Montag, 28. Oktober 2013

Heulen und stöhnen


Die Wochentage sind bereits zur Routine geworden, die Seminare und Vorlesungen reihen sich Tag für Tag aneinander, ich lerne dazu oder auch nicht, dennoch erscheine ich brav zum Unterricht. Und beteilige mich, aber so richtig Anschluss gefunden habe ich innerhalb der Uni noch nicht so richtig. Irgendwie bin ich weiterhin die Ausländerin im Großteil meiner Kurse. So fühle ich mich nicht nur auf der Straße wie eine Außerirdische, sondern ab und an auch im kleineren Kreis der Uni. Aber das ist wohl das Los, das ich gezogen habe und die Rolle, die ich hier einnehme. Die Blicke auf der Straße, die Köpfe, die sich nach meinem blonden Haupthaar umdrehen, alles halb so wild. Ich bin eben gringa, in den Augen der meisten.

Das felsige Zuhause der Seehunde
Der Blick aus der iglesia de piedra heraus
Zwar finde ich so langsam meine Nischen und ein paar Freunde, aber es wird sicherlich noch dauern, bis ich mich in dieser kleinstädtischen chilenischen Studentenstadt so richtig zu Hause fühle. Einer der Auswege aus diesem etwas bedrückenden Gefühl: reisen, die Gegenden rund um Concepción (und auch ein wenig weiter) erkunden. An einem frühlingshaften Oktobermorgen steige ich in das Auto von Constanza und gemeinsam mit Julia, Javier und Jack machen wir uns auf den Weg nach Cobquecura. Der kleine, gemütliche Ort – etwa zweieinhalb Stunden Autofahrt nördlich von Conce –, hört sich an, als sei er mit Cupcakes bestückt, ist er aber nicht. Vielmehr sieht man hier noch immer die verwüstenden Spuren des schweren Erdbebens im Jahre 2010 in der Region. Blanke Lehmwände kurz vorm Einsturz, Häuserruinen, die ihr Dasein fristen, anklagende Graffitis an den noch stehenden Mauern. Noch zeigt sich der Himmel wolkenverhangen, als wir nach einer kurvenreichen Fahrt das Meer entdecken. Der Wind pfeift mir um die Ohren, der schwarze Sandstrand wird von den Wellen fast verschlungen, so heftig peitschen sie heran. In nicht allzu weiter Ferne ragen einige spitze Felsen aus der Gischt. Auf ihnen hieven sich schwarze, seidig-glänzende Tiere dem grauen Himmel entgegen. Die lobería beherbergt rund 2 000 Seehunde, die sich um die scharfkantigen Felsen scharen. Normalerweise kommt man recht nah an diese erstaunlich beweglichen Lebewesen heran, doch der starke Wellengang rückt sie in eine Ferne, die gerade so mit dem Teleobjektiv herangeholt werden kann. Ein paar Kilometer weiter befindet sich die iglesia de piedra (die Steinkirche).

Doch um eine richtige Kirche handelt es sich nicht, vielmehr ist es eine riesige Höhle, die mit ihrer dunklen, in die Höhe ragenden Feuchte an eine Kirche erinnert. Ein natürliches Fenster ermöglicht den Blick auf den tobenden Pazifik und einen winzig blauen Streifen am fernen Horizont, der darauf hindeutet, dass das Wetter sich in den nächsten Stunden bessern könnte. Und noch ein paar Kilometer weiter sehen wir uns den Strand von Buchupuero an, ein Ort, der im Sommer von der etwas reicheren Sorte von Chilenen bevölkert wird, jetzt im Frühling ist er aber noch menschenleer und der Schwarzsandstrand zieht sich entlang der Steilküste bis ins Unendliche. Da unsere Mägen knurren und in dem winzigen Ort kein bezahlbares Restaurant aufzufinden ist, fahren wir zurück nach Cobquecura, um dort den Hunger nach Fisch zu stillen. Unser Mittagsschläfchen halten wir am Strand, mittlerweile zeigt sich sogar auch die Sonne in ihrer schönsten Form, sodass ich mit (un)gesunder Röte am Abend wieder in unserer Geröllhalde hinterm Haus, was hoffentlich irgendwann einmal zu einem ansehnlichen Garten wird, um noch die letzten Sonnenstrahlen einzufangen. Die Tage werden minutenweise länger, die Nächte umso kürzer. Mich freut es, einige meiner Mitbewohner sind diesen Wechsel nicht gewohnt und beschweren sich darüber, dass ihnen die Nacht „geklaut“ wird. Ich dagegen kann es kaum erwarten, meinen zweiten Sommer hier zu erleben. Und die ersten Anzeichen sind bereits da, die Bäume stehen in ihrem schönsten Grün, es wuchert und wuchert überall, beinahe schon fühle ich mich in einer Stadt von Urwald eingenommen. Selbst wenn die Stadt kulturell nicht allzu viel zu bieten hat, sie ist allemal grüner als jede Großstadt und hält wahrscheinlich noch ein paar zu entdeckende Orte bereit. Bis ich die finden werde, dauert es aber wahrscheinlich noch ein Weilchen.
Von der Schönheit des Wochenendes zurück in die Welt des Alltags und der Bürokratie fühle ich mich ein wenig verhohnepiepelt, als es darum geht, meinen chilenischen Ausweis abzuholen. Eigentlich sollte er nach einer Woche abholbereit sein, da mich die Frau am Schalter bei der Beantragung allerdings bat, erst in zwei Wochen vorbeizuschauen, folge ich ihrer Bitte und schwinge mich am Montagmorgen auf mein Rad und fahre zum registro civil. Zweieinhalb Wochen sind um und mein Ausweis ist noch nicht da, wie lange es noch dauern wird, kann mir aber auch niemand sagen. Herrlich. Dann versuche ich mein Glück in der Uni – ich würde gerne irgendwann mal meinen Studentenausweis haben. Also gehe ich zur Abholstelle, bei der ich bereits vor meiner Reise in die Wüste aufgeschlagen bin. Und siehe da, nichts ist in der Zwischenzeit geschehen. Nicht einmal der Antrag ist gestellt worden, obwohl die sehr herzliche und hilfsbereite Dame bei der zuständigen Stelle angerufen hatte und ihr versichert worden war, dass dieser Antrag gestellt werden würde. Aber wozu benötige ich auch einen Studentenausweis? Der könnte mir ja nur das Studieren erleichtern, da er mir endlich Zugang zur zwar nicht sonderlich gute sortierten Bibliothek verschaffen würde und auch die Studententarife würden mir dann vielleicht endlich in den Bussen gewährt werden. Also ruft die Dame noch einmal bei der zuständigen Stelle an und bleibt hartnäckig. Ob jetzt aber tatsächlich der Antrag gestellt wurde, steht noch in den Sternen. Da anscheinend wirklich alle schlechten Dinge drei sind, fällt dann auch noch mein Pilates-Kurs für diese Woche aus – davon erfahre ich natürlich erst, als ich in Sportklamotten vor der Halle stehe. Immerhin habe ich heute Abend meinen Literaturkurs, der meine Laune ein wenig bessert. Und die Aussicht auf einen kurzen Aufenthalt im Ausland hellt meine finsteren Gedanken ebenfalls auf. Um ganz im stereotypen Denken zu verweilen: nächster Halt die Hauptstadt des Tangos erwartet mich mit frühlingshaften Temperaturen. Buenos Aires, tanz mit mir.

