häuser neben dem Campus, hier
muss ich mich melden und meine Kurse eintragen, doch so richtig weiß ich noch
gar nicht, was und wie viel ich machen muss und möchte. Laut Stipendienvertrag
sind es 30 ECTS, aber nur Übersetzung möchte ich gar nicht machen. Also zur
nächsten Zuständigen, dort muss ich mich melden, hinter meinen Namen wird ein
Häkchen platziert. Eine Menge deutscher Namen stehen an dem Whiteboard. Dann
muss ich ins Büro der Studiengangsleiterin. Hier entscheide ich mich für die
ersten Kurse, muss dann aber in die unterschiedlichen Fakultäten, um die
jeweiligen Stundenpläne zu begutachten, es gibt hier nämlich kein zentrales
Vorlesungsverzeichnis. In der Abteilung für Journalismus gibt es leider
keinerlei Kurse, die ich ohne weitere Voraussetzungen belegen könnte. Ich bin
nämlich im zweiten Semester gekommen, das Studienjahr beginnt hier zeitgleich
mit dem Jahreswechsel. In der spanischen Abteilung ist niemand mehr anzutreffen
und die Fakultät für Angewandte Kunst ist gleich ganz geschlossen. Das wird
wohl diese Woche nichts mehr, selbst in die Sportkurse kann man sich erst ab
Montag eintragen. Es gibt in etwa 500 Plätze für insgesamt 10 000
Studenten, da wird die Haarfarbe wohl leider nicht weiterhelfen.
Am Nachmittag findet sich dann eine Gruppe Austauschstudenten
zusammen, die eine Campus-Führung erhält. 80 Prozent der Anwesenden sind
Deutsche. Aber mein Ziel hier ist es ja auch nicht unbedingt, Spanisch zu
lernen. Der Campus ist riesengroß und als Ort der Zusammenkunft für alle
Bewohner Concepcións konzipiert. Durch ein wuchtiges Tor macht man am besten
einen Bogen um das aus Mosaiksteinen gelegte Universitätswappen, denn wer
darauf tritt, bleibt einem Aberglauben zufolge sein Leben lang an der
Universität. In der Mitte prangt ein Glockenturm, das Wahrzeichen der
Universidad de Concepción. Jeden Tag um 12.00 Uhr erklingt hier die Hymne der
Universität. Es gibt einen Teich mit Enten und Schwänen, die stets mit ihrem
Partner unterwegs sind, jede Fakultät hat ihre eigene kleine Mensa, allerdings
heißen die hier Casino. Umgeben von Wald, sehr viel Wald macht der Campus schon
Eindruck. Die Führung zieht sich bis hoch zu einem kleinen Wasserfall. Die
Bibliothek gleicht einem Plattenbau aus DDR-Zeiten, leichte Wehmut macht sich
breit, oh, Albertina, meine geliebte Bibliothek… Doch die in der Ferne
versinkende Sonne macht einiges wett.
Der nächste Morgen will sich nicht erhellen, es bleibt grau,
die Feuchtigkeit hängt in jeder Ritze. Am Nachmittag treffe ich mich mit Juan
Carlos, einem Chilenen, der hier aus der Nähe kommt. Wir wandern durch die
Straßen, langsam aber sicher orientiere ich mich. Am Parque de Ecuador vorbei,
hin zu einem wunderschönen verfallenem Theater – dem Teatro del Liceo Enrique
Molina: 1935 erbaut, 1960 geschlossen und seitdem steht es dort, wird vom Moos
bewuchert, von Graffiti-Künstlern genutzt und wahrscheinlich auch für
zwielichte Geschäfte. Ich bereue ein wenig, meine Kamera nicht dabei zu haben.
Dann nehmen wir den Micro (so werden die kleinen Busse des öffentlichen
Nahverkehrs genannt) und fahren nach Hualpén, eine an Concepción grenzende
kleinere Stadt. Wir steigen erst mit den letzten Fahrgästen an der Avenida
Lenga aus. Vor uns schwarzer Sandstrand, die Pazifikwellen rauschen heran, lassen
den mit sich getragenen Sand am Strand und ziehen sich schweigend zurück. Immer
und immer wieder. Derweil hängen sich die schweren grauen Wolken in die Wälder
der umgebenden Küstenhänge. Rechts in der Ferne prangt eine riesige
Ölraffinerie, die sich mit zunehmender Dämmerung immer surrealistisch-schöner
in dieser Landschaft ihren Platz sucht. Vor dieser etwas seltsam-idyllischen
Kulisse lassen wir uns in einem kleinen Restaurant namens „San Lorenzo“ nieder
und essen Mariscol, eine Brühe mit allerlei Meeresgetier und Ei, dazu werden
frittierte, blätterteigige Brötchen, scharfe Soße und eine Masse aus Tomaten,
Zwiebeln und Koriander gereicht. Die Chilenen schenken das Bier aus
Literflaschen aus und wundern sich darüber, wenn man ihnen erzählt, dass diese
in Deutschland nicht gerade gängig sind. Wärme, endlich. Dann spazieren wir
noch am verlassenen Strand auf und ab, bis sich der Himmel in der Dunkelheit
verfängt und wir wieder in den Micro steigen. Auch wenn es nicht so licht war,
für mich ein erster Lichtblick hier in Chile. Ich weiß, es wird dauern, mich
hier zurechtzufinden und wohl zu fühlen.
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