| Der Pazifik bei Lota grau in grau |
Dieser
Sonntag ist wolkenverhangen, gefühlt hat sich der Vorhang mit jedem Tag dichter
gezogen, aber das mag auch reine Einbildung sein. Bevor der Wecker klingelt und
ich aufgrund der vorgezogenen Zeitumstellung komplett verwirrt bin, lärmen
irgendwann früh morgens, als schon fast die Sonne hinter dem Vorhang aufgeht,
eine Horde Austauschstudenten vor meinem Fenster rum. Lautstark und in
gebrochenem Spanisch werden unerhebliche Dinge diskutiert bis geschrien, sodass
an ein friedliches Weiterschlafen kaum zu denken ist. Meinetwegen, dann stehe
ich halt auf. Ich weiß so oder so nicht, ob es fünf oder sechs Uhr morgens ist.
Eigentlich stellt sich mein Uralt-Mobiltelefon nicht von selbst um, mein Laptop
jedoch schon. Nur leider zeigen sie beide dieselbe Zeit an. Irgendetwas stimmt
da nicht. Nach ein wenig Recherche und manueller Umstellung ist es sechs Uhr.
Zeit fürs Frühstück, Rühreier aufs Brot, heftig deftig, denn heute geht es
unter Tage. Ich mache mich auf den Weg durch das frühe sonntägliche Conce. Aber
ich bin nicht alleine unterwegs. Während ich strammen Schrittes auf dem
Bürgersteig laufe, kommen mir erst vereinzelt, dann immer mehr Läufer entgegen.
Ein Stadtlauf am Morgen nach der Zeitumstellung? Ob da nicht vielleicht auch
jemand verwirrt war. Es scheint, als sei der Wettlauf von der Armee
organisiert, zumindest tragen die meisten Tarnhemden, aber die Teilnehmer sehen
nicht gerade alle nach Militär aus. Irgendwann entdecke ich auch die ersten
Frauen, ziemlich wenige im Verhältnis.
Gut,
dass ich nicht laufen werde, zumindest nicht so gehetzt wie die meisten
Teilnehmer hier. Ich steige zusammen mit Andrea in den Bus in Richtung Lota,
ein Städtchen im Südwesten von Conce gelegen. Nach einer Stunde Fahrt steigen
wir in einem diesigen Getümmel von Nebelschwaden aus und suchen ihn: den Chiflón del Diablo (die „Brise des
Teufels“). Bei diesem angsteinflößendem Namen handelt es sich um eine
Kohlemine, die bis zum Jahre 1990 in Betrieb war und den Besitzer mit Reichtum
bescherte und die Minenarbeiter mit einem kurzen Leben versehrte. Sie ist die
einzige Mine weltweit, die sich unter dem Meer befindet.
Zunächst
erfahren wir von einem ehemaligen Minenarbeiter, Pedro, wie das Leben hier im
19. Jahrhundert aussah. In hölzernen Wohnblöcken wurden die Minenarbeiter
und ihre kinderreichen Familien untergebracht, ohne Strom, ohne Wasser und
eigentlich ohne jeglichen Komfort. Bis zu zwanzig Kindern sollen viele gehabt
haben, billige Arbeitskräfte für die Besitzer, denn die Kinder wurden bereits
mit acht Jahren unter Tage befördert, um dort wie ihre Väter zwölf Stunden zu
schuften. Wir nehmen den komfortablen Weg hinunter ins Erdreich: ein kleiner
Käfig, in dem etwa vier Leute kuscheln können. Und es geht hinab, mehr als 500
Meter in die Tiefe. Wir stehen in einem nicht sonderlich hohen Schacht, warten
auf die Vervollständigung der Gruppe und dann legt Pedro los. Erzählt und
erzählt, drückt vielleicht einmal zu viel auf die Tränendrüse, stellt aber doch
sehr anschaulich das Leben unter Tage dar. Dann bittet er uns, unsere
Kopflampen auszumachen und zu schweigen. Was einigen nicht ganz so leicht
fällt, insbesondere dem knapp sechsmonatigem Kleinstkind, das die
verantwortungsbewussten Eltern mit in die Finsternis genommen haben. Aber dann
herrscht Stille und absolute Dunkelheit. Ich sehe nichts, nicht einmal den
Hauch einer Abzeichnung meiner Hand. Und dennoch fühle ich mich wohl, einmal
nicht mit Eindrücken überfordert, mit der ständigen visuellen Konfrontation.
Stille. Augenstille. Viel zu schnell dürfen wir unsere Lampen wieder
einschalten. Dann kraxeln wir durch einen 90 cm hohen Gang, über
120 m eine gute Übung für die Oberschenkel. Manchmal ist klein sein dann
doch von Vorteil. Die Muscheln krachen unter dem Gewicht der kläglichen
Minenarbeiterimitatoren. Mit Geschichten von beißenden Ratten und fehlender
Kanalisation im Hinterkopf geht es langsam wieder hinauf. Diesen Weg sind die
Arbeiter damals gegangen, hinein und nach einem harten Arbeitstag auch wieder
hinaus, sie durften nicht wie wir mit dem Aufzug unter Tage fahren. Und einige
sind auch nicht lebendig aus der Mine herausgekommen. Die offiziellen Zahlen
liegen bei etwa 1 800 Menschen, darunter auch viele Kinder, aber die
tatsächliche Zahl wird um das Vielfache höher sein.
| Im Parque Isidora Cousiño |
Der
Familie Cousiño, die zu den zehn reichsten Familien weltweit gehörte, ließ sich
natürlich allerlei Paläste im ganzen Land und auch im Ausland errichten. In
Lota selbst wurde ein riesiger Park angelegt, als Geschenk für Isidora Cousiño
von ihrem Ehemann. Der Park mutet mit viel Mystik an, Andrea und ich scheinen
die einzigen Besucher zu sein. Kleine verwinkelte Wege, die sich kreuzen und
verlieren. Lilien, die aus dem festen Boden emporstreben, Statuen über Statuen.
Ein Brunnen mit schwarzem Grund, damit Isidora den Sternenhimmel bestaunen
konnte, ohne de Kopf heben zu müssen. Und hinter der Absperrung ein
aufgewühlter Pazifik, so wie ich ihn mir vorgestellt habe. Die Wellen brechen,
der Horizont existiert nicht, von einer dichten Nebelwand verschluckt. Genau
das richtige Wetter, um sich hier zu verlieren.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen