Sonntag, 29. September 2013

Wüste Visionen


Sonnenuntergang am Berg des Kojoten

Nach gefühlt wochen-, nein, monatelangem Grau in Grau lässt sich die Sonne an einem Freitagnachmittag wieder am Himmel über Concepción blicken. Entgegen aller Gewohnheiten strömen Studenten und Nicht-Studenten in Richtung Universität. Gerade einmal zwei Tage ist es her, dass sich der Militärputsch Pinochets zum 40. Mal gejährt hat und ihm mit landesweiten, ausufernden Protestmärschen gedacht wurde. Doch das Gedenken an die vielen Verschleppten, die vielen Gräueltaten scheint schleunigst in den Hintergrund zu rücken. Die brennenden Straßenbarrikaden sind nach zwei Tagen bereits Geschichte, die zerschlagenen Schaufensterscheiben ebenso und vor allem eben auch das Erinnern, das Aufarbeiten der eigenen Geschichte. Schließlich stehen die Ramadas an. In der Woche vor dem Nationalfeiertag, am 18. September wird die Unabhängigkeit Chiles gefeiert (und eigentlich auch an den beiden darauffolgenden Tagen, da diese hier als Feiertag gelten), veranstalten die Studenten an ihren Universitäten eine riesengroße Feierei. Und die Ramadas der Universidad de Concepción sind immens. Hinter dem kleinen Ententeich reihen sich auf der matschigen Wiese Stände aller Fakultäten und Abteilungen, an denen allerlei Alkohol und typische Speisen feilgeboten werden. Bereits am Nachmittag ist es voll und mit jeder Stunden kommen mehr und mehr Menschen. Das Mobilfunknetz kollabiert, die Toiletten werden geschlossen, die Absperrungen eingerissen. Menschen, Menschen, Menschen. Unzählig viele Menschen und der Großteil hat mehr als nur ein Erdbeben getrunken. Wie lange das Spektakel tatsächlich geht, werde ich nicht erfahren. Gegen zehn Uhr abends trete ich den Heimweg an, um mich auf Reisen zu begeben. Doch nicht nur die Uni, die ganze Stadt scheint betrunken zu sein, denn auf dem Weg um Bus-Terminal torkeln uns – Jara und mir – eine Vielzahl sich nach uns umdrehende Köpfe entgegen. Meine Mitreisende erntet ein „Ich liebe dich“ von einem Unbekannten, Diego und Fernando zeigen uns ihre herausragende, hüftintensive Tanzbewegung und kommen zu unserer Rettung zurück, als ein völlig versoffener Typ nicht aufhören will, uns zu filmen. Dabei wollen wir doch eigentlich nur zum Bus, der uns nach Santiago bringt. Endlich. Um Mitternacht döse ich halbtrunken auf Sitz 25 ein und nächtige unruhig bis zur Ankunft am Terminal Borja in der chilenischen Hauptstadt. Drei Stunden Aufenthalt. Und dann in den nächsten Bus: 24 Stunden Fahrt bis nach Calama, dann werden wir mehr als 2 000 Kilometer hinter uns gebracht haben. Sobald wir das morgendliche, großstädtische Santiago verlassen, verändert sich die Landschaft: Das Grün verblasst, die ersten Kakteen schießen aus dem Boden. Noch sind die Kontraste scharf, verschwinden aber langsam mit jedem gefahrenen Kilometer. In Ovellane sind die Kakteen bereits wieder geschrumpft und spätestens nachdem wir La Serena hinter uns gelassen haben, herrschen sandige Beigetöne und ausgedörrtes Grün vor. Farbentzug in immer mehr in die Höhe wachsenden Hügel. Die Straße schlängelt sich durch geröllige Steinhänge. Wie ein Schiff schwankt der Bus durch diese waghalsige Landschaft. Noch erscheint sich die Abendsonne ein wenig Kontrast in den immer wüster werdenden Serpentinen.

Immer wieder schrecke ich aus meinem Schlafsessel hoch. Der Wüstenhimmel ist schwarz, die Scheiben beschlagen. Die Straße führt unbeleuchtet immer weiter in den Norden. Ich döse wieder weg und erst, als die Gardinen kurz vor Calama zurück gerissen werden, weckt mich das gleißende Sonnenlicht. Darin scheint sich die Landschaft aufzulösen, kein Gestrüpp mehr am Boden, alles nur noch Sand und Felsen. Ein fahles, aggressives Licht – noch kriecht der Nebel in den höheren Lagen umher. Calama, eine verschlafene, sonntägliche, flachbautige Wüstenstadt. Hin zum Supermarkt, um Wasser und Nahrungsmittel für die kommenden Tage zu erstehen. Links von mir: sich auftürmende Berge in unterschiedlichen Sandtönen und weit im Hintergrund verlieren sich die Hügelketten ihre Konturen im himmelblauen Fluchtpunkt. Davor ein ausgestorbener Jahrmarkt: ein Karussell, eine Dosenwerfbude und allerlei Fahrgeschäfte erwecken den Eindruck, dass es doch Bewohner in diesem wüsten Städtchen gibt.

