Sonntag, 11. August 2013

Gemach, gemach…

2x Mariscol in Hualpén

Die erste Dusche in Concepción ist wechselhaft lauwarm und kalt, und das bei morgendlichen Temperaturen um den Gefrierpunkt herum. Zumindest bin ich wach und meine Abwehrkräfte hoffentlich gestärkt. Ich muss kurz überlegen, welcher Tag heute ist: Donnerstag. Nach einem Nutella-Brot, auf das mich Jara eingeladen hat, laufen wir gemeinsam zum Plaza Perú, dort wartet auf mich eine der anderen ISAP-Stipendiatinnen, um mir bei den Behördengängen behilflich zu sein. Wir sind nämlich allesamt ohne Studentenvisum eingereist. Also Verbrecherfotos machen, auf die sowohl Name als auch Passnummer gedruckt werden, zum Notar und beglaubigen lassen, dass ich mit genügend Geld hier bin, Fotokopien sämtlicher Dokumente und dann zur Internationalen Polizei, Fachbereich: Auslandsangelegenheiten. Dort wird mir dann mein Reisepass abgenommen und nur auf Nachfrage erhalte ich eine Kopie davon. Angeblich kann ich ihn am Dienstag kommender Woche wieder hier abholen. Und nun? Illegal in Chile? Mein Personalausweis ist hier ja eigentlich nichts wert. Noch trotte ich Madleen hinterher ohne mich wirklich zu orientieren. Wir benötigen eine SIM-Karte. Das dürfte ja eigentlich nicht allzu schwierig sein. Und siehe da, ein Geschäft des Telekommunikationsunternehmens Entel. Doch SIM-Karten, nein, die werden hier nicht verkauft. Aber im Einkaufscenter, angeblich. Ein paar Straßen weiter öffnen sich die Türen einer riesigen Mall (,die hier auch tatsächlich so heißt). Ripley heißt eines der Warenkaufhäuser in diesem riesigen kapitalistischen Komplex. In der Mobilfunkabteilung erhalten wir allerdings ebenfalls die Information, dass es hier keine SIM-Karten käuflich zu erwerben gibt. Wir fragen nach und einer der Verkäufer kramt herum, derweil telefoniert ein zweiter der Nachfrage halber. So richtig verstehen wir nicht, was da gerade vor sich geht. Verkäufer A hat plötzlich zwei SIM-Karten in der Hand, öffnet die Kasse, legt etwa 20 Pesos hinein, lässt die Karten in einer Tüte verschwinden und überreicht sie uns. Ungläubig sehen wir ihn an, fragen, wie viel es uns kostet und er schüttelt nur den Kopf. Tja, manchmal ist die Haarfarbe nicht nur nervig.
Doch für einen Adapter, der den mir der Göttinger Saturn-Verkäufer angedreht hat, passte zwar in den USA, aber nicht in Chile, werden wir durch halb Conce geschickt. Schön auch, dass uns beim Verlassen des nächsten großen Kaufhauses eine Gruppe Demonstranten böse anschaut. Sie demonstrieren gegen Ripley, unseren SIM-Karten-Wohltäter. Wir müssen in den Baumarkt und dort werden wir dann auch fündig. Adapter, die passen.

Die nächste Überraschung wartet im Supermarkt: Gewürzgurken, Sauerkraut, Rotkohl, Roggenbrot. Der Einfluss Deutschlands auf das chilenische Supermarktwarensortiment ist definitiv vorhanden, denn es handelt sich nicht um hier produzierte Produkte, nein, selbst das Etikett ist in deutscher Sprache verfasst. Was ich davon halten soll, ich bin mir noch nicht so sicher. Generell sieht Conce für mich aus wie eine seltsame Mischung aus Europa und Südamerika (gut, ich habe bis jetzt auch nur den Großteil Kolumbiens gesehen): beziegelte Spitzdächer, kleine, feine Vorgärtchen hinter hohen Zäunen und vergitterte Fenster, nigelnagelneue Autos und durchbrochene Gehwege, zartrosablühende Kirschbäume und ein überköpfiges Kabelwirrwarr. Das reicht erst einmal. Mit eingeplastiktütetem Einkauf laufe ich am Universitäts-Campus entlang in Richtung pinklilafarbenem Zuhause.

Am zweiten Tag ist die Dusche heiß, der Morgen noch kälter, dafür strahlt der Himmel in seinem schönsten Türkis. Die Luft ist winterlich klar, der erste Gang führt zu einem der vielen Häuser neben dem Campus, hier muss ich mich melden und meine Kurse eintragen, doch so richtig weiß ich noch gar nicht, was und wie viel ich machen muss und möchte. Laut Stipendienvertrag sind es 30 ECTS, aber nur Übersetzung möchte ich gar nicht machen. Also zur nächsten Zuständigen, dort muss ich mich melden, hinter meinen Namen wird ein Häkchen platziert. Eine Menge deutscher Namen stehen an dem Whiteboard. Dann muss ich ins Büro der Studiengangsleiterin. Hier entscheide ich mich für die ersten Kurse, muss dann aber in die unterschiedlichen Fakultäten, um die jeweiligen Stundenpläne zu begutachten, es gibt hier nämlich kein zentrales Vorlesungsverzeichnis. In der Abteilung für Journalismus gibt es leider keinerlei Kurse, die ich ohne weitere Voraussetzungen belegen könnte. Ich bin nämlich im zweiten Semester gekommen, das Studienjahr beginnt hier zeitgleich mit dem Jahreswechsel. In der spanischen Abteilung ist niemand mehr anzutreffen und die Fakultät für Angewandte Kunst ist gleich ganz geschlossen. Das wird wohl diese Woche nichts mehr, selbst in die Sportkurse kann man sich erst ab Montag eintragen. Es gibt in etwa 500 Plätze für insgesamt 10 000 Studenten, da wird die Haarfarbe wohl leider nicht weiterhelfen.

Am Nachmittag findet sich dann eine Gruppe Austauschstudenten zusammen, die eine Campus-Führung erhält. 80 Prozent der Anwesenden sind Deutsche. Aber mein Ziel hier ist es ja auch nicht unbedingt, Spanisch zu lernen. Der Campus ist riesengroß und als Ort der Zusammenkunft für alle Bewohner Concepcións konzipiert. Durch ein wuchtiges Tor macht man am besten einen Bogen um das aus Mosaiksteinen gelegte Universitätswappen, denn wer darauf tritt, bleibt einem Aberglauben zufolge sein Leben lang an der Universität. In der Mitte prangt ein Glockenturm, das Wahrzeichen der Universidad de Concepción. Jeden Tag um 12.00 Uhr erklingt hier die Hymne der Universität. Es gibt einen Teich mit Enten und Schwänen, die stets mit ihrem Partner unterwegs sind, jede Fakultät hat ihre eigene kleine Mensa, allerdings heißen die hier Casino. Umgeben von Wald, sehr viel Wald macht der Campus schon Eindruck. Die Führung zieht sich bis hoch zu einem kleinen Wasserfall. Die Bibliothek gleicht einem Plattenbau aus DDR-Zeiten, leichte Wehmut macht sich breit, oh, Albertina, meine geliebte Bibliothek… Doch die in der Ferne versinkende Sonne macht einiges wett.


Der nächste Morgen will sich nicht erhellen, es bleibt grau, die Feuchtigkeit hängt in jeder Ritze. Am Nachmittag treffe ich mich mit Juan Carlos, einem Chilenen, der hier aus der Nähe kommt. Wir wandern durch die Straßen, langsam aber sicher orientiere ich mich. Am Parque de Ecuador vorbei, hin zu einem wunderschönen verfallenem Theater – dem Teatro del Liceo Enrique Molina: 1935 erbaut, 1960 geschlossen und seitdem steht es dort, wird vom Moos bewuchert, von Graffiti-Künstlern genutzt und wahrscheinlich auch für zwielichte Geschäfte. Ich bereue ein wenig, meine Kamera nicht dabei zu haben. Dann nehmen wir den Micro (so werden die kleinen Busse des öffentlichen Nahverkehrs genannt) und fahren nach Hualpén, eine an Concepción grenzende kleinere Stadt. Wir steigen erst mit den letzten Fahrgästen an der Avenida Lenga aus. Vor uns schwarzer Sandstrand, die Pazifikwellen rauschen heran, lassen den mit sich getragenen Sand am Strand und ziehen sich schweigend zurück. Immer und immer wieder. Derweil hängen sich die schweren grauen Wolken in die Wälder der umgebenden Küstenhänge. Rechts in der Ferne prangt eine riesige Ölraffinerie, die sich mit zunehmender Dämmerung immer surrealistisch-schöner in dieser Landschaft ihren Platz sucht. Vor dieser etwas seltsam-idyllischen Kulisse lassen wir uns in einem kleinen Restaurant namens „San Lorenzo“ nieder und essen Mariscol, eine Brühe mit allerlei Meeresgetier und Ei, dazu werden frittierte, blätterteigige Brötchen, scharfe Soße und eine Masse aus Tomaten, Zwiebeln und Koriander gereicht. Die Chilenen schenken das Bier aus Literflaschen aus und wundern sich darüber, wenn man ihnen erzählt, dass diese in Deutschland nicht gerade gängig sind. Wärme, endlich. Dann spazieren wir noch am verlassenen Strand auf und ab, bis sich der Himmel in der Dunkelheit verfängt und wir wieder in den Micro steigen. Auch wenn es nicht so licht war, für mich ein erster Lichtblick hier in Chile. Ich weiß, es wird dauern, mich hier zurechtzufinden und wohl zu fühlen.

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