Montag, 14. Oktober 2013

Von der Weite des Meeres und der Enge des Kopfes


Mir wächst gerade alles über den Kopf hinaus, hoch in den Himmel. Ja, es gibt sie, diese Momente, in denen man sich fragt, weshalb eigentlich, was mache ich hier, was treibt mich, immer wieder zu fliehen. Sie kommen und gehen meistens auch wieder. Denn eigentlich liegt die Antwort auf der Hand: Es ist eine Art innere Unruhe, die mich von einem Ort zum nächsten treibt und mich eben auch gerne mal an einen anderen Kontinent anschwemmt. Dieses Fernweh, das sich trotz dessen die Waage hält mit dem Heimweh. Die Vorstellung, irgendwo tatsächlich ein ewig währendes Zuhause zu finden, die rückt in solchen Momenten immer weiter in die Ferne. Aber wer weiß, was kommt. Vielleicht bringt das weite Meer meinen engen Kopf auf andere Gedanken. Auch wenn ich eigentlich in meinem Zimmer sitzen und lernen müsste, lasse ich es mir nicht nehmen, nach dem Mittagessen mit einer Freundin eines Freundes, das schon seit Langem ausstand, ich aber nie so richtig die Zeit und Motivation gefunden hatte, mich bei ihr zu melden, ihrer Einladung zu folgen, auch noch den Nachmittag mit ihr zu verbringen. Eine ihrer Freundinnen holt uns mit dem Auto ab, zuvor habe ich das erste Mal hier Ziegenkäse – im Salat – gegessen, das muss einfach ein guter Tag werden. Wohlgemerkt ist Käse hier in Chile alles andere als ein Grundnahrungsmittel, zumindest das, was ein verwöhnter deutscher Gaumen als Käse erschmecken würde. Ziegen- und Schafskäse, die richtig fiesen und doch meine liebsten, sind hier nicht auffindbar und wenn doch, dann unbezahlbar. Wir holen noch zwei weitere Chileninnen ins Boot, pardon, ins Auto. Chilenen an sich scheinen gerne zu trinken, der Wein hier ist ja auch nicht zu verachten, ebenso wenig das Bier oder der Pisco – aber was mir tatsächlich ein wenig zu krass ist, ist die Tatsache, dass es eine Supermarktkette namens Kamadi gibt, die fast ausschließlich alkoholische Waren an Mann und Frau veräußert, immerhin darf man hier erst ab 18 alkoholische Getränke erwerben. Aber noch bin ich nie nach dem Ausweis gefragt worden wie bereits des Öfteren in Deutschland. Auch wir machen kurz Halt und versorgen uns mit Kunstmann-Bier, ein Bier, das nach deutschem Reinheitsgebot gebraut wird, denn letztlich geht die Marke zurück auf den deutschen Einwanderer Carlos Anwandter, der Mitte des 19. Jahrhunderts seine Brauerei in Valdivia gründete. Es ist eines der teureren Biere hier in Chile und auch eines, das in kleinen Flaschen gereicht wird – also in ganz normaler Größe. Denn die meisten Biere in den nicht ganz so hippen Bars kommen in Ein-Liter-Flaschen daher, die trinkt man natürlich nicht alleine, sondern schenkt am Tisch in Gläser oder manchmal auch in Plastikbecher aus. Es ist auch eher gängig, dass man sich seine Getränke selbst an der Bar holt, als dass man bedient wird, da ist so eine große Flasche durchaus handlicher als mehrere kleine Flaschen. Wir greifen also zum Bier, auf dessen Kronkorken es tatsächlich heißt: „Cerveza Kunstmann …das gute Bier“ (in deutscher Sprache, ja). Kein Wunder, dass Deutschland weltweit mit Bier assoziiert wird.