Gerade so erwischen wir noch einen Bus zu unserem eigentlichen Ziel: das touristenüberschwemmte San Pedro de Atacama. Hier bin ich mit meinen blonden Haaren nicht mehr ganz allein. Der Wind fegt durch die in chilenischen Farben gehaltenen Fähnchen über meinem Kopf, die aus Stein und Lehm erbauten Häuser strahlen weiß verputzt wie die Wüstensonne. Hinter der hölzernen Eingangstür unseres Hostels (Rose d’Atacama) verbirgt sich derweil eine kleine Oase. Schlichte Zimmer mit Bambusdecken, ein Innenhof mit künstlerischer Astronomie-Ausstellung und ein verwilderter Garten bestückt mit bunten Hängematten unter Granatapfelbäumen und alten, müden Kakteen. Ruhe.

Das Zeitgefühl entzieht sich, die erste Wüstennacht unter der Bambusdecke fühlt sich bereits nach sehr viel mehr an. Frühstück unter freiem Himmel, der Wind fegt jetzt schon über die flachen Dächer, die Sonne wärmt mir den Rücken. Gemächlich schlendere ich durch das weiß verputzte Städtchen auf der Suche nach geführten Touren in die Umgebung von San Pedro, was sich durchaus als schwieriger als gedacht herausstellt. Nicht etwa, weil es zu wenig Angebote gäbe, die Unentschlossenheit ist eher der übermäßigen Auswahl geschuldet. Drei, vier Agenturen werden nach den Standardrouten gefragt, sie offerieren alle unterschiedliche und dennoch ordentliche Preise. Mit Handzetteln und Preisvorschlägen ziehen wir in Richtung Dorfplatz. Doch der ist belegt und zwar vom ersten Regiment des Militärs von Calama. Die chilenische Flagge schlägt heftige Wellen an diesem windumtosten Vormittag. Wie uns herangetragen wird, ist es bereits der dritte stürmische Tag, ein gutes Zeichen, denn es sind höchstens vier windumtosende und wüstensandaufwirbelnde Tage. Morgen oder übermorgen sollte demnach wieder Stille in den Baumwipfeln einkehren. Zumindest Windstille. Denn das Militär läutet mit chilenischer Hymne uns Parade den 18. September ein und seine Feierlichkeiten ein. Straßen und Läden sind bereits geschmückt, schon auf der Busfahrt fielen die unzähligen chilenischen Flaggen auf, die am Straßenrand der Kargheit entflohen. Nachdem das Militär im Gleichschritt abmarschiert ist, muss eine Entscheidung getroffen werden. Kurzerhand setzen wir uns zu einem älteren Pärchen, da nichts mehr frei ist. Wir kommen ins Gespräch, auf Deutsch allerdings, obwohl sie Chilenen sind. Beide entstammen nämlich deutschen Familien und haben untereinander das Deutsche gepflegt. Se erzählen, wie es hier vor 23 Jahren war, als die Einheimischen noch im Stadtzentrum wohnten und nicht am Stadtrand, der immer weiter in Richtung Wüste ausfranst. Heute sind hier nur noch Restaurants und Reiseagenturen zu finden. Dem Massentourismus sei Dank. Und dem nehme ich mich ja nicht aus, denn auch ich will die trockenste Wüste der Welt bestaunen.
Die Entscheidung wird gefällt, die teurere, aber vertrauenswürdigere Variante. Die erste Fahrt gleich heute Nachmittag, ins Valle de la Luna, das Mondtal. Cristina erzählt uns im Bus, in dem Jara und ich wie auch weitere 20 Touristen sitzen, von der Entstehung, der Bedeutung und der Nutzung des Tals, welches mittlerweile ein Naturpark ist – verwaltet von den Atacameños, den ursprünglichen Bewohnern dieser Region. Das Mondtal ist salzweiß. Durch schmale Höhlen, die vor tausenden von Jahren einmal Flüsse waren, gelangen wir hinauf in eine unebene, zerrüttete Landschaft. Eine Salzkruste beherbergt hier wohl ein paar winzige Lebewesen: Bakterien. Drei betende Marien erheben sich im hinteren Teil des Tals gen Himmel, der Wind fegt mir Sand in jede Pore meines Körpers. Droben ruht ein versteinerter Dinosaurier gleich neben der dunkelsandigen Großen Düne. Während der Großteil dieses Gefühl von Freiheit durch seine Kameras und Handys genießt, stehe ich da und atme sandige, versalzene Luft ein – Mondluft? Ein kurzer Abstecher ins Valle de la Muerte, das Todestal, welches der rötlichen Marsoberfläche ähnelt und dann schaffen wir es gerade noch so zum Sonnenuntergang auf den Berg des Kojoten. Die wenigen Wolken am Himmel sorgen für ein ansehnliches Farbenspektakel. Auf der einen Seite geht die Sonne blutrot in den Andenkordilleren unter, auf der anderen Seite malt sich ein unwirkliches Gemälde in den Himmel. Der Licancabur-Vulkan mit seinen mehr als 5 000 Metern verfärbt sich rosablassblauviolett, der Himmel wird gar zweidimensional, es fehlt nur noch der Rahmen drum herum und ein kitschig-schönes Panorama würde perfekt gezeichnet daher kommen.

Ein schlafender Dinosaurier im Mondtal

Morgens um acht sind die Straßen San Pedro de Atacamas noch ruhig. Nur vereinzelt stehen Touristen herum, ein paar Einheimische radeln mit frischem Brot durch die Straßen, doch ansonsten wirkt der 12 000 Einwohner starke Wüstenort noch sehr verschlafen. An diesem Morgen brechen wir mit Víctor und einer Hand voll anderer Touristen auf. Unser erstes Ziel: der Salar de Atacama, eine Salztonebene, eine Stunde Fahrt entfernt. In dieser riesigen Ebene, die aussieht, als wäre sie übersät von riesigen zersplitterten Kristallen oder gar wie ein überseeisches Korallenriff tritt die zerrissene Oberfläche empor. Alles ist gleißend weiß und steht im starken Kontrast zu den fernen wüstenroten Bergen, die sich in einem violetten Blau baden. Die rissige Oberfläche wird von feinen wie Nervenbahnen fließenden Wasserläufen durchzogen, unterirdische Zuläufe, die die zweitgrößte Salztonebene der Welt mit Mineralien und dem so kostbaren Wasser nähren. Die Mineralien oxidieren, ein paar Bakterien leben unter diesen eher lebenswidrigen Bedingungen, der feindliche Geruch steigt mir in die Nase. Und doch gibt es Lebewesen: rosafarbene Lebewesen. Flamingos finden hier ihr Grundnahrungsmittel, drei Arten kann man hier antreffen: den Andenflamingo, den Jamesflamingo und den Chileflamingo. Sie unterscheiden sich in Größe und Farbe des Gefieders und Gebeins.

Flamingos über der Laguna Chaxa

Auch andere Wasservögel finden hier ihre Nahrung. Sie stochern, sieben, spiegeln sich und dann erheben sie sich in die Lüfte. Es ist schon fast zu kitschig, diese bestaunte Natur. Auf einem schmalen, versalzenen Pfad wandle ich durch diese form- und farbrare Unwirklichkeit, verliere mich in den kristallschwangeren Riesenaustern, in deren Form die Oberfläche hier zu Tage tritt. Es ist schwierig, für all diese Formen und Farben Worte zu finden, also versuche ich, sie aufzusaugen, damit ich irgendwann die richtigen Worte dafür finde. Wir verlassen diese Traumlandschaft und machen uns auf in windige Höhen, vorbei an dem 100-Seelen-Ort Socaire (und trotzdem gleich zwei Kirchen). Der Kleinbus kämpft mit den Höhenmetern, Kilometer um Kilometer, die Landschaft verändert sich wieder. Auf der einen Seite die Anden mit ihren unzähligen schneebedeckten Vulkangipfeln, auf der anderen Seite das Atacama-Tal, welches immer mehr seine Konturen verliert und fast einem riesigen Wüstensee gleicht. Auf 4 200 Metern Höhe machen wir Halt. Mit ein paar Coca-Blättern im Mund und windkapuzengeschützt stiefele ich über teils vereiste Wege zur Laguna Miscanti, ein See, der sich aus Regenwasser, ein paar unterirdischen Zuläufen und Gletscherwasser speist.

Laguna Miscanti hoch oben nah am Himmelszelt

Und wieder fehlen mir die Worte, es ist still, bis auf das Rauschen, ja, das eisige Pfeifen des Windes. Wortloses Staunen und das sich wiederholende Sich-Verlieren, in den Linien, den Farbtönen, den Kontrasten. Einfach nichts mehr denken. Hinunter zur Lagune, stehen, sehen, sein. Auf dem Rückweg unterhält sich Rudi mit mir, ein Deutscher im Auslandsschuldienst, schon ein wenig in die Jahre gekommen erzählt er von seiner Zeit als Rucksacktourist vor 30 Jahren, noch zu Zeiten Pinochets. Am liebsten würde ich hier bleiben, alle ziehen lassen, erstarren und staunen. Aber der Magen knurrt und viele halten es nicht länger aus. Der Weg führt uns zurück nach Socaire. Dort essen wir zu Mittag, für diejenigen, die wollen, gibt es Lamafleisch, ich greife dagegen dankend zum Quinoa-Bratling. Ein paar lamaähnliche Gefährten sind uns in den eisigen Höhen entgegen gekommen, Vikunjas grasen zwischen den kläglich-gelben Grasbüscheln, die hier wie Blondschopfe aus dem rissig-roten Wüstenboden sprießen. Das Lamafleisch mundet, die Quinoa ebenfalls, selbst die pikante Soße brennt nur noch leicht auf meinen vor Trockenheit aufgesprungenen Lippen. Ich spaziere durch das Dörfchen, zwei Nonnen laufen mir über den Weg, zwei Hunde, ein wenig Musik und die beiden Kirchenkreuze. Im Hintergrund wieder und wieder die schneebedeckten Vulkanriesen. Zu meiner Rechten liegt in nicht allzu weiter Ferne Argentinien. Vor meiner Nase, gerade so sichtbar, am Horizont Bolivien. Ein kurzer Halt mitten in der Wüste an einem Stapel-Stein-Feld. Wir stehen genau auf dem südlichen Wendekreis. Die Statik hier scheint kleine Wunder möglich zu machen. Steine lassen sich ohne größere Probleme zu skurrilen Turmfiguren aufstapeln, ohne dass sie umfallen. Víctor erzählt uns, wie die Inkas während ihrer Herrscherzeit halb Südamerika eroberten. Die Sonnensöhne schlugen einen Hauptweg entlang der Kordilleren ein und zweigten immer wieder davon ab, sodass ein ausgeklügeltes Netz entstand. Ein letzter Halt noch in Toconao, einem kleinen Ort mit kaktusholzgedeckter Kirche. Wir streifen verloren durch die Ortschaft und gelangen durch Zufall zu einer Weberin, in deren Hinterhof ein alter Webstuhl steht und siehe da, drei Lamas dösen im Schatten der Kakteen in ihrem Ställchen. Lamas und Alpakas leben hier mittlerweile nicht mehr in freier Wildbahn, sondern werden als Nutztiere gehalten. Voller Stolz erzählt uns die ältere Dame von einem Zeitungsartikel. Ein Foto von ihr prangt in einem uralten HB Bildatlas, der auf einem lamawollenen Mützenberg liegt.

Ausgeschlafen im sonnigen Innenhof frühstücken. Herrlich. Es scheint, als sei der Wind tatsächlich vorübergeweht. Heute werden Räder gemietet, Focus-Räder mit dem deutschsprachigen Hinweis, dass sie laut StVO nicht für den Straßenverkehr geeignet sind. Aber doch wohl für den Wüstenverkehr. Endlich ist es warm in der Wüste, warm genug für kurze Kleidung und eine ausgiebige Fahrradtour. Unverfehlbar sind die 16 ebenen Kilometer bis zur Laguna Cejar recht schnell hinter sich gebracht. Windstill spiegelt sich die hintergründige Vulkankette in der Laguna Tepenquiche, ein paar einsame Flamingos durchforsten den farbenreichen Salzsee nach Nahrung. Selbst das Blässhuhn scheint die Zeit vergessen zu haben, hockt mit Blick in Richtung Bolivien auf einer trockenen Stelle im See und schweigt. Am liebsten würde ich es ihm gleichtun. Aber ein wenig Schatten wäre auch nicht schlecht. In der daneben liegenden Laguna Cejar ist das Baden gestattet. Der Salzgehalt ist hier so hoch, dass man an der Wasseroberfläche schwebt. Ein kleiner schattiger Unterschlupf, fernab von den zahlreichen Touristen auf der anderen Uferseite. Das Wasser hinterlässt Salzflecken und eine Haut, die dem rissigen Wüstenboden gleicht. Die Mittagshitze streift vorbei und irgendwann brechen wir wieder auf nach San Pedro de Atacama, wo der 18. September bereits in vollem Gange ist. Zurück im Ort torkeln mir auf dem abendlichen Spaziergang bereits die ersten Volltrunkenen über den Weg. Später geselle ich mich zu Jorge, Cristian und Alejandro, drei Chilenen, die auch im Hostel wohnen. Wir trinken Pisco auf den chilenischen Nationalfeiertag, unterhalten uns, gehen tanzen bis in den frühen Morgen. Die Nacht wird heute mal zum Tag. ¡Salud Chile!

Zwar bin ich früh wach, doch dieser Tag wird dem besten Freund des Menschen gewidmet: der Hängematte. Ich schaukele und lese und döse im Schatten. Der Wind fegt mit dem Fortschreiten der Zeit immer stärker durch die Äste. Ich lerne Gonzalo kennen, ein Chilene, der seit 30 Jahren regelmäßig nach San Pedro kommt, zu diesem Zeitpunkt kenne ich allerdings seinen Namen noch gar nicht. Er spaziert mit Jara und mir zu einem kleinen „Wasserfall“, eigentlich nur ein Süßwasserzulauf und erzählt uns ein wenig über die Fauna des Ortes. Überall in San Pedro stehen gelbblütige Bäume, die irgendwann Datteln heranreifen lassen, der Chañar-Baum. Das Rica-Rica-Kraut dagegen hat leichte Züge von Zitronengras und wird nicht nur als Tee getrunken, sondern auch zu Eis verarbeitet. Das essen wir auf dem Marktplatz während aus der offenen Kirchentür das Vater Unser zu uns herüberklingt.

