Montag, 23. Juni 2014

Mitten im Nirgendwo

Wellenwildfang an der Nordküste Rapa Nuis

Es sei noch einmal Mai. Zweieinhalb Wochen noch in Chile. Gerade bin ich in meiner alten WG hängen geblieben, draußen schüttet es in herbstlichen Strömen. Der Sushi-Lieferant badet deswegen in unserem Mitleid, denn erst nach einer Stunde klingelt er an der Tür. Er hat sich verfahren und dann hilflos gesucht, bis er endlich durchweicht zu uns gefunden hat. Das Sushi mundet, es kommt natürlich nicht gegen den Tokyoter Fischmarkt an, aber schlecht ist es nicht. Langsam muss ich dann aber doch aufbrechen, der Bus fährt um 23 Uhr mit Hauptstadtrichtung. Schnell nach Hause, die letzten überlebenswichtigen Dinge in den Rucksack packen, Rita abholen, mit der micro zum Busbahnhof und durch die Nacht fahren. Draußen ist es ungemütlich, die Ledersitze der Busgesellschaft sind zwar nicht kuschlig, dennoch erträglich. Es ist noch dunkel, als wir in Santiago ankommen, der Morgen ergraut erst am Flughafen. Ach, eine letzte Reise vor der Rückkehr. Da steht er auch schon angeschlagen: 9.05 Uhr, Osterinsel. Sechs Stunden Flug, mehr als 3700 Kilometer vom chilenischen Festland entfernt liegt dieses winzige Eiland. Ein zuvor nicht existenter Traum geht gerade in Erfüllung, nicht einen Gedanken habe ich bislang daran verschwendet, dem Reiseführerzusatz (Chile & Osterinsel) Beachtung zu schenken. Ganz plötzlich keimte die Schnapsidee und auch ganz plötzlich saßen wir im LAN-Büro, um die Flugtickets zu kaufen. Das Flugzeug ist voll, hauptsächlich gut betuchte Touristen, nur wenige Insulaner auf dem Heimweg. Neben mir sitzt eine ältere Festland-Chilenin, die es vor 23 Jahren auf die Insel verschlagen hat und für Nichts in der Welt zurückgehen würde. Es soll mir ähnlich ergehen, nur leider werde ich dieses Paradies wieder verlassen müssen.

Im Landeanflug erahne ich, wie klein und abgelegen diese Insel ist. Wir landen, das einzige Flugzeug für den heutigen Tag. Gegen eine feucht-warme Wand laufe ich beim Heraustreten aus dem Flugzeugbauch. Um uns herum ist es grün, ich eratme das Meer, weit ist es nicht. Im hölzernen Flughafengebäude werden wir bereits von Oscar erwartet, durch die gläserne Schiebetür wieder hinaus, eine leuchtend gelbe Blumenkette um den Hals gelegt. Das Gepäck kommt in den Geländewagen, eine kurze Rundfahrt durch den Ort soll uns einen ersten Überblick verschaffen, dann endet unsere Fahrt im Hostel Kona Tau. Ob es die Flugstunden oder das feucht-warme Klima ist, wir wissen es nicht, doch sind wir erledigt, kuscheln uns in unsere Betten und schlafen eine Weile. Das Aufstehen am späten Nachmittag fällt schwer, doch viel Zeit bleibt uns in diesem Paradies leider nicht, also ziehen wir los, streunen durch die Straßen, entdecken bereits die ersten moai-Statuen und wollen jetzt doch mehr wissen. So begeben wir uns auf die Suche nach dem einzigen Museum der Insel. Es liegt ein wenig abseits, die Insulaner, so stellen wir fest, zeigen sich zwar gerne oberkörperfrei, doch nicht allzu aufgeschlossen. Iorana, mehr können wir nicht auf Rapa Nui sagen, schade, denn die hiesige Sprache hat einen wunderschönen Klang, da schlägt das Linguistenherz gleich höher. Also müssen wir auf unser chilenisch gefärbtes Spanisch zurückgreifen und werden daraufhin auch nur mit richtungsweisenden Handbewegungen bedacht. Etwa eine Stunde vor Schließung stehen wir vor dem modernen Bau des von einem Deutschen gegründeten Museums. Sebastian Englert, zunächst Mönch des Kapuzinerordens, Geistlicher während des ersten Weltkrieges, der dann Chiles Süden und die indigenen Sprachen erkundete. Wahrscheinlich hat ihn irgendwann das Inselfieber gepackt und sich deswegen auf die Kultur und Sprache Rapa Nuis konzentriert. Einen Teil seiner Arbeit durchforsten wir also im gleichnamigen Museum. Doch wie auch alle anderen Wissenschaftler konnte dieser Mann das ein oder andere Geheimnis der Insel nicht lüften, zwar erfahren wir viel über Riten und Traditionen, über den Bau von inseltypischen Kanus, die originäre Flora und Fauna, doch was die Riesen der Insel betrifft, die maoi-Statuen, bleiben Fragen. Mit vollem Kopf und neuem Wissen bewaffnet taumeln wir hinaus, blicken aufs Meer und bemerken unsere grummelnden Mägen. Auch wenn es ein wenig edel und teuer daherkommt, lassen wir uns im Te Moana nieder und starren, passend zum Restaurantnamen, auf das tiefe Blau des Ozeans.

Das Leben ist hart und ungerecht, zumeist


Michelada und Guayaba-Saft im Sonnenuntergang, ein großartiges Fischfilet dazu violettes Süßkartoffel-Püree und frisches Gemüse in Kokossoße. Und weil es noch nicht vulkanisch genug hier ist, lassen wir uns den Schokoladen-Vulkan bringen. Direkt neben uns lässt der Pazifik seine Wellen zerschellen. Im Abendlicht beobachten wir Surfer, die wie wartende Wale ihre Welle herbeisehnen und sich dann behände erheben, um sich der Wasserkraft zu bemächtigen. Nur ungerne verlassen wir unseren Ausblick, doch der Wind frischt auf und die Nacht hüllt uns bereits ein. Gegenüber des winzigen Hafens von Hanga Roa erstreckt sich ein Fußballfeld, auf das die einzigen Flutlichtstrahler der Insel gerichtet sind und auf dem jeden Abend Trikots verschwitzt werden. Es ist also nicht verwunderlich, dass der Großteil der Menschen hier gut durchtrainiert über die Insel spaziert. Dazu das große Statuenhafte der polynesischen Wurzeln, da könnte man sich glatt verlieben, und das ist erst das Äußerliche.

