| Magnolien in Conce |
Ein
Donnerstag wieder jeder andere? So weit käme es gerade noch. Der Wecker
klingelt, ich bin wie immer die erste, die sich in dem nun nur noch
neunköpfigen Haus regt. Die erste Nacht in meinem neuen, noch immer
lavendelfarben gestrichenen Zimmer im ersten Stock. (Meine Schlafgewohnheiten
sind andere als die des Großteils meiner Mitbewohner, sodass ich vorgezogen
habe, aus dem Zimmer direkt neben dem Gemeinschaftsraum, in dem oft und
lautstark zusammen gegessen, gesessen und geredet wird, auszuziehen.) Ein
Donnerstagmorgen, seit ein paar Tagen stapeln sich Wolkendecken kuschelig auf
den Himmel und betten Concepción in ein seichtes Grau. Die Pfützen auf den
Straßen wachsen stetig, bis ein netter Autofahrer sie wieder schrumpfen lässt,
indem er hindurch braust und den Bürgersteig gleich mitwäscht. Das regelmäßige
Tropfen auf das Schrägdach, unter dem sich mein Kopf nun befindet, will mich
eigentlich unter der quietschgrünen Federdecke einschläfern. Aber heute frage
ich mal nach, wie es um mein Visum steht. Raus aus dem Bett, rein in die mehr
oder minder regenfesten Klamotten und abwegig durch die Stadt. Anstatt den Weg
durch die Uni, die heute aufgrund landesweiter Protestmärsche ausfällt, gehe
ich in Richtung Wald (wobei auch das in Conce keine konkrete Richtungsangabe
ist, denn irgendwie ist die ganze Stadt umwaldet), zweige ich kleine Straße ab,
bis ich über die vierspurige Straße Bernardo
O’Higgings zum Plaza de Independencia
gelange. Dort befindet sich das kleine Büro, wo ich schon einmal meinen
Reisepass hinterlassen durfte. Und auch heute werde ich passlos nach Hause
spazieren. Ich erhalte mein Visum, aber erst nachdem ich 42 321
Chilenische Pesos in der Bank nebenan eingezahlt habe. (Gerechnet habe ich mit
der Hälfte, da es in Deutschland hieß, es sei günstiger, das Visum vor Ort zu
beantragen.) Jetzt heißt es bis Dienstag warten, um dann hoffentlich endlich mit
den ganzen bürokratischen Scherereien weitermachen zu können. Schließlich
brauche ich auch hier noch einen chilenischen Ausweis mit der so genannten RUT,
der Ausweisnummer, ohne die hier so gut wie nichts möglich ist. Und vielleicht
gibt es dann auch irgendwann meinen Studentenausweis.
Leichten
Fußes mache ich mich auf den Rückweg, verliere mich in den verwaschenen
Häuserfarben, den herabregnenden Blütenblättern der knorrigen bäumlichen Rahmen,
die fast jede Straße in ein verwittertes Gemälde zu verwandeln scheint, den den
Kapitalismus anklagenden Graffitis, dem in den hohen Bäumen hängenden Nebel.
Und es ist das erste Mal, dass ich denke: Mir gefällt diese Stadt. Knapp einen
Monat hat es gedauert und es wird noch einige dauern, bis ich mich hier wohl
fühlen werde. Da ich heute keine Seminare habe, beginne ich mal, meine
Literaturliste in Angriff zu nehmen: Los
pasos perdidos von Alejo Carpentier steht ganz oben auf der Liste. Ein paar
Seiten weiter und zwei Telefonate später beschließe ich mir gemeinsam mit Jara
die Füße zu vertreten. Noch immer hängt der Himmel in den Kniekehlen und
trotzdem ist es nicht duster, eher aschgrau bis fahl. Die Magnolien sind rings
um uns herum aufgeblüht, die ersten Stiefmütterchen wurden in die hinter mehr als constanzehohen Gittern versteckten Gärtchen gesetzt, doch viele Bäume sind noch
blattlos. Über Umwege, die eigentlich keine sind, gehen wir zum Parque Ecuador, dort überkommt es mich
und setze mich auf die Schaukel. Höher und höher, bis es quietscht, aber noch
nicht ächzt. In Sichtweite steht „sonrie“ auf der Rückseite eines
Straßenschildes geschrieben, „lächele“.
