Samstag, 7. September 2013

Regenreich beschenkt


Magnolien in Conce
Ein Donnerstag wieder jeder andere? So weit käme es gerade noch. Der Wecker klingelt, ich bin wie immer die erste, die sich in dem nun nur noch neunköpfigen Haus regt. Die erste Nacht in meinem neuen, noch immer lavendelfarben gestrichenen Zimmer im ersten Stock. (Meine Schlafgewohnheiten sind andere als die des Großteils meiner Mitbewohner, sodass ich vorgezogen habe, aus dem Zimmer direkt neben dem Gemeinschaftsraum, in dem oft und lautstark zusammen gegessen, gesessen und geredet wird, auszuziehen.) Ein Donnerstagmorgen, seit ein paar Tagen stapeln sich Wolkendecken kuschelig auf den Himmel und betten Concepción in ein seichtes Grau. Die Pfützen auf den Straßen wachsen stetig, bis ein netter Autofahrer sie wieder schrumpfen lässt, indem er hindurch braust und den Bürgersteig gleich mitwäscht. Das regelmäßige Tropfen auf das Schrägdach, unter dem sich mein Kopf nun befindet, will mich eigentlich unter der quietschgrünen Federdecke einschläfern. Aber heute frage ich mal nach, wie es um mein Visum steht. Raus aus dem Bett, rein in die mehr oder minder regenfesten Klamotten und abwegig durch die Stadt. Anstatt den Weg durch die Uni, die heute aufgrund landesweiter Protestmärsche ausfällt, gehe ich in Richtung Wald (wobei auch das in Conce keine konkrete Richtungsangabe ist, denn irgendwie ist die ganze Stadt umwaldet), zweige ich kleine Straße ab, bis ich über die vierspurige Straße Bernardo O’Higgings zum Plaza de Independencia gelange. Dort befindet sich das kleine Büro, wo ich schon einmal meinen Reisepass hinterlassen durfte. Und auch heute werde ich passlos nach Hause spazieren. Ich erhalte mein Visum, aber erst nachdem ich 42 321 Chilenische Pesos in der Bank nebenan eingezahlt habe. (Gerechnet habe ich mit der Hälfte, da es in Deutschland hieß, es sei günstiger, das Visum vor Ort zu beantragen.) Jetzt heißt es bis Dienstag warten, um dann hoffentlich endlich mit den ganzen bürokratischen Scherereien weitermachen zu können. Schließlich brauche ich auch hier noch einen chilenischen Ausweis mit der so genannten RUT, der Ausweisnummer, ohne die hier so gut wie nichts möglich ist. Und vielleicht gibt es dann auch irgendwann meinen Studentenausweis.

Leichten Fußes mache ich mich auf den Rückweg, verliere mich in den verwaschenen Häuserfarben, den herabregnenden Blütenblättern der knorrigen bäumlichen Rahmen, die fast jede Straße in ein verwittertes Gemälde zu verwandeln scheint, den den Kapitalismus anklagenden Graffitis, dem in den hohen Bäumen hängenden Nebel. Und es ist das erste Mal, dass ich denke: Mir gefällt diese Stadt. Knapp einen Monat hat es gedauert und es wird noch einige dauern, bis ich mich hier wohl fühlen werde. Da ich heute keine Seminare habe, beginne ich mal, meine Literaturliste in Angriff zu nehmen: Los pasos perdidos von Alejo Carpentier steht ganz oben auf der Liste. Ein paar Seiten weiter und zwei Telefonate später beschließe ich mir gemeinsam mit Jara die Füße zu vertreten. Noch immer hängt der Himmel in den Kniekehlen und trotzdem ist es nicht duster, eher aschgrau bis fahl. Die Magnolien sind rings um uns herum aufgeblüht, die ersten Stiefmütterchen wurden in die hinter mehr als constanzehohen Gittern versteckten Gärtchen gesetzt, doch viele Bäume sind noch blattlos. Über Umwege, die eigentlich keine sind, gehen wir zum Parque Ecuador, dort überkommt es mich und setze mich auf die Schaukel. Höher und höher, bis es quietscht, aber noch nicht ächzt. In Sichtweite steht „sonrie“ auf der Rückseite eines Straßenschildes geschrieben, „lächele“.