Diese Nacht war kurz und schlafarm. Um 3.30 Uhr klingelt der Wecker, auf San Pedros Straßen sind nur Betrunkene und wohlgenährte Straßenhunde unterwegs, im taktverlorenen Schwall weht die Morgenbrise Musik von den Ramadas durch die Straßen. Wir warten eine halbe Ewigkeit darauf, dass wir eingesammelt werden. Endlich, durchgefroren und verschlafen, fahren wir in die nächtliche Wüste, um zu einem der größten Geothermalgebiete der Welt zu gelangen, an denen Geysir ihr morgendliches Spektakel präsentieren.  Noch prangen die unzähligen Sterne am Nachthimmel, erst langsam verdrängt das Morgenblau das Nachtschwarz. Als ich aussteige, fährt mir Kälte in die Glieder, Außentemperatur auf 4 300 Meter Höhe: -9°C. Am Fuße des El-Tatio-Vulkans (dem „Großvater, der weint“ in der kunza-Sprache) speien Geysire ihr kochend heißes Wasser mit 85°C in die Höhe. Aus der Erde dampft und brodelt es. Bei Minustemperaturen und solange es die Sonne noch nicht über die Bergspitzen geschafft hat, sieht man den aufsteigenden Dampf umso besser. In einem der irdenen Kochtöpfe werden unsere Frühstückseier hart und auch der Kakao wird dort im Tetrapack erwärmt. Heißer Tee, ein belegtes Brötchen und dazu ein geothermal gekochtes Ei – was für ein Frühstück bei klirrenden Temperaturen und mit Sicht auf die flüchtigen Dampfsäulen. Ab in den Bus (mit jeweils einem Ei als Handwärmer in der Tasche), die Fahrt ist kurz, doch in der Zwischenzeit geht die Sonne auf. Wir fahren zum Asesino-Geysir, dem Mörder-Geysir, dort ist vor Jahren ein Tourist aus Torheit ins kochende Wasser gefallen und nach einigen Monaten an den Folgen seines Unfalls gestorben. Seitdem werden dem Geysir mörderische Absichten unterstellt. Ein paar Meter weiter stehen Umkleidekabinen. Es kostet ein wenig Überwindung sich bei Minustemperaturen zu entkleiden, aber man geht ja nur einmal in einem von Geysirwasser gespeisten Becken baden. Allzu lange bleibe ich allerdings nicht im Wasser, sonst komme ich gar nicht mehr raus. So richtig kalt ist es auch gar nicht mehr, als ich mich wieder angezogen habe.

Geothermalfeld am Fuße des El-Tatio-Vulkans


Auf dem Rückweg sehen wir ein paar heimische Vögel, noch viel mehr Vikunjas und sogar das ein oder andere Lama in der Nähe einer Siedlung, die von Touristen überschwemmt wird. Zurück im Hostel genehmige ich mir eine Pause in der Hängematte, aber irgendwie bin ich unruhig und muss mich noch ein wenig bewegen. Prompt klingelt mein Handy, das ich eigentlich fast die ganze Zeit ausgeschaltet habe und Diego fragt mich, ob ich nicht Lust auf eine kleine Fahrradtour habe. Er saß auf der Busfahrt hinter uns und durch Zufall haben wir dieselben Touren gemeinsam gemacht. Sportlehrer aus Santiago, der aber im Norden, in Copiapó, arbeitet. Radfahren? Das lasse ich mir nicht entgehen. Mit Vollgas geht es über befestigte und unbefestigte Straßen, wir durchqueren den kleinen Fluss einmal zu viel, bleiben im Wüstensand stecken und sehen Zacken an Zacken im Catarpe-Tal. Doch leider wird es bereits wieder dunkel, sodass wir nach knapp anderthalb Stunden den Rückweg antreten müssen. Auf dem Hinweg scheinen wir eine winzige, nicht spürbare Steigung in Kauf genommen zu haben, denn auf dem Rückweg muss ich nur rollen, nichts weiter machen. Ein unglaubliches Gefühl der Freiheit, des Wohlseins durchströmt mich. Die Himmelfarben werden pastellener und die Konturen werden mit jedem weichenden Sonnenstrahl weicher. Die Nacht rückt näher und näher…


Ein letzter Tag in der Wüste. Und noch einmal aufs Rad, diesmal greife ich auch gerne zum Helm, denn es geht in die Garganta del Diablo, den Teufelsrachen. Anfangs ist es dieselbe Strecke wie die gestrige. Kurz machen wir noch Halt am Mirador de Quitor, ein Aussichtspunkt hoch oben über der Atacama-Wüste, wo auch ein paar Ruinen stehen. Doch die sind lange nicht so beeindruckend wie die Aussicht. Im Teufelsrachen hält sich so gut wie niemand sonst auf, wir kurven durch die Schluchten, die Sonne brennt erniedrigend auf uns herab. Ich fahre und fahre, ab und an bleibe ich stecken, aber mit viel Kraft komme ich da auch wieder heraus. Irgendwann verzweigt sich der Weg so sehr, dass nicht ganz klar ist, wo wir eigentlich lang müssen. Also folgen wir den Fahrradreifenspuren hinauf. Und wieder fehlen mir die Worte um die verwinkelten rötlichen Teufelshügel in ihrer Schönheit zu beschreiben. Mein Körper ist mittlerweile wüstenangepasst, eine leichte Dreckschicht zieht sich über meine Gliedmaßen. Wir kehren um, nicht dass uns diese Hölle am Ende noch verschlingt. Und wieder ist der Rückweg schneller, einfacher und spaßiger. Ein wenig Konzentration und ich komme ohne Sturz aus dem Teufelsrachen heraus. Wir folgen der Parallelstraße, ein gefühlter Orkan verpasst der Dreckschicht ein Wüstenpeeling. Nach fünf Kilometern kommen wir an einer kleinen Kapelle im Nirgendwo an. Im Schatten lassen wir uns nieder, genehmigen uns eine letzte Wüstenpause und radeln dann zurück, um einen letzten Spätnachmittag in San Pedro zu verbringen, bevor wir morgen unsere 40-stündige Rückreise anbrechen werden. Adiós Formen- und Farbgewalt.