| Wie der Wald in den Wolken verschwindet |
Nach
dieser kleinkindlichen Attacke dringen wir weiter vor in die innenstädtischen
Straßen, gefüllt mit allerlei Gesichtern, Gangarten und Gemächlichkeiten. Es
ist nicht hektisch, die Füße der penquistas,
so nennen sich die Bewohner Concepcións selbst (da das zunächst im Jahre 1546
von Pedro Valdivia eroberte Concepción weiter am Meer lag, dort, wo heute die
Ortschaft Penco liegt, er die Stadt aber einfach versetzt hat), gehen in
gemäßigtem Trott über die Bürgersteige. Irgendwann sind wir an unserem Ziel: Años Luz („Lichtjahre“). Schon beim Blick
auf das Hinkefuß-Spiel auf dem Gehweg vor der Lokalität, von dem aus es hinunter in diese kleine Welt voller
Überraschungen geht, öffnet ein Tor. Warmes, gelbliches Licht, das von auf alte
Nähmaschinenfüße gesetzte Lampenschirmen ausgeht zeichnet sich in allen Winkeln
dieses Labyrinthes ab. Aus einem Familienfoto aus anderen Zeiten stehlen sich
Blicke von Vater, Mutter, zwei Söhnen und einer Tochter ins Hier und Jetzt. Auf
dem Kopf herum hängen alte hölzerne Skier, ein Lederkoffer, mit dem man
wunderbar in Gedanken „Ich packe meinen Koffer“ spielen kann. Vom Staunen schon
ganz satt, werfe ich einen Blick in die übersichtliche Karte und wähle die chocolate submarino aus, dazu ein alfajor. Das kleine vor mir liegende
Brettchen ist als Unterlage gedacht, darauf eine Garderobe, an der ein Hut, ein
Schirm und ein rosafarbener Schal hängt. Ich staune weiter über die Vielzahl
von der Größe, Form und Farbe nach aufgereihten Büchern. Eine kleine
Stadtgeschichte. Neben der Familienfotografie die Mutter Gottes mit dem
Jesuskind in ihren Armen umrahmt von einem schwungvollen Relief. An den Wänden
Flaggen aller Herren Länder, Waagen, alte Flaschen, Miniaturautos, Schießeisen,
eine Miniaturschreibmaschine, von der ich von nun an träume. In der Ecke eine
verschlossene Schatztruhe, als ob man all diese Schätze gedanklich verstecken
müsste. Hinter der Eingangstür versteckt sich eine alte Holztür mit gelbem
Blindglas und der Hausnummer 756. Und das Schönste? Die Zeit steht still, auf
sämtlichen alten Uhren und Weckern steht die Zeit. Denn alles hier braucht
seine eigene Zeit, um erzählt zu werden. Seinen Blick über alles gleiten zu
lassen. Kein Zeiger bewegt sich, um das Verschwinden der Stunden anzuzeigen.
Selbst die über dem Tresen hängende Uhr zeigt ewig 12.25 Uhr. Die Uboot-Schokolade
steht vor mir, eigentlich die heiße Milch und der in Uboot-Form gegossene
Schokobarren, daneben zwei perfekt drapierte Rosinen. Langsam versinkt das
Uboot in der heißen Milch, die letzten Bläschen steigen auf und es ist
geschmolzen. Und auch das Gebäckstück mit der süßklebrigen Manjar-Masse schmilzt nur so dahin, auf meiner Zunge. Da fährt mir
beinahe ein schwarz-weißer Radfahrer ins Gesicht, heraus aus seinem hölzernen
Rahmen hinein in meine versunkenen Gedanken. Zeit. Die endlos erscheint.
Irgendwann machen wir uns auf, bekommen als Abschiedsgeschenk noch einen
frischen Erdbeersaft, da ist es um mich geschehen. Ich habe mich verliebt. In
einen Ort.
Draußen
empfängt uns eine dämmernde Stadt, in der sich die überirdischen Stromkabel mit
den feinen Zweige der Bäume vereinen, wenn man in den grau-blauen Himmel
hinaufsieht, in der die orangefarbenen Straßenlaternen verschwommene Kreise in
den abendlichen Himmel legen, in der ich mich allmählich wohl fühle.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen