Freitag, 13. September 2013

Im Dunkeln ist gut munkeln

Der Pazifik bei Lota grau in grau

Dieser Sonntag ist wolkenverhangen, gefühlt hat sich der Vorhang mit jedem Tag dichter gezogen, aber das mag auch reine Einbildung sein. Bevor der Wecker klingelt und ich aufgrund der vorgezogenen Zeitumstellung komplett verwirrt bin, lärmen irgendwann früh morgens, als schon fast die Sonne hinter dem Vorhang aufgeht, eine Horde Austauschstudenten vor meinem Fenster rum. Lautstark und in gebrochenem Spanisch werden unerhebliche Dinge diskutiert bis geschrien, sodass an ein friedliches Weiterschlafen kaum zu denken ist. Meinetwegen, dann stehe ich halt auf. Ich weiß so oder so nicht, ob es fünf oder sechs Uhr morgens ist. Eigentlich stellt sich mein Uralt-Mobiltelefon nicht von selbst um, mein Laptop jedoch schon. Nur leider zeigen sie beide dieselbe Zeit an. Irgendetwas stimmt da nicht. Nach ein wenig Recherche und manueller Umstellung ist es sechs Uhr. Zeit fürs Frühstück, Rühreier aufs Brot, heftig deftig, denn heute geht es unter Tage. Ich mache mich auf den Weg durch das frühe sonntägliche Conce. Aber ich bin nicht alleine unterwegs. Während ich strammen Schrittes auf dem Bürgersteig laufe, kommen mir erst vereinzelt, dann immer mehr Läufer entgegen. Ein Stadtlauf am Morgen nach der Zeitumstellung? Ob da nicht vielleicht auch jemand verwirrt war. Es scheint, als sei der Wettlauf von der Armee organisiert, zumindest tragen die meisten Tarnhemden, aber die Teilnehmer sehen nicht gerade alle nach Militär aus. Irgendwann entdecke ich auch die ersten Frauen, ziemlich wenige im Verhältnis.

Gut, dass ich nicht laufen werde, zumindest nicht so gehetzt wie die meisten Teilnehmer hier. Ich steige zusammen mit Andrea in den Bus in Richtung Lota, ein Städtchen im Südwesten von Conce gelegen. Nach einer Stunde Fahrt steigen wir in einem diesigen Getümmel von Nebelschwaden aus und suchen ihn: den Chiflón del Diablo (die „Brise des Teufels“). Bei diesem angsteinflößendem Namen handelt es sich um eine Kohlemine, die bis zum Jahre 1990 in Betrieb war und den Besitzer mit Reichtum bescherte und die Minenarbeiter mit einem kurzen Leben versehrte. Sie ist die einzige Mine weltweit, die sich unter dem Meer befindet.
Zunächst erfahren wir von einem ehemaligen Minenarbeiter, Pedro, wie das Leben hier im 19. Jahrhundert aussah. In hölzernen Wohnblöcken wurden die Minenarbeiter und ihre kinderreichen Familien untergebracht, ohne Strom, ohne Wasser und eigentlich ohne jeglichen Komfort. Bis zu zwanzig Kindern sollen viele gehabt haben, billige Arbeitskräfte für die Besitzer, denn die Kinder wurden bereits mit acht Jahren unter Tage befördert, um dort wie ihre Väter zwölf Stunden zu schuften. Wir nehmen den komfortablen Weg hinunter ins Erdreich: ein kleiner Käfig, in dem etwa vier Leute kuscheln können. Und es geht hinab, mehr als 500 Meter in die Tiefe. Wir stehen in einem nicht sonderlich hohen Schacht, warten auf die Vervollständigung der Gruppe und dann legt Pedro los. Erzählt und erzählt, drückt vielleicht einmal zu viel auf die Tränendrüse, stellt aber doch sehr anschaulich das Leben unter Tage dar. Dann bittet er uns, unsere Kopflampen auszumachen und zu schweigen. Was einigen nicht ganz so leicht fällt, insbesondere dem knapp sechsmonatigem Kleinstkind, das die verantwortungsbewussten Eltern mit in die Finsternis genommen haben. Aber dann herrscht Stille und absolute Dunkelheit. Ich sehe nichts, nicht einmal den Hauch einer Abzeichnung meiner Hand. Und dennoch fühle ich mich wohl, einmal nicht mit Eindrücken überfordert, mit der ständigen visuellen Konfrontation. Stille. Augenstille. Viel zu schnell dürfen wir unsere Lampen wieder einschalten. Dann kraxeln wir durch einen 90 cm hohen Gang, über 120 m eine gute Übung für die Oberschenkel. Manchmal ist klein sein dann doch von Vorteil. Die Muscheln krachen unter dem Gewicht der kläglichen Minenarbeiterimitatoren. Mit Geschichten von beißenden Ratten und fehlender Kanalisation im Hinterkopf geht es langsam wieder hinauf. Diesen Weg sind die Arbeiter damals gegangen, hinein und nach einem harten Arbeitstag auch wieder hinaus, sie durften nicht wie wir mit dem Aufzug unter Tage fahren. Und einige sind auch nicht lebendig aus der Mine herausgekommen. Die offiziellen Zahlen liegen bei etwa 1 800 Menschen, darunter auch viele Kinder, aber die tatsächliche Zahl wird um das Vielfache höher sein.

Im Parque Isidora Cousiño


Der Familie Cousiño, die zu den zehn reichsten Familien weltweit gehörte, ließ sich natürlich allerlei Paläste im ganzen Land und auch im Ausland errichten. In Lota selbst wurde ein riesiger Park angelegt, als Geschenk für Isidora Cousiño von ihrem Ehemann. Der Park mutet mit viel Mystik an, Andrea und ich scheinen die einzigen Besucher zu sein. Kleine verwinkelte Wege, die sich kreuzen und verlieren. Lilien, die aus dem festen Boden emporstreben, Statuen über Statuen. Ein Brunnen mit schwarzem Grund, damit Isidora den Sternenhimmel bestaunen konnte, ohne de Kopf heben zu müssen. Und hinter der Absperrung ein aufgewühlter Pazifik, so wie ich ihn mir vorgestellt habe. Die Wellen brechen, der Horizont existiert nicht, von einer dichten Nebelwand verschluckt. Genau das richtige Wetter, um sich hier zu verlieren.

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