Wie der Wald in den Wolken verschwindet


Nach dieser kleinkindlichen Attacke dringen wir weiter vor in die innenstädtischen Straßen, gefüllt mit allerlei Gesichtern, Gangarten und Gemächlichkeiten. Es ist nicht hektisch, die Füße der penquistas, so nennen sich die Bewohner Concepcións selbst (da das zunächst im Jahre 1546 von Pedro Valdivia eroberte Concepción weiter am Meer lag, dort, wo heute die Ortschaft Penco liegt, er die Stadt aber einfach versetzt hat), gehen in gemäßigtem Trott über die Bürgersteige. Irgendwann sind wir an unserem Ziel: Años Luz („Lichtjahre“). Schon beim Blick auf das Hinkefuß-Spiel auf dem Gehweg vor der Lokalität, von dem aus es  hinunter in diese kleine Welt voller Überraschungen geht, öffnet ein Tor. Warmes, gelbliches Licht, das von auf alte Nähmaschinenfüße gesetzte Lampenschirmen ausgeht zeichnet sich in allen Winkeln dieses Labyrinthes ab. Aus einem Familienfoto aus anderen Zeiten stehlen sich Blicke von Vater, Mutter, zwei Söhnen und einer Tochter ins Hier und Jetzt. Auf dem Kopf herum hängen alte hölzerne Skier, ein Lederkoffer, mit dem man wunderbar in Gedanken „Ich packe meinen Koffer“ spielen kann. Vom Staunen schon ganz satt, werfe ich einen Blick in die übersichtliche Karte und wähle die chocolate submarino aus, dazu ein alfajor. Das kleine vor mir liegende Brettchen ist als Unterlage gedacht, darauf eine Garderobe, an der ein Hut, ein Schirm und ein rosafarbener Schal hängt. Ich staune weiter über die Vielzahl von der Größe, Form und Farbe nach aufgereihten Büchern. Eine kleine Stadtgeschichte. Neben der Familienfotografie die Mutter Gottes mit dem Jesuskind in ihren Armen umrahmt von einem schwungvollen Relief. An den Wänden Flaggen aller Herren Länder, Waagen, alte Flaschen, Miniaturautos, Schießeisen, eine Miniaturschreibmaschine, von der ich von nun an träume. In der Ecke eine verschlossene Schatztruhe, als ob man all diese Schätze gedanklich verstecken müsste. Hinter der Eingangstür versteckt sich eine alte Holztür mit gelbem Blindglas und der Hausnummer 756. Und das Schönste? Die Zeit steht still, auf sämtlichen alten Uhren und Weckern steht die Zeit. Denn alles hier braucht seine eigene Zeit, um erzählt zu werden. Seinen Blick über alles gleiten zu lassen. Kein Zeiger bewegt sich, um das Verschwinden der Stunden anzuzeigen. Selbst die über dem Tresen hängende Uhr zeigt ewig 12.25 Uhr. Die Uboot-Schokolade steht vor mir, eigentlich die heiße Milch und der in Uboot-Form gegossene Schokobarren, daneben zwei perfekt drapierte Rosinen. Langsam versinkt das Uboot in der heißen Milch, die letzten Bläschen steigen auf und es ist geschmolzen. Und auch das Gebäckstück mit der süßklebrigen Manjar-Masse schmilzt nur so dahin, auf meiner Zunge. Da fährt mir beinahe ein schwarz-weißer Radfahrer ins Gesicht, heraus aus seinem hölzernen Rahmen hinein in meine versunkenen Gedanken. Zeit. Die endlos erscheint. Irgendwann machen wir uns auf, bekommen als Abschiedsgeschenk noch einen frischen Erdbeersaft, da ist es um mich geschehen. Ich habe mich verliebt. In einen Ort.


Draußen empfängt uns eine dämmernde Stadt, in der sich die überirdischen Stromkabel mit den feinen Zweige der Bäume vereinen, wenn man in den grau-blauen Himmel hinaufsieht, in der die orangefarbenen Straßenlaternen verschwommene Kreise in den abendlichen Himmel legen, in der ich mich allmählich wohl fühle.

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