Postkartenwürdiges Sonnengold

Am nächsten Morgen erkunden wir noch ein wenig den einzigen Ort auf der Insel, dann wollen wir hinauf auf einen der ältesten Vulkane -  den Rano Kau, der zu der Orongo-Kultstätte führt. Immer an der Küste entlang entdecken wir die Ana Kai Tangata, eine Höhle auf Meeresniveau. An den Wänden lassen sich Manutara-Vögel erahnen, doch die Witterung hat seit Jahrhunderten dafür gesorgt, dass die Wandmalereien langsam verschwinden. Das schwarze Vulkangestein und das Tiefblau des Pazifiks stehen im Kontrast zum grünen Inselinneren. Im Manavai-Garten stehen Bäume, Sträucher und andere Pflanzen von einer hüfthohen Steinmauer umringt, damit sich die Feuchtigkeit besser hält. Durch einen der wenigen Inselwälder wandern wir nach oben, wirklich hoch gelegen ist der erloschene Vulkan nicht, doch die Hitze bringt uns zum Schwitzen.

Der Kratersee des erloschenen Rano Kau

Hibiskus, Eukalyptus, Bougainville, Orchideen und allerlei andere mir fremde Pflanzen säumen den Weg, das wilde Gras verleibt sich die menschlichen Spuren ein, hier ein umgestürztes Schild, dort ein zugewucherter Weg. Nur wenige wandern zum Kratersee, die meisten fahren mit dem Auto hoch. Der Blick auf die ganze Insel zeigt, wie vielfältig sie doch ist, das grün changiert, die Hügelkuppen sind dort hinten rundlicher, erinnern mich ein wenig an die rundgeschnittenen Friedhofsbäume im patagonischen Punta Arenas. Wir sind alleine hier oben, kein Touristenansturm. Ruhe.


Doch ganz ohne Touristen-Programm kommen wir nicht aus, am Abend entscheiden wir uns dazu, das kulturelle Kai-Kai-Ballett zu begutachten. Spärlich bekleidete Männer mit Trommeln, Ukulele und anderen Zupfinstrumenten nehmen im hinteren Teil der Bühne Platz, der Kopfschmuck ist opulenter als das Untenrum. Einige Frauen in langen Hawaii-Kleidern stimmen die ersten Gesänge an, es wirkt fröhlich-melancholisch. Und dann kommen die ersten Tänzer auf die Bühne. Die Männer, allesamt tätowiert, tragen einen Bastrock und auch um ihre Waden schlingt sich Pflanzengewebe. Die Frauen dagegen tragen Röcke aus Federn. Die Körper bewegen sich fließend zur Musik, ganz anders als die Festlandchilenen wissen die Insulaner ihre Hüfte einzusetzen, ihren ganzen Körper, als würden sie eins sein mit ihrer Umgebung. Ob das alles noch mit Tradition und Natürlichkeit zu tun hat, oder ob es nicht nur noch ausschließlich der touristischen Unterhaltung dient, es lässt sich nur schwer sagen. Die tanzenden Körper erzählen Geschichten ohne Untertitel, es lässt sich oft erahnen, worum es geht, doch auch hier wird Kultur bewahrt, nicht ganz preis gegeben. Und ein wenig vorgeführt werden tanzwillige Touristen dann glücklicherweise auch. Auf der Bühne bewegen sich die meisten eher hölzern und wirken neben den Tänzern wie Witzfiguren. Ein Glück, dass ich mich hinter meiner Kamera verstecken kann und mich keiner der halbnackten Männer ins Rampenlicht zerrt. Da genieße ich doch lieber die Fremdscham, die mich beim Anblick der Peinlichkeit überkommt. Mittlerweile hat sich die Nacht auf die Insel gelegt, nur wenige Straßenlaternen helfen beim Nachhauseweg. Der Mond steht voll am Himmel, es ist noch ruhiger als am Tage. Von der Gartenterrasse aus sehe ich sogar das silbrig-plätschernde Meer, der schwarze Horizont verspricht einen stillen Schlaf.

Am nächsten Morgen begeben wir uns ans andere Ende der Insel, wir ziehen um ins Hostel Petero Atamu, eigentlich wollten wir wegen des günstigeren Übernachtungspreises bereits anfangs hierhin, doch es war bis zum heutigen Tage ausgebucht. Erst als uns eine Ladenbesitzerin hilft, finden wir die versteckte Herberge. Wie überall auf der Insel laufen hier ziemlich viele Hühner herum. Ich würde meinen, es lebten mehr gefiederte Tiere auf Rapa Nui als Menschen – und da würde ich sogar die 60 000 Touristen pro Jahr mitzählen. Heute geht es endlich unter Wasser, vorher ein leichtes Mittagessen, doch das Dessert im Café Caramelo mitsamt frischem Mangosaft liegt uns vor dem Tauchgang doch ein wenig schwer im Magen. In der Tauchbasis Mike Rapu erwarten uns Neoprenanzüge, eine bereits vorbereitete Tauchausrüstung sowie Bruno und der namenlose Argentinier mit den schönen Augen. Eine kurze Einführung – neben mir sitzen drei Tauchneulinge, für mich ein Auffrischen, denn es ist bereits vier Jahre her seit meinem letzten Tauchgang in der kolumbianischen Karibik. Heute wird mir alles abgenommen, das Ablassen der Luft, das Austarieren unter Wasser. Doch erst einmal fahren wir mit dem kleinen Boot auf See, zehn Minuten vom Hafen entfernt liegt ein kleines Korallenriff, um Rapa Nui herum befindet sich nach dem australischen Great Barrier Rief das zweitgrößte lebende Korallenriff der Welt. Rückwärtsrolle vom Bootsrand hinein in den Pazifik, selbst da wird uns geholfen. Während ich mit Bruno abtauche, beschäftigt sich Rita mit den stahlblauen Augen des Argentiniers und so tauchen wir getrennte Wege. Tief hinunter geht es nicht, 12 bis 15 Meter. Doch auch hier ist es bereits bunt und geht auch so zu: Langnasen-Pinzettenfische streiten sich mit Doktorfischen, Falterfischen und anderen farbenfrohen Gesellen um die Überreste eines Seeigels. Hie und da schweben Trompetenfische kopfüber über dem Korallenriff, in einer dunklen Höhle versteckt sich eine giftige Abotts-Muräne, im sandigen Untergrund ein Fasanbutt. Mitten im Gewusel schwimmt mir ein Perlhuhn-Kugelfisch vor die Maske, und auch ein Skorpionsfisch lässt sich blicken, eine Muräne verschwindet ebenso schnell, wie wir sie erblickt haben. Nur der auch hier heimische Galapagoshai hat sich nicht zeigen wollen, vielleicht auch besser so. Die halbe Stunde unter Wasser geht schneller um, als mir lieb ist, doch der Wunsch, das Tauchen wieder ernster zu nehmen, ist im flachen Blau entsprungen. Immerhin schaukeln wir noch eine halbe Stunde auf dem Boot vor der Steilküste Rapa Nuis, bevor das Schwanken der Wellen wieder durch festen Boden unter den Füßen ersetzt wird.
Tiefes Meeresblau und neugierige Fische