Wüste Aussicht

Freitag, 13. September 2013

Im Dunkeln ist gut munkeln

Der Pazifik bei Lota grau in grau

Dieser Sonntag ist wolkenverhangen, gefühlt hat sich der Vorhang mit jedem Tag dichter gezogen, aber das mag auch reine Einbildung sein. Bevor der Wecker klingelt und ich aufgrund der vorgezogenen Zeitumstellung komplett verwirrt bin, lärmen irgendwann früh morgens, als schon fast die Sonne hinter dem Vorhang aufgeht, eine Horde Austauschstudenten vor meinem Fenster rum. Lautstark und in gebrochenem Spanisch werden unerhebliche Dinge diskutiert bis geschrien, sodass an ein friedliches Weiterschlafen kaum zu denken ist. Meinetwegen, dann stehe ich halt auf. Ich weiß so oder so nicht, ob es fünf oder sechs Uhr morgens ist. Eigentlich stellt sich mein Uralt-Mobiltelefon nicht von selbst um, mein Laptop jedoch schon. Nur leider zeigen sie beide dieselbe Zeit an. Irgendetwas stimmt da nicht. Nach ein wenig Recherche und manueller Umstellung ist es sechs Uhr. Zeit fürs Frühstück, Rühreier aufs Brot, heftig deftig, denn heute geht es unter Tage. Ich mache mich auf den Weg durch das frühe sonntägliche Conce. Aber ich bin nicht alleine unterwegs. Während ich strammen Schrittes auf dem Bürgersteig laufe, kommen mir erst vereinzelt, dann immer mehr Läufer entgegen. Ein Stadtlauf am Morgen nach der Zeitumstellung? Ob da nicht vielleicht auch jemand verwirrt war. Es scheint, als sei der Wettlauf von der Armee organisiert, zumindest tragen die meisten Tarnhemden, aber die Teilnehmer sehen nicht gerade alle nach Militär aus. Irgendwann entdecke ich auch die ersten Frauen, ziemlich wenige im Verhältnis.

Gut, dass ich nicht laufen werde, zumindest nicht so gehetzt wie die meisten Teilnehmer hier. Ich steige zusammen mit Andrea in den Bus in Richtung Lota, ein Städtchen im Südwesten von Conce gelegen. Nach einer Stunde Fahrt steigen wir in einem diesigen Getümmel von Nebelschwaden aus und suchen ihn: den Chiflón del Diablo (die „Brise des Teufels“). Bei diesem angsteinflößendem Namen handelt es sich um eine Kohlemine, die bis zum Jahre 1990 in Betrieb war und den Besitzer mit Reichtum bescherte und die Minenarbeiter mit einem kurzen Leben versehrte. Sie ist die einzige Mine weltweit, die sich unter dem Meer befindet.
Zunächst erfahren wir von einem ehemaligen Minenarbeiter, Pedro, wie das Leben hier im 19. Jahrhundert aussah. In hölzernen Wohnblöcken wurden die Minenarbeiter und ihre kinderreichen Familien untergebracht, ohne Strom, ohne Wasser und eigentlich ohne jeglichen Komfort. Bis zu zwanzig Kindern sollen viele gehabt haben, billige Arbeitskräfte für die Besitzer, denn die Kinder wurden bereits mit acht Jahren unter Tage befördert, um dort wie ihre Väter zwölf Stunden zu schuften. Wir nehmen den komfortablen Weg hinunter ins Erdreich: ein kleiner Käfig, in dem etwa vier Leute kuscheln können. Und es geht hinab, mehr als 500 Meter in die Tiefe. Wir stehen in einem nicht sonderlich hohen Schacht, warten auf die Vervollständigung der Gruppe und dann legt Pedro los. Erzählt und erzählt, drückt vielleicht einmal zu viel auf die Tränendrüse, stellt aber doch sehr anschaulich das Leben unter Tage dar. Dann bittet er uns, unsere Kopflampen auszumachen und zu schweigen. Was einigen nicht ganz so leicht fällt, insbesondere dem knapp sechsmonatigem Kleinstkind, das die verantwortungsbewussten Eltern mit in die Finsternis genommen haben. Aber dann herrscht Stille und absolute Dunkelheit. Ich sehe nichts, nicht einmal den Hauch einer Abzeichnung meiner Hand. Und dennoch fühle ich mich wohl, einmal nicht mit Eindrücken überfordert, mit der ständigen visuellen Konfrontation. Stille. Augenstille. Viel zu schnell dürfen wir unsere Lampen wieder einschalten. Dann kraxeln wir durch einen 90 cm hohen Gang, über 120 m eine gute Übung für die Oberschenkel. Manchmal ist klein sein dann doch von Vorteil. Die Muscheln krachen unter dem Gewicht der kläglichen Minenarbeiterimitatoren. Mit Geschichten von beißenden Ratten und fehlender Kanalisation im Hinterkopf geht es langsam wieder hinauf. Diesen Weg sind die Arbeiter damals gegangen, hinein und nach einem harten Arbeitstag auch wieder hinaus, sie durften nicht wie wir mit dem Aufzug unter Tage fahren. Und einige sind auch nicht lebendig aus der Mine herausgekommen. Die offiziellen Zahlen liegen bei etwa 1 800 Menschen, darunter auch viele Kinder, aber die tatsächliche Zahl wird um das Vielfache höher sein.