Zu fünft heizen wir wie alle anderen auch über die Straßen Concepcións, geregeltes Heizen würde ich es nennen. Bis, oh, war das jetzt? Tatsächlich. Uns folgt ein Polizist auf dem Motorrad, wir müssen anhalten. Die Ampel war wohl etwas rot. Unsere Fahrerin steigt aus, diskutiert ein wenig (ein anderer Autofahrer hatte sie kurz zuvor geschnitten, was sie ein wenig aus ihrem Fahrkonzept gebracht hatte), ihre Daten werden aufgenommen, aber eine Strafe scheint es nicht zu geben. Seltsam, sehr seltsam.
Wir fahren nach Chome, das liegt irgendwo zwischen der Flussmündung des Bíobios und des Strandes Ramuntcho. Ein winziger Ort mit knapp 120 Einwohnern, Steilküste, einem kleinen, steinreichen Strand und ohne Mobilfunknetzempfang. Ich verliebe mich auf Anhieb. In den 1950er Jahren hat man sich hier dem Walfang gewidmet, Überreste sind noch im Örtchen zu sehen: Es gab eine riesige Anlage, in denen die Tiere verwertet wurden, von der heute noch ein Großteil steht. Dachlose Mauern, tiefgründige Betontröge und rostige Ketten erwecken den Eindruck, dass man einfach alles stehen und liegen lassen hat, nachdem der letzte Wal vor etwa dreißig Jahren hier sein Ende gefunden hatte.
Die sonnenbebrillten Chileninnen sitzen am Strand, ich darf das Bier für alle mit einem flachen Stein öffnen, ich bin schließlich die Deutsche, die das können muss (und tatsächlich auch kann). Wir stoßen an auf einen entspannten Samstagnachmittag (nur die Fahrerin hält sich brav an Brause). Ich sitze da, höre teils den Gesprächen der Freundinnen zu, doch irgendwann verlieren sich die Stimmen in den glitzernden Wellen, die an die Felsen klatschen. Es fühlt sich an wie Urlaub in kleinen Häppchen – jedes Wochenende einmal ans Wasser, Meeresluft schnuppern und mir den Kopf durchpusten lassen. Ihm ein bisschen Weite geben und ablassen von all den Verpflichtungen und Aufgaben und und und… Ist nicht eher das hier das Leben? Es ist zumindest eine gewisse Freiheit, die ich mir hier nehme, um nicht zu sehr in den Gedanken zu versinken. Meeresweite gegen Kopfenge. Und gar keine Kamera dabei, die fristet eingesperrt in meinem Zimmer ihr Dasein. Irgendwie traue ich mich nicht, ihr wieder Leben einzuhauchen. Zumal sie arretiert werden müsste, am besten einmal in die professionelle Reinigung, damit sie keinen Rost ansetzt, aber das ist hier in Concepción unmöglich. Ein Fachgeschäft für Fotografie? Fehlanzeige.


Nach einer Sonnenstunde streifen wir entspannt durch das Örtchen, kaufen den Einheimischen ein paar empanadas ab, meine zwei frittierten Teigtaschen sind jeweils mit locos (eine Schneckenart aus dem Pazifik, und wenn man es wörtlich übersetzen würde, wären es „Verrückte“, der vollständige lateinische Name lautet Concholepas concholepas) und mit carapacho (Krebsfleisch) gefüllt. Ein wenig später unterhalten wir uns noch mit Señora Ruth, die hier geboren wurde und ganz alleine in ihrem hellblau gestrichenen Häuschen mit Blick auf das dunkellaue Meer wohnt. Der Tiefe ihrer Falten nach zu urteilen, wohnt sie bereits sehr lange hier. Einmal in der Woche gibt es hier einen Bus, mit dem man die 22 Kilometer bis nach Concepción kommt. Jeden Dienstagmorgen um 8.30 Uhr, nachmittags um 17 Uhr fährt der dann zurück. Wenn man also kein Auto besitzt, anscheinend kaum jemand, dann kann man hier, gar nicht mal so weit weg vom mittelstädtischen Trubel, ein sehr ruhiges Leben führen. Selbst die Touristen, die sich am Wochenende in dieses idyllische Nichts verirren, können nicht mit lautstarken Telefongesprächen nerven, denn es gibt hier keinen Empfang, dazu muss man schon hoch auf die höchste Spitze des Dorfes wandern. Könnte ich mir tatsächlich vorstellen, so zu leben? Ich weiß es nicht. Aber in diesem Augenblick halte ich es für möglich. Am liebsten würde ich mich Stunden über Stunden mit Ruth unterhalten, aber die Mädels zieht es wieder in die Stadt zurück. Ich mache noch ein paar Kopfbilder, lasse den Wind nochmal durch meine Haare fahren und steige dann wieder ins Auto.

Alle guten Dinge sind drei, alle schlechten ebenfalls?