Eigentlich sind wir erledigt, doch wir müssen noch das Auto an unsere ersten Bleibe abholen, damit wir morgen früh pünktlich zum Sonnenaufgang am anderen Ende der Insel sind. Also raffen wir uns nach zu Hause gekochten Nudeln auf, bei deren Kochvorgang beinahe die hauseigene Katze mit im Kochtopf gelandet wäre, so sehr hat sie uns genervt (ein Glück für sie sind wir beide keine Fleischesser), spazieren durch das abendliche Hanga Roa, einmal quer durch den Ort, nur um dann die Information zu erhalten, dass das uns zugesagte Auto momentan nicht verfügbar ist. Aber morgen früh, ganz sicher. Chilenische Zuverlässigkeit also auch mitten im Nirgendwo. Großartig. Dabei haben wir unserer zweiten Möglichkeit bereits abgesagt.
Am nächsten Morgen werden wir angerufen, das Auto sei nicht da, aber für den darauffolgenden Tag ganz bestimmt. Ja, sicher. Gereizt und bereits mit belegtem Festlandvollkornbrot im Gepäck versuchen wir unser Glück bei einer hoffentlich seriösen Autovermietung. Und siehe da, wir müssen nur eine halbe Stunde (im etwas zu großen Massage-Sessel) warten und dann steht uns ein kleiner, roter Geländewagen zur Verfügung. Da Rita ihren Führerschein in Deutschland gelassen hat, werde ich mich wohl hinter das Steuer des Suzuki klemmen, der erste Japaner. Die Straßen sind mindestens genauso ruhig wie das gesamte Inselleben. Auf der einzigen Küstenstraße ist viel Platz und mit 40 Stundenkilometern (Höchstgeschwindigkeit) kurven wir durch die raue Natur. Laut Karte sind wir bereits an den ersten moai-Statuen vorbeigefahren, doch das soll uns nicht stören. Wir stellen das Auto am Straßenrand ab, wenn es uns beliebt, klettern über Vulkangestein zu den Ecken, die uns rufen, halten hier, halten dort. Irgendwann biegen wir links ab, ins Inselinnere, wohlgemerkt bis hierher die einzige Möglichkeit, abzubiegen und kommen am Rano Raraku kaum noch aus dem Staunen heraus. An diesem Vulkan schauen allerorts maoi in die himmlische Ferne, nicht abgehoben, von oben herab, sondern mit einer Weitsicht aufs hinter ihnen liegende Leben. Trotz der zahlreichen Touristen hier birgt der Ort Ruhe und Gemütlichkeit, zugleich Großes. In jedem Winkel steht oder liegt ein moai, im Vulkangestein warten halb herausgearbeitete moai auf ihr Auferstehen. Doch das wird niemals stattfinden, ein ewig währender Schlaf steht ihnen bevor. Alles scheint hier still zu stehen, die unerklärliche Geschichte der Insel lacht uns ein wenig hämisch ins Gesicht, alles können wir Menschen denn dann doch nicht entziffern und verstehen. Gut so.

moai am Rano Raraku

Irgendwo steht eine einsame Palme, die Grüntöne haben sich verändert, im Osten ragt die Halbinsel Poike empor, der älteste Vulkan dieser Insel. Die Meeresluft strömt zum weit geöffneten Fenster hinein, und da, zu unserer Rechten stehen 15 moai nebeneinander aufgereiht, einer der wenigen restaurierten Orte: Tongariki. Dem Tsunami im Jahre 1960 konnten selbst die schweren Steinkolosse nicht standhalten und erst Jahrzehnte später, in den 1990er Jahren wurde die ahu, die Zeremonie-Plattform, wieder mit den ins Inselinnere gerichtete Ahnen bestükt. Gerade sind zwei Busse voller Touristen angekommen, wir nehmen uns Zeit und essen mit Blick auf das Meer und die Statuen unsere Brote, bis wir tatsächlich für kurze Zeit ganz alleine sind.

moai-Interpretation

Über Schotterpisten im Schritttempo geht es zum einzigen Strand der Insel. Doch zuvor machen wir Halt am Bauchnabel der Welt, Te Pito O Te Henua, ein runder Stein am Pazifik, an dem wir mana sammeln, Kraft. Der Stein ist warm und auch wenn es esoterisch klingen mag, es herrscht ein Frieden an diesem Ort, der sich leicht aufs Innere überträgt. Mit aufgelegten Händen sitzen wir hier und vergessen die Zeit, bis eine Gruppe Chilenen kommt und uns mit ironischen Blicken verscheucht. Aber wir warten noch einmal, bis sie wieder verschwunden sind und der Frieden zurückgekehrt ist. Ein paar Kilometer weiter liegt der Anakena-Strand, weißer Sandstrand, ein Palmenwäldchen, moai-Statuen, die Bucht lädt zum Baden ein. Und das tun wir auch ausgiebig, das Pazifikwasser ist wärmer als erwartet und damit perfekt für diesen luftigen Tag. Wir plätschern dahin, paddeln, schwimmen, lassen uns treiben. Herrlich.
Da der Mensch ein Gewohnheitstier ist und die michelada einfach sehr gut dort geschmeckt hat, laufen wir später noch einmal zum Te Moana und genießen das Rauchen der nächtlichen tief-schwarzen Wellen. Um uns scharen sich die Kellner, viel los scheint nicht zu sein. Mit Felipe kommen wir ins Gespräch, er ist vor anderthalb Jahren wegen seiner großen Liebe auf die Insel gekommen, welche mittlerweile allerdings erloschen ist. Die Geschichten der Festlandchilenen ähneln sich, Gestrandete aus einem anderen Leben, die auf Rapa Nui das einfache Leben für sich entdeckt haben und anscheinend auch recht gutes Marihuana anbauen. Erst wollen wir zu einer Inselparty, doch die Müdigkeit übermannt mich fast. Wir schauen am Veranstaltungsort vorbei, setzen uns auf eine der dunklen Bänke und sehen, wer so alles hineingeht. So richtig verlockend ist es nicht, also bleiben wir weiterhin draußen sitzen. Irgendwann traut sich ein junger Insulaner zu uns, erzählt uns, dass er der König der Insel sei, er das schnellste Pferd namens Pegasus besäße, Sänger und Surfer sei,... Nach einem zweiten Annäherungsversuch seinerseits verabschieden wir uns und laufen zurück zum Hostel. Kurz bevor wir schlafen gehen, meldet sich Felipe und wir ziehen doch noch einmal los...
Wir kommen zwar erst sehr spät im Bett, und doch schaffen wir es zum sonntäglichen Gottesdienst in der einzigen Kirche der Insel. Um 9 Uhr versammeln sich hier Einwohner und Touristen, das Gebäude platzt beinahe aus allen Nähten, auch wir stehen im hinteren Teil, verfolgen den Trubel und unser Blicke bleiben vor allem an den kleinen herumtollenden Kindern hängen. Im Wechsel wird auf Spanisch gebetet und auf Rapa Nui gesungen, anstatt in die Orgeltasten zu hauen, zupft und trommelt die ältere Belegung an ihren Klampfen oder auf ihren Trommeln herum. Geräuschig bunt. Sehr anders, irgendwie befremdlich dieser Synkretismus. Wir geben das Auto ab und wandern dann auf eigene Faust von Hanga Roa aus in Richtung Norden. Nicht nur in der Kirche, sondern ebenso auf dem Friedhof mit Meeresblick mischt sich Inselkult(ur) mit christlichem Glauben.