Im Parque Isidora Cousiño


Der Familie Cousiño, die zu den zehn reichsten Familien weltweit gehörte, ließ sich natürlich allerlei Paläste im ganzen Land und auch im Ausland errichten. In Lota selbst wurde ein riesiger Park angelegt, als Geschenk für Isidora Cousiño von ihrem Ehemann. Der Park mutet mit viel Mystik an, Andrea und ich scheinen die einzigen Besucher zu sein. Kleine verwinkelte Wege, die sich kreuzen und verlieren. Lilien, die aus dem festen Boden emporstreben, Statuen über Statuen. Ein Brunnen mit schwarzem Grund, damit Isidora den Sternenhimmel bestaunen konnte, ohne de Kopf heben zu müssen. Und hinter der Absperrung ein aufgewühlter Pazifik, so wie ich ihn mir vorgestellt habe. Die Wellen brechen, der Horizont existiert nicht, von einer dichten Nebelwand verschluckt. Genau das richtige Wetter, um sich hier zu verlieren.

Samstag, 7. September 2013

Regenreich beschenkt


Magnolien in Conce
Ein Donnerstag wieder jeder andere? So weit käme es gerade noch. Der Wecker klingelt, ich bin wie immer die erste, die sich in dem nun nur noch neunköpfigen Haus regt. Die erste Nacht in meinem neuen, noch immer lavendelfarben gestrichenen Zimmer im ersten Stock. (Meine Schlafgewohnheiten sind andere als die des Großteils meiner Mitbewohner, sodass ich vorgezogen habe, aus dem Zimmer direkt neben dem Gemeinschaftsraum, in dem oft und lautstark zusammen gegessen, gesessen und geredet wird, auszuziehen.) Ein Donnerstagmorgen, seit ein paar Tagen stapeln sich Wolkendecken kuschelig auf den Himmel und betten Concepción in ein seichtes Grau. Die Pfützen auf den Straßen wachsen stetig, bis ein netter Autofahrer sie wieder schrumpfen lässt, indem er hindurch braust und den Bürgersteig gleich mitwäscht. Das regelmäßige Tropfen auf das Schrägdach, unter dem sich mein Kopf nun befindet, will mich eigentlich unter der quietschgrünen Federdecke einschläfern. Aber heute frage ich mal nach, wie es um mein Visum steht. Raus aus dem Bett, rein in die mehr oder minder regenfesten Klamotten und abwegig durch die Stadt. Anstatt den Weg durch die Uni, die heute aufgrund landesweiter Protestmärsche ausfällt, gehe ich in Richtung Wald (wobei auch das in Conce keine konkrete Richtungsangabe ist, denn irgendwie ist die ganze Stadt umwaldet), zweige ich kleine Straße ab, bis ich über die vierspurige Straße Bernardo O’Higgings zum Plaza de Independencia gelange. Dort befindet sich das kleine Büro, wo ich schon einmal meinen Reisepass hinterlassen durfte. Und auch heute werde ich passlos nach Hause spazieren. Ich erhalte mein Visum, aber erst nachdem ich 42 321 Chilenische Pesos in der Bank nebenan eingezahlt habe. (Gerechnet habe ich mit der Hälfte, da es in Deutschland hieß, es sei günstiger, das Visum vor Ort zu beantragen.) Jetzt heißt es bis Dienstag warten, um dann hoffentlich endlich mit den ganzen bürokratischen Scherereien weitermachen zu können. Schließlich brauche ich auch hier noch einen chilenischen Ausweis mit der so genannten RUT, der Ausweisnummer, ohne die hier so gut wie nichts möglich ist. Und vielleicht gibt es dann auch irgendwann meinen Studentenausweis.