Sonntägliche Gemütlichkeit
Es ist ein wunderschöner Sonntag: wolkenlos, sonnig, alltagsflüchtig. Gegen Nachmittag setze ich mich zusammen mit Andrea in einen der vielen micros, die kleinen Busse des öffentlichen Nahverkehrs in Concepción und Chile allgemein. Dieser Bus bringt uns über Lirquén und Penco nach Tomé. Ein kleines verschlafenes Nestchen mit einer bezaubernd abfallenden Steilküste, vereinzelten Traumholzhäuschen in den Hängen hin zum Meer und mehreren Strände, die teils erheblich bevölkert sind – besonders an einem wie dieser Sonntagnachmittage –, teils aber auch einsam und verlassen ein paar Buchten weiter liegen und im Frühlingslicht von den Wellen beglückt werden. Sobald wir das erste Körnchen Sand sehen, heißt es Schuhe aus und den Strand unter den Fußsohlen spüren. Wir spazieren am eisig kalten Meereswasser entlang, das in kleinen und größeren Wellen an den Strand gespült kommt. Je weiter wir von den Strandlustigen aber Lauffaulen gelangen, desto farben- und formenreicher zeigen sich Flora und Fauna entlang der Pazifikküste. Das Algengrün steht im krassen Kontrast zum kraftvollen Meeresblau, die winzig schwarz-violetten Miesmuschelansammlungen klappern ein rauschendes Konzert, sobald sie von den Meereswellen umspült werden und die Pelikane erobern sich ihre Felsvorsprünge mit ihrer bloßen Anwesenheit. Fischer staksen und stochern am Ufer herum und wir klettern über Felsen und Steine, um immer weiter zu gelangen, weiter, weiter. Obwohl? Warum nicht einfach rasten, die Vogelvielfalt belauschen und die ruhigen Linien des Wassers verfolgen, während die Frühlingssonne die Haut wärmt? Irgendwann wollen die Füße aber doch mehr von dem bimssteinartigen Untergrund und wir ziehen weiter. Zwei ältere Herren haben uns wohl schon eine Weile beobachtet. Zu ihren Füßen eine Ledertasche, ein scharfes Messer und ein Haufen Muschelschalen. In einer kleinen Tüte wartet eine Überraschung: frisch gefischte Muscheln, welche genau, das weiß ich nicht. Groß, weiß und recht rundlich schauen sie drein. Und der kleinere der beiden Herren öffnet mir sogleich mit etwas Gewalt eine, beträufelt sie mit etwas Zitrone und reicht mir einen nachmittäglichen, eiweißreichen Imbiss. Ich überlege kurz, aber hmmm… Das zarte Muschelfleisch ist fester als erwartet, schmeckt nach Meer und nach mehr. Ich bekomme noch eine zweite auf die Hand und per Handschlag verabschieden wir uns, klettern mit bloßen Füßen weiter über die vielen Steinformen mit Möwengeschrei im Ohr und Sonne auf der Haut.