Grab auf dem Inselfriedhof


Immer an der Küste entlang, den Weg lassen wir schnell rechts liegen und schnuppern zumindest so ein wenig Abenteuerluft. Zerklüftete Felsen, es geht steil hinab, das wilde Gras weht im Küstenwind, einsame Korallenbäume tupfen rot-orangefarbene Kleckse in die Landschaft und Flechte und Moose zeichnen ihre ganz eigenen Malereien auf das Vulkangestein. Als wir nach Pferdebekanntschaften irgendwann wieder auf einen befestigten Weg stoßen, hält neben uns ein Auto, dessen Fahrer uns bestätigt, dass es zu unserem Ziel nicht mehr weit ist: Wir wollen die Ana Kagenga sehen. Der Höhleneingang ist so versteckt, dass wir ihn ohne die Hilfe der Chilenen wohl niemals gefunden hätten und uns wahrscheinlich auch nicht hinab getraut hätten. Ein Loch im Boden, mehr ist da nicht. Es ist eng und stockdunkel, wir lassen das Tageslicht hinter uns, eine Hand immer am Kopf, damit wir uns nicht stoßen. Langsam weicht das mulmige Gefühl und auch im Inneren der Vulkaninsel wird es geräumiger, wir können aufrecht stehen. Rechts und links vor uns öffnen sich zwei Fenster mit Blick auf den wilden Pazifik, daher der Namenszusatz „Zwei-Fenster-Höhle“. Raus geht es deutlich schneller als rein und unverletzt stehen wir wieder auf der Insel. Wir sehen dem Wellenspiel noch eine Weile zu, dann wandern wir langsam zurück. Der letzte Abend und damit die letzte Möglichkeit, den Sonnenuntergang am Ahu Tahai zu betrachten. Wir schaffen es tatsächlich noch, setzen uns auf eine Anhöhe, so manch ein Tourist stößt zum Schauspiel dazu, aber auch Insulaner gesellen sich hier zusammen, spielen Musik, tanzen... Und dann versinkt sie im Meer: die Osterinselsonne. Die ganzen Tage über war sie nicht so erbarmungslos wie auf dem Festland, das Licht war angenehmer eher golden als gleißend. Die Himmelsfarben verwaschen langsam. Später am Abend setzen wir uns noch mit Felipe an die kleine Bucht, trinken ein Bier mit Wellenklang und starren dann ewig in den überfluteten Sternenhimmel. Die Milchstraße führt mich zu einer wohligen Einsamkeit, dieses Gefühl, nur ein winziger Krumen auf der Erde zu sein. Und doch spüre ich eine innere Freiheit. Ach, wenn wir nur morgen nicht zurück in diese andere, so hektische Realität müssten. Bleiben. Das wäre etwas.


Doch der nächste Morgen kommt und mit ihm der Abschied. Noch ein Mangosaft und einmal Meergucken, dann wartet das Flugzeug auf uns, nun gut, wir warten aufs Flugzeug. Mit einer Stunde Verspätung verlassen wir Rapa Nui. Iorana.

Montag, 2. Juni 2014

Die Ruhe nach dem Sturm

Der Besuch ist weg, die Realität wieder da, die Tage werden kürzer, Winterzeit. So langsam klopft der Herbst an die Tür, es wird kalt und feucht. Es fällt mir schwer aus dem Bett zu kriechen, die Dusche bequemt sich kaum, warm zu werden. Es scheint, als würden die Tage Trauer tragen, in Tristheit und Einsamkeit gewandte Stunden, aus denen gefühlt ganze Wochen werden. Winterblues im April? Ich muss raus, raus aus dem Bett, rein in die Welt. Die Uni hilft da herzlich wenig, es geht nur träge voran.
Tage, aus denen Wochen wurden. Und in diesen Wochen hat sich dann auch mein Wunsch konkretisiert, auszuziehen. Nicht wegen meiner Mitbewohner, einen großen Teil habe ich sehr ins Herz geschlossen, vielmehr geht es um die Umstände. Da sich angeblich nicht alle an die Besucherregeln halten, will der Hausbesitzer Überwachungskameras im und am Haus installieren, nicht zu unserer Sicherheit, sondern zur Überwachung eben. Das stößt mir ziemlich sauer auf. Mindestens genauso sauer wie sein Vorhaben, einen 12 Meter hohen Mobilfunkmasten in unseren Hinterhof zu stellen. Auch wenn nicht mehr viel Zeit bleibt, ich möchte weder gefilmt werden, noch hinterhältigen Strahlen ausgesetzt werden. Also halte ich Augen und Ohren offen. Tatsächlich eröffnet sich mir eine Möglichkeit, von der ich nicht zu träumen gewagt hätte: eine ganze Wohnung, nur für mich alleine, ich darf die Wohnung einer guten Freundin bewohnen, solange sie den Mai über in Deutschland ist. Stille. Eine ordentliche und saubere Küche, ein Balkon mit Aussicht auf die Stadt. Der Weg zur Uni ist nun ein wenig weiter, aber 20 Minuten Fußmarsch halten mich zumindest wach.

Eine Zugfahrt, die ist lustig...

