Die
Wochentage sind bereits zur Routine geworden, die Seminare und Vorlesungen
reihen sich Tag für Tag aneinander, ich lerne dazu oder auch nicht, dennoch
erscheine ich brav zum Unterricht. Und beteilige mich, aber so richtig
Anschluss gefunden habe ich innerhalb der Uni noch nicht so richtig. Irgendwie
bin ich weiterhin die Ausländerin im Großteil meiner Kurse. So fühle ich mich
nicht nur auf der Straße wie eine Außerirdische, sondern ab und an auch im
kleineren Kreis der Uni. Aber das ist wohl das Los, das ich gezogen habe und
die Rolle, die ich hier einnehme. Die Blicke auf der Straße, die Köpfe, die
sich nach meinem blonden Haupthaar umdrehen, alles halb so wild. Ich bin eben gringa, in den Augen der meisten.
Zwar finde ich so langsam meine Nischen und ein paar
Freunde, aber es wird sicherlich noch dauern, bis ich mich in dieser
kleinstädtischen chilenischen Studentenstadt so richtig zu Hause fühle. Einer
der Auswege aus diesem etwas bedrückenden Gefühl: reisen, die Gegenden rund um
Concepción (und auch ein wenig weiter) erkunden. An einem frühlingshaften
Oktobermorgen steige ich in das Auto von Constanza und gemeinsam mit Julia,
Javier und Jack machen wir uns auf den Weg nach Cobquecura. Der kleine, gemütliche
Ort – etwa zweieinhalb Stunden Autofahrt nördlich von Conce –, hört sich an,
als sei er mit Cupcakes bestückt, ist er aber nicht. Vielmehr sieht man hier
noch immer die verwüstenden Spuren des schweren Erdbebens im Jahre 2010 in der
Region. Blanke Lehmwände kurz vorm Einsturz, Häuserruinen, die ihr Dasein
fristen, anklagende Graffitis an den noch stehenden Mauern. Noch zeigt sich der
Himmel wolkenverhangen, als wir nach einer kurvenreichen Fahrt das Meer
entdecken. Der Wind pfeift mir um die Ohren, der schwarze Sandstrand wird von
den Wellen fast verschlungen, so heftig peitschen sie heran. In nicht allzu
weiter Ferne ragen einige spitze Felsen aus der Gischt. Auf ihnen hieven sich
schwarze, seidig-glänzende Tiere dem grauen Himmel entgegen. Die lobería beherbergt rund 2 000
Seehunde, die sich um die scharfkantigen Felsen scharen. Normalerweise kommt
man recht nah an diese erstaunlich beweglichen Lebewesen heran, doch der starke
Wellengang rückt sie in eine Ferne, die gerade so mit dem Teleobjektiv
herangeholt werden kann. Ein paar Kilometer weiter befindet sich die iglesia de
piedra (die Steinkirche).
Doch um eine richtige Kirche handelt es sich nicht, vielmehr ist es eine
riesige Höhle, die mit ihrer dunklen, in die Höhe ragenden Feuchte an eine Kirche
erinnert. Ein natürliches Fenster ermöglicht den Blick auf den tobenden Pazifik
und einen winzig blauen Streifen am fernen Horizont, der darauf hindeutet, dass
das Wetter sich in den nächsten Stunden bessern könnte. Und noch ein paar
Kilometer weiter sehen wir uns den Strand von Buchupuero an, ein Ort, der im
Sommer von der etwas reicheren Sorte von Chilenen bevölkert wird, jetzt im
Frühling ist er aber noch menschenleer und der Schwarzsandstrand zieht sich
entlang der Steilküste bis ins Unendliche. Da unsere Mägen knurren und in dem
winzigen Ort kein bezahlbares Restaurant aufzufinden ist, fahren wir zurück
nach Cobquecura, um dort den Hunger nach Fisch zu stillen. Unser
Mittagsschläfchen halten wir am Strand, mittlerweile zeigt sich sogar auch die
Sonne in ihrer schönsten Form, sodass ich mit (un)gesunder Röte am Abend wieder
in unserer Geröllhalde hinterm Haus, was hoffentlich irgendwann einmal zu einem
ansehnlichen Garten wird, um noch die letzten Sonnenstrahlen einzufangen. Die
Tage werden minutenweise länger, die Nächte umso kürzer. Mich freut es, einige
meiner Mitbewohner sind diesen Wechsel nicht gewohnt und beschweren sich
darüber, dass ihnen die Nacht „geklaut“ wird. Ich dagegen kann es kaum
erwarten, meinen zweiten Sommer hier zu erleben. Und die ersten Anzeichen sind
bereits da, die Bäume stehen in ihrem schönsten Grün, es wuchert und wuchert
überall, beinahe schon fühle ich mich in einer Stadt von Urwald eingenommen.
Selbst wenn die Stadt kulturell nicht allzu viel zu bieten hat, sie ist allemal
grüner als jede Großstadt und hält wahrscheinlich noch ein paar zu entdeckende
Orte bereit. Bis ich die finden werde, dauert es aber wahrscheinlich noch ein
Weilchen.
Von
der Schönheit des Wochenendes zurück in die Welt des Alltags und der Bürokratie
fühle ich mich ein wenig verhohnepiepelt, als es darum geht, meinen
chilenischen Ausweis abzuholen. Eigentlich sollte er nach einer Woche
abholbereit sein, da mich die Frau am Schalter bei der Beantragung allerdings
bat, erst in zwei Wochen vorbeizuschauen, folge ich ihrer Bitte und schwinge
mich am Montagmorgen auf mein Rad und fahre zum registro civil. Zweieinhalb Wochen sind um und mein Ausweis ist
noch nicht da, wie lange es noch dauern wird, kann mir aber auch niemand sagen.
Herrlich. Dann versuche ich mein Glück in der Uni – ich würde gerne irgendwann
mal meinen Studentenausweis haben. Also gehe ich zur Abholstelle, bei der ich
bereits vor meiner Reise in die Wüste aufgeschlagen bin. Und siehe da, nichts
ist in der Zwischenzeit geschehen. Nicht einmal der Antrag ist gestellt worden,
obwohl die sehr herzliche und hilfsbereite Dame bei der zuständigen Stelle
angerufen hatte und ihr versichert worden war, dass dieser Antrag gestellt
werden würde. Aber wozu benötige ich auch einen Studentenausweis? Der könnte mir
ja nur das Studieren erleichtern, da er mir endlich Zugang zur zwar nicht
sonderlich gute sortierten Bibliothek verschaffen würde und auch die
Studententarife würden mir dann vielleicht endlich in den Bussen gewährt
werden. Also ruft die Dame noch einmal bei der zuständigen Stelle an und bleibt
hartnäckig. Ob jetzt aber tatsächlich der Antrag gestellt wurde, steht noch in
den Sternen. Da anscheinend wirklich alle schlechten Dinge drei sind, fällt
dann auch noch mein Pilates-Kurs für diese Woche aus – davon erfahre ich
natürlich erst, als ich in Sportklamotten vor der Halle stehe. Immerhin habe
ich heute Abend meinen Literaturkurs, der meine Laune ein wenig bessert. Und
die Aussicht auf einen kurzen Aufenthalt im Ausland hellt meine finsteren
Gedanken ebenfalls auf. Um ganz im stereotypen Denken zu verweilen: nächster
Halt die Hauptstadt des Tangos erwartet mich mit frühlingshaften Temperaturen.
Buenos Aires, tanz mit mir.