Klappernde Miesmuschelchen am Strand von Tomé

Da stellt sich uns eine etwa 1,50 Meter hohe Mauer in den Weg, die wir zwar leichter Hand erklimmen, aber dann, ja ich weiß auch nicht. Ich will meine Tasche vorsichtig hinunterlassen, da klirrt und kracht es. Meine Kamera, mein Baby, dotzt auf den flachen Stein auf und landet halberseits in einer Meereswasserpfütze. Gefühlte zehn Minuten später erkennt mein Hirn, was da gerade passiert ist, mein Körper springt hinterher, meine Hände suchen die Einzelteile zusammen, aber so ganz habe ich noch nicht verstanden, dass ich gerade meine langjährige Gefährtin (und wohl irgendwie auch beste Freundin) fallen lassen habe. Der Schmerz sitzt tief, aber traut sich noch nicht an die Oberfläche. Der Tag ist trotzdem weiterhin schön, Hoffnung besteht auch, denn nur das Objektiv ist auseinander gebrochen, die Kamera an sich hat „nur“ eine ordentliche Fuhre Salzwasser nach dem Sturz abbekommen. Nicht darüber nachdenken. Jetzt nicht. Lieber eine Weile aufs Meer starren und froh über die Weite sein, vielleicht passt ja auch noch ein wenig Meeresweite in meinen Kopf. Irgendwann wird es Abend und wir waten durch das ansteigende Meer und seinen algigen Salatsumpf, der an Land geschwemmt wird. Ein paar empanadas wären jetzt großartig, aber so richtig viel ist sonntags nirgends geöffnet (bis auf die größeren Supermärkte, aber die gibt es hier in Tomé nicht). Also weichen wir auf completos und Hamburger aus. Completos werden hier riesige Hotdogs genannt, da sind nicht nur der heiße Hund und ein paar Zwiebelchen drin, sondern zumeist noch Avocado und anderes Grünzeug, der allerdings wiederum mit einem ordentlichen Berg Mayonnaise verziert wird. Ich entscheide mich für einen Thunfisch-Hamburger, der meine Vorstellung dessen, was ein Hamburger tatsächlich ist, gänzlich auf den Kopf stellt: ein tellergroßes Brotgestell mit ordentlich Thunfisch und jeder Menge frischem Gemüse, natürlich auch dieser dekoriert mit Mayonnaise. Im letzten Frühlingssonnenlicht lassen wir uns unser Abendbrot unter freiem Himmel munden, um dann gesättigt den Rückweg anzutreten. Zuhause wird mir so langsam der Verlust bewusst. Selbst wenn meine Kamera zu retten ist, der Schreck sitzt tief und die Lust, mich weiterhin der Fotografie zu widmen, ist gedämpft.

Aber es kann ja quasi nicht schlimmer kommen. Das denke ich mir zumindest vorm Schlafengehen. Montag ist Unitag, nichts Verwunderliches. Gut, dass meine Woche mit einer Pilates-Stunde am Vormittag beginnt, ein seichter (manchmal aber doch auch sehr anstrengender) Einstieg in die neue Woche. Mittags ein wenig frischen Fisch im Ofen, dann zu meinen Seminaren und Vorlesungen am Abend, nach Hause. Ja, alles ganz normal. Nun. Nicht ganz. Nachts wache ich gegen zwei Uhr auf, ich kann nicht schlafen. Vor Schmerzen. Mein Magen zieht sich zusammen, es fühlt sich an, als hätte man mir mit aller Wucht in den Unterleib getreten. Bis zum Morgengrauen verbringe ich im Bad, am nächsten Morgen habe ich definitiv nichts mehr in mir. Eigentlich fühle ich mich besser, will duschen. Doch in der Dusche überkommt mich die Übelkeit, meine Ohren machen dicht, ich sacke zusammen und weiß nicht, wie lange ich tatsächlich auf dem Boden liege. Das zu heiße Wasser lässt mich wieder zu mir kommen. Ich tapere halb benommen zurück in mein Bett, kraftlos versinke ich einen unruhigen Schlaf. Da habe ich mich wohl überschätzt. Meiner Mitbewohnerin geht es auch ziemlich schlecht, und sie hat als einzige ebenfalls vom Fisch gegessen. Großartig. Eine Lebensmittelvergiftung. Dabei habe ich am Tag zuvor noch gedacht, es könne nicht schlimmer kommen. Aber man soll ja niemals nie sagen. Die nächsten Tage verbringe ich mit viel Schlaf, sehr viel Schlaf, nehme ein wenig Brühe und irgendwann auch Reis zu mir. Am Freitag geht es mir wieder so gut, dass ich meine Übersetzungsprüfung schreiben kann und endlich meinen chilenischen Personalausweis beantragen kann.