Es ist viel zu tun, die letzten Prüfungen warten, aber glücklicherweise ebenso ein Wochenende in einem kleinen Dorf. Zusammen mit ein paar meiner ehemaligen Mitbewohnern steigen wir am 2. Mai, der hier Brückentag ist, mittags pünktlich in den orangefarbenen Zug. Vor der Diktatur war die Eisenbahn-Infrastruktur sehr viel ausgeprägter, mittlerweile gibt es nur noch vereinzelt Personenzüge. Mit Rucksäcken und Kartons bewaffnet bahnen wir uns den Weg zu den wenigen verbleibenden Sitzplätzen. Langsam ruckelt die volle Bahn durch die Landschaft. Araukarien strecken ihre Arme gen Himmel, zwischen dem immergrünen Nadelwald leuchten hier und da feuerrot gefärbte Laubbäume auf. Der Fluss Bíobio glänzt in der Herbstsonne. Wir schmieren Käsebrote und beobachten unsere Mitreisenden. Erst werden die Fahrkarten kontrolliert, dann werden uns abwechselnd Getränke, Nüsse, Sandwiches, Kaffee und noch so einiges mehr feilgeboten. Hinter uns spielen Kinder lautstark, obwohl, es sind eher ihre lautstarken elektronischen Geräte, auf denen sie spielen. Böse Blicke, selbst lästerliche Kommentare helfen da lange nicht weiter. Erst, als wir bereits fast in Laja ankommen, hat es sich ausgespielt.

Abendliche Stille

Am Endbahnhof stolpern wir in kleine Straßen, niedrige Häuser, ausgeblichene Farben. Rocío holt uns ab, gemeinsam stiefeln wir gut bepackt durch die Ortschaft und kommen dann an einem niedlichen, kleinen Reihenhäuschen an, das von Anfang an magisch auf mich wirkt. Die Wände sind dünn, alles wirkt so zart besaitet, friedlich. Mit unserem Besuch kommt natürlich ein bisschen Leben hinein, doch die Ruhe bleibt bestehen. Wir packen aus, kochen Nudeln und machen uns auf in den sich bereits verdunkelnden Abend, hinauf zum Wald. Die Tannennadeln färben den Waldboden in ein rostbraunes Rot, die kahlen Baumstämme recken sich in den wolkenverhangenen Himmel. Ein verlassener Spielplatz taucht im abendlichen Grau aus dem Nichts auf. Ein Karussell, Schaukeln, Wippen. Unsere Herzen springen beinahe aus unseren Kehlen. Ausgetobt spazieren wir zum See, der Mond spiegelt sich im schwarzen Nass wider, in der Luft hängt nebliger Geruch nach Brennholz. Trotz der Kälte zieht es uns ans Wasser, fast ins Wasser. Wieder im kleinen Reihenhäuschen zurück, machen wir sopaipillas und trinken dazu pisco sour, spielen Karten und reden bis in die Nacht hinein.

Am Samstagmorgen kommt der Großteil nur schwerlich aus den Federn, ich lese für meine bevorstehende Literaturprüfung und entscheide mich dann dafür, hier zu bleiben, während der Rest aufbricht – in Richtung Nationalpark. Irgendetwas hält mich in diesem Haus fest, die Ruhe überträgt sich langsam, ganz langsam auf meinen Gemütszustand. Gemeinsam mit Rocío bleibe ich also. Sie muss lernen ich lesen. Und dazwischen finden wir Zeit für Gespräche, für ein Mittagessen. Zeit. Am späten Nachmittag kommen Manuel, Lorena, Gabriela, Marie und Maëlys zurück und wir laufen zusammen nach San Rosendo, der Nachbarort. 

Über eine Brücke müssen wir gehen.

Die mit ihrem spärlichen Fußweg, in dem so manch eine Holzplanke fehlt, bedachte Brücke führt über den Fluss, in diesen Ort, der einem Zugfriedhof gleicht: rostige Gleise, eine quietschende Drehscheibe, halb eingestürzte Gebäude und überall alte, begehbare Waggons. Und wieder sorgt der Abendhimmel für dieses seltsame Gefühl der Heimeligkeit. Im Dunkeln laufen wir über die Brücke zurück, sitzen zu Hause wieder zusammen. Am Sonntagnachmittag nehme ich nach einem ausgiebigen Spaziergang etwas Ruhe mit.



Samstag, 24. Mai 2014

Konzerte voller Musik, voller Ausblicke, voller Anstrengungen


Der Mond über und im See Villarrica

Eine Kurzfassung der vergangenen Wochen? Unmöglich. Dafür ist viel zu viel passiert. Und so langsam muss ich mich daran machen, alles zu elektronischem Papier zu bringen, sonst verschwinden all die Erinnerungen im Nirgendwo.

Seit Januar habe ich mich gemeinsam mit Rita darauf gefreut: Placebo in Santiago. Kaum ist also ein Monat Uni rum, steigen wir still und leise an einem Donnerstagmorgen in einen der zahlreichen Busse, der uns nach Santiago bringt. Schnell die Sachen im Hostel einschließen und noch kurz veganes Sushi auf einem der vier Barhocker des winzig kleinen Emporio-Vegetal-Imbisses verspeisen, kurz im achten Himmel schweben (aufgrund des Gaumengenusses) und dann kurz vor Schreck mein Geld vermissen, bis mir auf Ritas Überlegung hin wieder einfällt, dass ich das ja am Leib trage. Zwei Kilometer Fußweg, allerdings ohne Karte und auch ohne intelligente Handys, wir fragen uns durch und irgendwann stehen wir vor der kuppelbedeckten Movistar-Arena. Langsam geht die Sonne unter, wir sind eine der wenigen, die nicht in dieses schwarzgekleidete Emo-Stereotyp passen. Beim Einlass läuft alles gesittet, unsere Wasserflasche im Stoffbeutel fällt etwa tatsächlich niemandem auf oder ist den Sicherheitskräften völlig gleich. Auch wenn die Schlange draußen sehr lang war, drinnen hält sich der Bühnenandrang in Grenzen. Wir stehen in der vierten Reihe und müssen wartend ständig aufpassen, nicht auf irgendwelchen Handyfotos zu landen. Schnell noch ein Foto und noch ein und noch eins. Das wird leider auch das Hauptanliegen der meisten Menschen hier sein. Konzertfotosammler. Wir schließen darauf, dass viele hier eher aus der Oberschicht kommen, wirklich günstig waren die Karten nicht und da passen so verwackelte Konzertbilder von Placebo wunderbar ins Konzertfotosammelalbum, digital natürlich. Zwei Vorbands präsentieren ihr Können, chilenischer Rock, ganz annehmbar, und ein Elektro-Duo, das mit Webcams und ipad kleine Wunderwerke auf den Flachbildschirm zaubert. Und dann ist es endlich so weit: kreischende Mädchen, oh, nein, wirklich: Brian Molko und Co. steigen mit B3 in den Abend ein. Kurz hüpft und kreischt die Menge, dann werden Mobiltelefone und Fotokameras gezückt, um möglichst viel vom Konzert zu dokumentieren. Gut, sollen sie, ist ja noch das erste Lied. Beim dritten Lied „Loud Like Love“, das wohl im Radio meist gespielte Lied des neuen gleichnamigen Albums, können die Chilenen sogar mitsingen. Kurz vergessen einige ihre Mobilgeräte und beginnen aus unerfindlichen Gründen zu pogen, zu stoßen und zu rammen. Als das nächste Lied wieder ruhiger ist, und ich langsam beginne, das Konzert zu genießen, reißt mich die träge Menge mit ihrem unverhohlenen Gelangweiltsein aus meiner inneren Begeisterung. Und so kommt es leider immer wieder an diesem Abend, dass Placebo ein wunderschönes Konzert abliefert, das Publikum aber noch nicht einmal in der Lage dazu ist, das Ganze mit Applaus zu würdigen – vielleicht stören ja die Mobiltelefone beim Klatschen. Mit sehr gemischten Gefühlen laufen wir durch das nächtliche Santiago zurück, mit einem Groll gegen chilenische Placebo-Konzertgänger. Am nächsten Morgen fahren wir früh zurück in den Süden, nur um wenige Tage später wieder in die Hauptstadt zu tingeln.