Leichten Fußes mache ich mich auf den Rückweg, verliere mich in den verwaschenen Häuserfarben, den herabregnenden Blütenblättern der knorrigen bäumlichen Rahmen, die fast jede Straße in ein verwittertes Gemälde zu verwandeln scheint, den den Kapitalismus anklagenden Graffitis, dem in den hohen Bäumen hängenden Nebel. Und es ist das erste Mal, dass ich denke: Mir gefällt diese Stadt. Knapp einen Monat hat es gedauert und es wird noch einige dauern, bis ich mich hier wohl fühlen werde. Da ich heute keine Seminare habe, beginne ich mal, meine Literaturliste in Angriff zu nehmen: Los pasos perdidos von Alejo Carpentier steht ganz oben auf der Liste. Ein paar Seiten weiter und zwei Telefonate später beschließe ich mir gemeinsam mit Jara die Füße zu vertreten. Noch immer hängt der Himmel in den Kniekehlen und trotzdem ist es nicht duster, eher aschgrau bis fahl. Die Magnolien sind rings um uns herum aufgeblüht, die ersten Stiefmütterchen wurden in die hinter mehr als constanzehohen Gittern versteckten Gärtchen gesetzt, doch viele Bäume sind noch blattlos. Über Umwege, die eigentlich keine sind, gehen wir zum Parque Ecuador, dort überkommt es mich und setze mich auf die Schaukel. Höher und höher, bis es quietscht, aber noch nicht ächzt. In Sichtweite steht „sonrie“ auf der Rückseite eines Straßenschildes geschrieben, „lächele“.

Wie der Wald in den Wolken verschwindet


Nach dieser kleinkindlichen Attacke dringen wir weiter vor in die innenstädtischen Straßen, gefüllt mit allerlei Gesichtern, Gangarten und Gemächlichkeiten. Es ist nicht hektisch, die Füße der penquistas, so nennen sich die Bewohner Concepcións selbst (da das zunächst im Jahre 1546 von Pedro Valdivia eroberte Concepción weiter am Meer lag, dort, wo heute die Ortschaft Penco liegt, er die Stadt aber einfach versetzt hat), gehen in gemäßigtem Trott über die Bürgersteige. Irgendwann sind wir an unserem Ziel: Años Luz („Lichtjahre“). Schon beim Blick auf das Hinkefuß-Spiel auf dem Gehweg vor der Lokalität, von dem aus es  hinunter in diese kleine Welt voller Überraschungen geht, öffnet ein Tor. Warmes, gelbliches Licht, das von auf alte Nähmaschinenfüße gesetzte Lampenschirmen ausgeht zeichnet sich in allen Winkeln dieses Labyrinthes ab. Aus einem Familienfoto aus anderen Zeiten stehlen sich Blicke von Vater, Mutter, zwei Söhnen und einer Tochter ins Hier und Jetzt. Auf dem Kopf herum hängen alte hölzerne Skier, ein Lederkoffer, mit dem man wunderbar in Gedanken „Ich packe meinen Koffer“ spielen kann. Vom Staunen schon ganz satt, werfe ich einen Blick in die übersichtliche Karte und wähle die chocolate submarino aus, dazu ein alfajor. Das kleine vor mir liegende Brettchen ist als Unterlage gedacht, darauf eine Garderobe, an der ein Hut, ein Schirm und ein rosafarbener Schal hängt. Ich staune weiter über die Vielzahl von der Größe, Form und Farbe nach aufgereihten Büchern. Eine kleine Stadtgeschichte. Neben der Familienfotografie die Mutter Gottes mit dem Jesuskind in ihren Armen umrahmt von einem schwungvollen Relief. An den Wänden Flaggen aller Herren Länder, Waagen, alte Flaschen, Miniaturautos, Schießeisen, eine Miniaturschreibmaschine, von der ich von nun an träume. In der Ecke eine verschlossene Schatztruhe, als ob man all diese Schätze gedanklich verstecken müsste. Hinter der Eingangstür versteckt sich eine alte Holztür mit gelbem Blindglas und der Hausnummer 756. Und das Schönste? Die Zeit steht still, auf sämtlichen alten Uhren und Weckern steht die Zeit. Denn alles hier braucht seine eigene Zeit, um erzählt zu werden. Seinen Blick über alles gleiten zu lassen. Kein Zeiger bewegt sich, um das Verschwinden der Stunden anzuzeigen. Selbst die über dem Tresen hängende Uhr zeigt ewig 12.25 Uhr. Die Uboot-Schokolade steht vor mir, eigentlich die heiße Milch und der in Uboot-Form gegossene Schokobarren, daneben zwei perfekt drapierte Rosinen. Langsam versinkt das Uboot in der heißen Milch, die letzten Bläschen steigen auf und es ist geschmolzen. Und auch das Gebäckstück mit der süßklebrigen Manjar-Masse schmilzt nur so dahin, auf meiner Zunge. Da fährt mir beinahe ein schwarz-weißer Radfahrer ins Gesicht, heraus aus seinem hölzernen Rahmen hinein in meine versunkenen Gedanken. Zeit. Die endlos erscheint. Irgendwann machen wir uns auf, bekommen als Abschiedsgeschenk noch einen frischen Erdbeersaft, da ist es um mich geschehen. Ich habe mich verliebt. In einen Ort.


Draußen empfängt uns eine dämmernde Stadt, in der sich die überirdischen Stromkabel mit den feinen Zweige der Bäume vereinen, wenn man in den grau-blauen Himmel hinaufsieht, in der die orangefarbenen Straßenlaternen verschwommene Kreise in den abendlichen Himmel legen, in der ich mich allmählich wohl fühle.