Eigentlich hätte ich den Personalausweis beantragen müssen, als ich endlich mein Visum in den Händen hielt. Aber die Chilenen streiken gerne, was nicht schlimm ist, schließlich streiken sie nicht aufgrund irgendwelcher Belanglosigkeiten, sondern aufgrund der schlechten Bezahlung. Drei Wochen hat er gedauert und so langsam neigen sich die 30 Tage, die ich ab der Visumsausstellung zur Ausweisbeantragung habe, dem Ende zu. Anfang der Woche hatte das registro civil, das Bürgeramt hier in Chile, bereits wieder geöffnet, allerdings nur eine gewisse Anzahl von Menschen bedient. Ich stehe also da, habe alla Unterlagen beisammen, ziehe eine Nummer und warte. Warten kann tatsächlich sehr anstrengend sein, wenn um einen herum alle außerordentlich nervös sind, alle zwei Minuten ein gräulicher Klingelton der unzähligen Mobiltelefone erklingt und man nicht einmal in Ruhe lesen kann. Nach einer Stunde des Wartens bin ich an der Reihe, zumindest wird meine Nummer von der Dame vorne aufgerufen – die Anzeigentafel funktioniert nicht. Die freundliche Dame am Schalter sagt mir nach einem kurzen Blick auf meine Unterlagen, dass das Datum beim Einreisestempel nicht lesbar genug ist. Ich müsse noch einmal zur Policía de Investigaciones, um mir bestätigen zu lassen, dass ich am 7. August nach Chile eingereist bin. Ich maule ein wenig herum, bis sie meint, ich solle schnell dorthin gehen und wieder herkommen, ich müsse auch keine neue Nummer ziehen, sondern einfach wieder zu ihr an den Schalter kommen. Ein wenig schlecht gelaunt, stapfe ich mit großen Schritten durch den freitagvormittaglichen Kaufrausch der Stadt, gute fünfzehn Minuten Fußweg (und sehr viel länger hat weder die Polizei für internationale Angelegenheiten, noch das Bürgeramt offen). Immerhin erhalte ich die Beglaubigung, dass ich tatsächlich am abgestempelten Datum nach Chile eingereist bin problemlos. Dann nehme ich wieder meine Beine in die Hand und schlage kurz vor Wochenende wieder bei der Dame am Schalter auf. Ja, sie ist wirklich freundlich. Also darf ich jetzt freundlich in die Kamera lächeln, einmal, zweimal, dreimal – ich höre auf zu zählen. Und dann gibt es Probleme bei meinem Nachnamen, der enthält nämlich ein „ä“ und das ist auf ihrer Tastatur nicht vorhanden, auch das Tastenkürzel funktioniert nicht – irgendwann gibt sie auf und meint, das würde schon klappen. Ich bin gespannt, wenn schon der Stempel unleserlich war, was passiert denn bitte, wenn mein Nachname zwei Schreibweisen erfährt? Abwarten und faden Tee oder doch lieber löslichen Kaffee trinken? Es gibt ein weiteres Problem, aber nicht mit mir, irgendwo an einem anderen Schalter. Die nette Dame entschwindet, an ihre Stelle rückt eine Dame, die meine Finger auf das Fingerabdruckgerät presst, als würde ich mich wehren wollen. Außerdem spricht sie mit mir, als ob ich kein Spanisch beherrschen würde: langsam und als sei ich irgendwie geistig zurückgeblieben. Ich bin zwar blond, aber ich bin des Spanischen durchaus mächtig. Dann muss ich noch etwas unterschreiben. Was? Ich kann keine Organspenderin sein? Ich frage nochmal nach. Nein, als Ausländerin ginge das nicht. So ganz traue ich ihr nicht über den Weg (später stellt sich heraus, dass andere unterschrieben haben, dass sie sehr wohl Organspender sind). Dann versucht mir die Dame zu erklären, dass ich den Ausweis laut dem Papier – sie markiert das Datum neongelb – zwar in einer Woche abholen könne, sie nimmt sich dann aber einen Kalender und zeigt auf die darauffolgende Woche. Es dauere gerade länger. Ah, danke. Demnächst werde ich auf ganz dummblond stellen, wenn man mich mal wieder nicht verstehen möchte. (Mir ist durchaus bewusst, dass man auch gerne Ausländern so in unserem wunderschönen Land begegnet.) Eine Erfahrung mehr. Sind das jetzt bereits die drei schlechten Dinge oder kommt gar noch etwas? So richtig schlimm war das ja jetzt nicht… Da fällt mir auf, dass sich ein guter Freund schon lange nicht mehr gemeldet hat und sich auch sonst sehr distanziert verhält. Immerhin verbrennt mir die Sonne die Nase. Das kann ja jetzt nun wirklich nur noch besser werden.