Sonntags heißt es kochen, und zwar für alle zehn Mitbewohner, etwas Landestypisches. Beim ersten Mal habe ich mich ein wenig darum gedrückt und vegetarisch gekocht, doch dieses Mal wird’s böhmisch. Keine Dörfer, sondern Kaninchen, ertränkt in Rotwein, dazu Semmelknödel und Rotkohl. Auf dem Markt finde ich ein paar gehäutete, jedoch noch nicht geköpfte Exemplare. Gefühlt stehe ich eine halbe Ewigkeit in der Küche. Aber das selige Schweigen bei Tische zeigt: Es war die Mühen wert.

Am Montagabend verabschiedet mich ein Teil meiner chilenischen Adoptivfamilie als würde ich für immer von dannen ziehen, dabei werde ich nur ein paar Tage unterwegs sein. Nicht alleine, nein. Ich bekomme Besuch, einer meiner besten Freunde kommt auf Kurzurlaub in diesen ewig lange Land. Trotz Vorfreude kann ich ein wenig über Nacht im Bus nach Santiago schlafen, früh morgens komme ich in der Hauptstadt an und fahre noch im Dunkeln zum Flughafen. Ich bin früh dran, das Flugzeug leider nicht. Also warte ich und warte ich, bis ich dann endlich den Riesen über die chilenischen Köpfe hinweg mich suchen sehe. Erst einmal zum Hostal, die Reise verdauen. Schon vor Ort ist Rita, auch sie hat Besuch aus Deutschland. Ein wenig erschöpft schlendern wir durch die Großstadtstraßen, die langgezogenen Parks und nach ein paar vergeblichen Telefonaten finden wir uns dann alle und beschließen, die herbstliche Hitze mit einem Eis abzukühlen – quasi in unserer Stammeisdiele. Dann schließen wir uns nach einem Espresso, von einem pinkfarben behemdeten Kellner serviert, einer großen Touristengruppe an und folgen Wally. Im Wo-ist-Walter-Hemd steht unser kolumbianischer Stadtführer vor dem Museum für Schöne Künste und zieht mit uns los. Hier ein Halt, dort ein Wort zu den vielen Straßenhunden, die auch in Santiago in ruhigem Trott die Menschen begleiten, es sei denn, es handelt sich um durchaus böse Menschen, dafür hätten sie einen Sinn. Immer wieder rieseln Wortwitze in die Ausführungen des Walter-Verschnitts, da unser Doppelbesuch sich anscheinend gern gegenseitig hochschaukelt. 

Eine Figur aus der aymara-Kultur

Währenddessen bewundern wir die bunten und detailüberschwangeren Graffitis vom chilenischen Künstler Inti an der Metro-Haltestelle Bellas Artes. Ein paar Straßen weiter stieren die meisten Augenpaare am Kulturzentrum Gabriela Mistral eher auf die davor posierende, leicht bekleidete Dame, anstatt der Geschichte dieses Gebäudes zu lauschen, im Park Santa Lucía werden wir dann Zeugen einer ganz alltäglichen Ausstellung: chilenische Pärchen knutschend, liegend, sitzend. Den meisten jungen Paaren bleibt es verwehrt, sich zu Hause zu treffen, sodass öffentliche Plätze, am liebsten Parks und ihre Grünflächen, zur gegenseitigen Liebesbekundung und mehr genutzt werden. Noch schnell am Präsidentinnenpalast vorbei, zur Börse und hinab in den Untergrund, an den Wänden der Metro-Haltestelle Universidad de Chile erstreckt sich das Wandbild „Memoria visual de una nación“, auf dem die chilenische Geschichte in kraftvoll kritischen Bildern erzählt wird. Und noch mehr Geschichte gibt es an der Hausnummer 38 der Straße Londres, hier war zu Diktaturzeiten ein Folterzentrum untergebracht, im Boden davor findet man Plaketten mit Namen, Alter und Datum des Verschwundenen. Es gibt so einige Kapitel der chilenischen Geschichte, die während eines kurzen Eintauchens in die Kultur leider viel zu kurz kommen. Ermüdet lassen wir uns in die Sessel eines Lokals fallen, uns wird borgoña (gekühlter Rotwein mit in Pisco eingelegten Beeren) eingeschenkt, dazu ordern wir eine Pizza und verabschieden uns vom Herrn im rot-weiß gestreiften T-Shirt. Dieser erste Abend in bunter Gesellschaft endet spät...

Der nächste Morgen dagegen beginnt mit einem entspannten Frühstück, Rita und ihr Besuch macht sich auf in den Norden, wir bleiben noch bis zum Abend in Santiago. Die herbstliche Hitze draußen ist erträglich, am Fluss Maipo schlendern wir in Richtung Markt. Überdacht werden dort vor allem Fisch und Meeresfrüchte feil geboten.

Frischer Fisch, den nicht Fischers Fritze gefischt hat
An jeder Ecke versucht man uns in ein Restaurant zu ziehen, wir landen dann beim Tío Rico und bestellen einen großen, brodelnden Lehmtopf voll curanto, ein Muschel-Fleisch-Eintopf, der eigentlich von Chiloé stammt. Da es im Restaurant und auch sonst in Chile etwas länger dauert, wird es langsam eng. Wir müssten um 16.30 Uhr am Weingut Concha y Toro sein, da gibt es die einzige Führung in englischer Sprache... Und ja, knapp, aber es passt. Trockenhumorig führt uns der vollbeleibte Weingutführer durch die verschiedenen Stationen, wir dürfen wieder Trauben probieren: Merlot, Cabernet Sauvignon, Syrah,... Und dann werden die Gläser erhoben, Farbe und Geruch analysiert, es perlt auf der Zunge, die Sonne blitzt uns ins Gesicht, ein schweres Leben. Und auch die Verkostung mit Sommelier ist eine Wucht, nicht nur aufgrund unseres klugen Dreinschauens und unseren vorgeblichen Weinkenntnissen, sondern vielmehr aufgrund unserer sehr britischen Gegenübern. Vielleicht muss ich doch noch einmal auf die Insel, dieser wunderbar herbe Humor.

Herbstliche Lichter

Leicht angetrunken fahren wir zurück zum Hostal, packen um, und machen uns gegen 21 Uhr auf zum Busbahnhof. Bereits auf dem Weg dorthin habe ich ein ungutes Gefühl, und tatsächlich: Es gibt kaum eine freie Ecke, und noch viel schlimmer, es gibt kaum noch einen Bus nach Concepción. Osterwochenende, die Preise wuchern und die Menschenmassen reisen zu ihren Liebsten. Wir wollen doch nur nach Concepción, mehr nicht. Doch das scheint heute zu viel verlangt. Ein paar Meter von uns entfernt vernehmen wir ein „Conce, Conce“. Ich nähere mich dem Herrn an, der uns sofort zu einer Dame mit Schreibblock schickt. 15 000 chilenische Pesos, so viel zahlt man normalerweise für die Luxus-Schlafsessel-Variante. Und auch erst um Mitternacht. Halleluja.  Nun gut, wohl oder übel kaufen wir zwei Tickets. Und dann versuchen wir es uns auf dem überfüllten Bussteig einigermaßen bequem zu machen. Das gelingt eher schlecht. Eine leicht übergewichtige Frau ganz in pink gekleidet hat neben ihrem Riesenkoffer eine Kloschüssel stehen, das Mädchen nebenan eine winzige Schildkröte in einem noch winzigeren Terrarium, Kinder, Koffer, Taschen und zwischendrin immer wieder markthalsige Schreier, die der Masse Essen und Getränke anpreisen. Wir schlagen die Zeit tot wie eine Tausendschar Fliegen, um Mitternacht kommt ein Bus angefahren, es scheint unserer zu sein, ich hake nach, unser Gepäck wird eingeladen, wir steigen ein und sitzen, sind froh. Doch nur wenige Minuten später kommt ein junger Mann, der meint, wir würden auf seinem Platz sitzen. Wieder raus aus dem Bus, nachfragen, feststellen, dass wir uns geirrt haben. Also wieder warten, suchen, da kommt ein Bus, etwas klappriger als der vermeintliche, doch da steht 00.30 Uhr angeschlagen. Nein, diese Odyssee ist noch nicht vorbei. Plötzlich taucht von irgendwoher ein weißes Ungetüm auf, als Bus möchte ich dieses Gefährt gar nicht erst bezeichnen. Es ist unser Transportmittel; jetzt würde ich gerne an Gott glauben. Wider Willen steigen wir ein, direkt hinter der klapprigen Fahrerkabine befinden sich unsere Sitzplätze, die Sitze lassen sich nicht verstellen, dafür fallen selbst den einsteigenden Chilenen die Gesichtszüge auseinander. Zum ersten Mal nistet sich eine gewisse Angst in meinen Knochen ein. Es zieht und wackelt, die Fahrer krakeelen lautstark, das steinzeitliche Radio dröhnt und an Schlaf ist wirklich nicht zu denken. Übernächtigt und schlotternd kommen wir nach nur fünf Stunden rasanter, gewagter, schlangenliniger Fahrt an. Ins Bett fallen. Das war’s.

Ein Spaziergang durch Concepción, und dann fahren wir mit Kuchen im Gepäck nach Tomé, Philipp stößt beinahe an die Busdecke, es schaukelt, doch lange nicht so sehr wie auf der nächtlichen Fahrt. Als wir endlich am Meer angelangt sind, haben wir den Strand fast für uns. Ein bisschen entspannen, bevor wir in den Süden fahren, etwa 500 Kilometer Busfahrt liegen vor uns, das Ziel: Villarrica. Dort kommen wir in einer klitzekleinen Wohnung unter, es riecht nach Holz, unter die schwere abendliche Feuchte mischt sich der Geruch heimeligen Feuers. Der Mond steht hoch oben über dem See und findet sein Spiegelbild im schwarzen Wasser. Eine ruhige Nacht und die kleine Stadt erwacht spät, wir ziehen durch den Ort, erkunden uns bei der Touristeninformation nach Ausflugsmöglichkeiten. Doch, um unseren Plan der Vulkanbesteigung verwirklichen zu können, müssen wir in den nächsten Ort: Pucón. So verschlafen Villarrica war, so lebhaft touristisch ist diese hölzerne Stadt. Wir finden eine Reiseagentur, die uns eine erschwingliche und vertrauenswürdige Wandertour anbietet. Anschließend fahren wir zu den Ojos de Caburgua, einer Ansammlung von Wasserfällen und Lagunen, die so blau wie tiefgründige Augen strahlen. Es ist Osterwochenende und demnach auch leicht überfüllt. Wir versuchen, den Massen zu entkommen, klettern über Absperrungen und erleben so die Gänze der augenstarken Gewässer auf eigene Gefahr.

Der Wecker klingelt, als wir gerade eingeschlafen sind, es ist dunkel und kalt, wir brechen auf, werden in Villarrica abgeholt, nach Pucón gefahren, dabei dringt unentwegt ein seltsamer Verschnitt aus den größten Hits der letzten 40 Jahre zu uns nach hinten, alle zehn Sekunden wechselt das Lied. Noch nicht ganz wach kommen wir in Pucón an und erhalten peu à peu unsere Ausrüstung: Hose, Jacke, Helm, Rucksack. Insgesamt sind wir zwölf Leute, laut der Liste sind Philipp und ich hier die ältesten. Ob uns das nicht noch zum Verhängnis wird. Im Kleinbus fahren wir zum Nationalpark, ein, zwei Agenturen stehen bereits mit ihren Kleingruppen am Fuße des Vulkans Villarrica. Wir haben die Wahl: eine Stunde über schottrigen Untergrund laufen oder mit der Luftseilbahn den Weg verkürzen. Ich bin sofort dafür, die anderen aus der Gruppe sind deutlich trainierter als ich. Auch wenn die klapprige Seilbahn kostet und ohne jegliche Sicherheitsvorkehrungen auskommt, lassen wir uns in die blauen Sitze fallen, Spitzhacke und Rucksack auf dem Schoß. 

Hinauf, hinauf in eisige Höhen

Immerhin habe ich keine Höhenangst, die Sonne bricht langsam durch die Wolken, aus dem Schlot schimmert es rötlich, Rauch steigt aus dem Krater empor. Die fitten Jungs steigen unter unseren baumelnden Füßen mit dem Schweizer Tobias hinauf, vor uns im Lift sitzen zwei weitere Bergsteiger, die sich um uns untrainierte Anfänger kümmern. Nach einigem Schwanken und Schweigen von der Seilbahn abspringen, nehmen wir unsere Eispickel in die Hand und lernen laufen – auf dem ersten Eis. Langsam und immer schön ein Dreieck mit dem Eispickel bildend. Wir kommen tatsächlich langsam voran, doch in ein, zwei Stunden bin ich froh um dieses Tempo, denn jede Art von Schnelligkeit nimmt mir beim Aufstieg den Atem. Von 1400 Metern kämpfen wir uns langsam, aber stetig, auf 2850 Meter Höhe. Wir machen kurze Pausen, die fitte Truppe hat uns bereits längst wieder überholt, das Eis blitzt in meinen Augen, bei jedem Tritt ramme ich die Spikes unter meinen Wanderschuhen fest in den eisigen Gletscher, ein konstanter Zick-Zack-Marsch nimmt mir bald die Kraft zum Reden, die Höhenmeter summieren sich nur schleppend. Und doch ist der Kopf wach, nimmt alles genau wahr, dann und wann wird von irgendwoher „¡Roca!“ geschrien und im selben Moment poltert ein Stein von oben hinab, vor dem wir uns in Acht nehmen müssen. Nach Stunden des Aufstiegs fehlen noch ganze 200 Höhenmeter, ich kann nicht mehr, will aufgeben, den Rest ziehen lassen und warten. Kurze Pause, unsere bergsteigerische Begleitung nimmt mir meinen Rucksack ab, ich laufe weiter. Ohne das Gewicht auf dem Rücken kann ich plötzlich meine Knie wieder anheben, die Fersen kann ich mit dem letzten Rest an Kraft in den weißen Untergrund rammen und ganz unerwartet stehen wir oben. Aus dem Krater qualmt es, ein fieser Schwefelgeruch steigt mir zu Kopf. 

Geschafft, in zweierlei Bedeutung

Ein paar Minuten Ruhe, Fotos mit der chilenischen Flagge und dann müssen wir auch schon wieder absteigen. Wolken sind aus dem Nichts aufgetaucht, es zieht sich zu, die Angst vor einem Whiteout steigt auf, davor Nebel von Umgebung nicht unterscheiden zu können und letztendlich gar nichts mehr sehen zu können. Zunächst steigen wir breitbeinig im Gangnam-Style abwärts, um nicht über unsere eigenen Füße zu stolpern – langsam natürlich und ohne Musik im Ohr. Hier oben verliert jedes Geräusch seine Intensität, alles scheint ungemein stiller als unten im Tal. Dann bewahrheitet sich meine Befürchtung: Die Schuhspikes werden abgeschnallt und eine riesige Windel umgeschnallt. Mindestens tausend Meter geht es von nun an auf dem Allerwertesten hinunter, so zumindest der Plan. Hintereinander sollen wir ein gutes Stück rutschen, es ist steil, verdammt steil. Knie anwinkeln, die Spitzhacke seitlich am Körper als Bremse, aufrecht sitzen. Ich bin die letzte, nur unser Bergsteiger kommt dann noch nach mir den Berg hinunter gerast. Durchatmen, locker lassen, hinsetzen. Kaum sitze ich, rutsche ich auch schon hinunter, die ersten ein, zwei Sekunden läuft alles glatt, doch unerwartet verliere ich die Kontrolle, wirbele umher, sehe nur noch weiß, der Adrenalinspiegel schlägt mir an die Schädeldecke mit der voran ich hinab brettere. Verzweifelt versuche ich den Pickel ins Eis zu schlagen, nach unzähligen Versuchen und zahlreichen Metern als Supermann getarnt hänge ich am Pickel, die Sonnenbrille sitzt schief, der Helm erst Recht, in jeder Ritze leuchtet Schnee hervor, mein Herz rast. Beim Aufstehen zittern meine Knie, ein Schlotterzwerg. Die zweite Tour rodele ich in Begleitung, auch die dritte. Beruhigt wage ich das letzte Stück alleine und bin froh endlich an der unteren Schneegrenze anzukommen und im lockeren Vulkangestein zu versinken.
Der Bus fährt uns zurück nach Villarrica, es ist Nachmittag, Philipp sitzt am Fenster, ich am Gang. Mir fallen die Augen zu und ich kippe leise in den Gang. Gerade vor dem unschönen Aufprall, bemerke ich mein Fallen und fange mich ab. Die Menschen um mich herum schauen mich überrascht an, ich breche in Gelächter über mich und meine körperliche Müdigkeit aus. Zurück in der Wohnung legen wir uns fürs erste schlafen.

Farbengewalt und Tiefenentspannung

Ausgiebig ausgeschlafen machen wir uns auf den Weg zu den Thermalquellen bei Coñaripe, nach den gestrigen Strapazen wollen wir mehr als nur tiefen Schlaf in weichen Daunen: warme Quellen mitten in dschungelartiger Umgebung. Doch ohne eigenes Auto ist es fast unmöglich dorthin zu gelangen. Wir finden einen Franzosen, der uns eine halbe Stunde über Feldstraßen jagt, oder besser sein Auto. Auf dem Weg dorthin sehen wir vom Pudel über die im Weg stehenden Ziegen und Kühe so gut wie alle Tiere, die man auf dem Land so erwarten würde. Die Sonne strahlt, die teuren Termas geométricas liegen in einer hohen Felsspalte versteckt, rote Holzbrücken führen immer tiefer hinein in die Schlucht, an deren Ende ein Wasserfall plätschert. Es riecht leicht schwefelig, die kleinen Becken sind gefüllt mit kuschlig warmem Thermalwasser, um uns herum Pflanzen, die einem Jumanji-Film entsprungen sein müssen. Hier lassen wir den Kurzurlaub ausklingen. Und dann ist auch schon fast Abflug für Philipp angesagt, für mich universitärer Alltag.