Dienstag, 29. Dezember 2009

¡Feliz Navidad! Una Navidad bastante diferente...

Frohe Weihnachten, mal ganz anders.



Nach dem Dschungelabenteuer muss man sich also wieder in den Alltag einfinden. In den Großstadt-Alltag. Plötzlich sieht man den dann doch wieder ganz anders. Irgendwie fehlt das ganze Grün. Und die Straßen sind wieder überfüllt mit Autos, Autos und noch mehr Autos… Dafür blinkt und glitzert es umso mehr. Weihnachten steht vor der Tür.
Die muss nur noch aufgemacht werden.
Eine Woche lang also die Wohnung genießen, nen Pizza-Abend mit den Amazonas-Mädels, Pläne schmieden und wieder verwerfen, Deutsche Welle schauen und sich die Kältewelle, die über Europa gerollt ist, hierher wünschen, sich fragen und wundern, wo und wie Weihnachten zu verbringen. Sich von Freunden verabschieden, die man sobald nicht wieder sehen wird, da ihre Zeit hier in Kolumbien vorbei ist. Ein bisschen traurig sein, ein wenig einsam, aber sich auch glücklich schätzen diese Erfahrungen hier sammeln zu dürfen. Und sich um ein neues Visum kümmern. Denn ich werde noch ein halbes Semester hier studieren, ja, ein wenig seltsam vielleicht, aber ich mag die Stadt, auch mit ihren ganzen Abgasen, ihren enormen Staus und ihren Blinklichtern überall.
22. Dezember – der Wecker klingelt morgens um sechs. Und ich hab Ferien. Warum? Ich muss zum Ministerio de Relaciones Exteriores, um mein neues Visum zu beantragen. Vorher musste ich noch Dokumente von der Uni abholen. Und dann warten, warten und warten. Insgesamt fünf Stunden in einem überfüllten Raum mit vielen wartenden Menschen allerlei Nationalitäten. Aber diesmal bin ich vorbereitet: Buch, Musik, Skizzenblock, alles dabei, und doch fünf Stunden können ziemlich lang sein. Am nächsten Morgen, also ein Tag vor Heilig Abend, das gleiche Spiel, denn das Visum an sich reicht nicht aus. Ich muss zum D.A.S. und eine neue cédula beantragen. Aber entgegen aller Erwartungen ist es gar nicht wirklich voll und die Beamten sind nett und freundlich – einfach unglaublich, ein wenig Weihnachten liegt halt doch in der Luft. Und es sind nur zwei Stunden, die ich neben einem weiteren der vielen Plastik-Weihnachtsbäume sitzend verbringen muss. Einmal unterschreiben, Fingerabdrücke und in drei Tagen ist meine neue cédula angeblich in meinem Briefkasten. Vamos a ver;)
Und dann ist er da, der Heilig Abend. Der Wecker klingelt um sechs. Ja, es sind Ferien. Dusche, Frühstück und dann mit meiner Familie telefonieren. Irgendwie ist es ein wenig traurig, ich würd mich gerne in den Flieger setzen, um diesen besonderen Tag in meiner gewohnten Umgebung zu verbringen. Aber so ist es nun mal. Dafür sitze ich nirgendwo fest – weder auf irgendeinem Flughafen, noch in einem Tunnel oder af irgendeinem Bahnhof. Die Sonne scheint, es ist warm, ich hole mir einen Sonnenbrand – bei der Gartenarbeit. Hier wird nämlich ganz normal gearbeitet und ich hab versprochen einem guten Freund bei der Generalüberholung des Hauses zu helfen. Endlich etwas zu tun, und Erinnerungen an Semesterferien, in denen ich in einer Gärtnerei gearbeitet habe, werden wach. So verbringe ich den Vormittag also weit im Süden der Stadt, arbeitend…
Dann werde ich zum Mittagessen eingeladen, wir kochen zusammen, räumen Sachen hin und her, um zumindest ein bisschen Platz zu schaffen und die Zeit rast nur so. Plötzlich ist es fünf, ich bin schon viel zu spät dran, ziehe mich schnell um, und mein Weihnachtsgeschenk, das ich mir selbst gekauft hab, schon aus dem Schuhkarton ausgepackt, ein Paar wunderschöne braune Leder-Pumps, alles handgefertigt, einfach himmlisch. Dann ab zum Transmilenio und von weit im Süden, in den Norden der Stadt.

Es warten schon viele, Die Wohnung ist voll, fröhliche Musik läuft, Umarmungen, Begrüßungen, ich werde den Familienmitgliedern vorgestellt, die ich noch nicht kenne…
Es kommen immer wieder Menschen vorbei, trinken ein wenig, erzählen, verabschieden sich wieder um weitere Familien zu besuchen. Es ist ein reges Kommen und Gehen, ganz anders als das besinnliche Weihnachten in Deutschland. Und dann werden Möbel gerückt, um die Tanzfläche zu vergrößern.
Salsa, Merengue, und niemand bleibt verschont, es wird getanzt und getanzt und gelacht und gestaunt und getrunken – vor allem Cuba Libre mit gutem Rum

(auch wenn der aus Venezuela kommt, aber es ist ja schließlich Weihnachten, das Fest der Liebe, da ist kein Platz für Rivalitäten). Weihnachten ist hier einfach ein riesiges Fest, Weihnachtslieder hören sich für meine Ohren kaum nach solchen an, nichts mit „Alle Jahre wieder…“ oder „Stille Nacht, heilige Nacht…“, sondern eben viel fröhliche Salsa-Musik. Und das Tanzbein wird geschwungen, immer wieder, ob alt, ob jung…
Später dann gibt es reich zu essen. Natilla (eine Art Pudding aus Maismehl, in Variation mit arequipe oder Kokosnuss) und buñuelos (frittiertes Gebäck aus Yuca-Mehl und Käse)

– typisch für Weihnachten hier in Kolumbien. Danach Schwein und Pute, dazu Kartoffelsalat und Kokosnuss-Reis (für mich gibt es Fischfilet). Danach Obstsalat mit Sahne und dazu viel Rum… Und der Nachtisch darf natürlich nicht fehlen – leche asada (gebackene Milch).
Die Minuten vergehen plötzlich ganz langsam, die ersten werden müde, aber wir müssen bis Mitternacht durchhalten. Dann nämlich ist Bescherung angesagt.

Jeder bekommt ein Geschenk und jeder umarmt den Beschenkten, unter Rufen wird das jeweilige Geschenk ausgepackt, es wird applaudiert und auch für mich liegt ein Geschenk unterm Baum.
Ein wunderschöner Ledergürtel… Und guter kubanischer Rum.

Die Nacht bricht an und es wird weiter gefeiert. Selbst um zwei klingelt es noch an der Tür und weitere Verwandte tauchen auf, wünschen uns allen Frohe Weihnachten und machen sich nach dem ein oder anderen Gläschen irgendwann wieder auf den Heimweg. Dieses Jahr endet Weihnachten nachts um drei.
Den nächsten Tag verbringe ich fast nur schlafend… Abends gehe ich mit einem guten Freund italienisch Essen und dann ist Weihnachten hier auch schon wieder vorbei, denn hier gibt es nur einen Feiertag und das ist der 25.Dezember, aber ein großer Unterschied ist nicht zu spüren, nur dass die meisten Restaurants geschlossen haben und es nicht viel Stau gibt. Ansonsten: Geschäfte sind geöffnet, Menschenströme auf den Straßen und viel Sonne.
Weihnachten also mal ganz anders.
Schön war’s.
Aber das nächste Mal wieder im kalten Deutschland bei meiner Familie.

Mittwoch, 16. Dezember 2009

Micos, guacamayos, jaguares – una semana en la selva





Ich mach mir meine eigene Dschungelshow

Während es in Deutschland immer kälter wird und Weihnachten naht, endet hier die Klausurenphase und das Reisen kann endlich beginnen…
Eine Woche Dschungel also. Am Montag packen, nicht wissen was, wieder auspacken und wieder einpacken. Überlegen, umpacken und letztendlich hoffen, dass es einigermaßen angemessene Kleidung für die Südhalbkugel ist. So nah am Äquator, mitten im Grünen, das bin ich überhaupt nicht gewohnt bei so viel Großstadtleben. Das Reiseziel: Leticia – eine kleine überschaubare Stadt mit etwa 40.000 Einwohnern ganz im Süden Kolumbiens, im Drei-Länder-Eck Kolumbien-Brasilien-Peru, Durchschnittstemperatur 28°C und die Luftfeuchtigkeit, man könnte sagen ziemlich hoch, der Regenwald hat seinen Namen nicht irgendwo her, das haben wir mehr als einmal zu spüren bekommen. Wir, das sind vier Frauen, drei Deutsche und eine Australierin;
Prisca, Franziska, Steph und ich.
Der Flug mit Aires war typisch kolumbianisch, einmal am Flughafen angekommen, wird man erstmal gefragt, ob man sein Gepäck in Zellophan-Folie verpackt haben möchte, um eventuellen Drogenschmuggel zu vermeiden. Wir entscheiden uns dagegen, wenn schon Abenteuer, dann richtig. Gepäckaufgabe, dann ein Ort zum Frühstücken suchen und wen oder was finden wir? Mitstudenten, zwei gute Freunde, die auf dem Weg nach Cali sind, ein Franzose und ein Italiener – Damien und Gabriele. Gemeinsames Frühstück und dann steigt die Spannung, fliegen ist halt immer noch was Besonderes. Die Sicherheitskontrollen sind hier eher lasch, lieblos werden wir abgefertigt. Und dann heißt es wieder warten. Durchsage, Terminalwechsel (was hier nicht allzu schwierig ist, denn der Flughafen ist nicht sonderlich riesig), warten, Durchsage, Verspätung, warten, sich die Leute genauer ansehen, die auch nach Leticia fliegen (es sind in etwa 120), sich über die ein oder andere alternde operierte Schönheit lustig machen, und dann Schlange stehen (das erste Mal, dass man hier wirklich als Schlangestehen bezeichnen kann), Durchsage, erstmal dürfen nur die hinteren Sitzreihen belegt werden, sich wieder hinsetzen, warten und dann plötzlich geht alles ratzfatz. Wir sitzen übers Flugzeug verteilt, ich am Fenster. Wunderbar. Dann geht das Warten weiter, Familienzusammenführung; anscheinend sitzt ein Junge ziemlich weit hinten, vom Rest seiner Familie getrennt und das für knapp zwei Stunden Flug, die Stewardessen sind schon leicht gereizt und als ich sehe um wen es sich handelt, kann ich das auch verstehen – ein etwa siebzehnjähriger Junge, kein Kleinkind, sondern fast Erwachsen. Wir heben mit einer Verspätung von etwa einer Dreiviertelstunde ab. Bogotá wird immer kleiner und kleiner und die Wolkenberge wachsen empor, das intensive Blau des Himmels, die Anden unter uns.
Aires ist zwar eine „Billigfluglinie“, aber Getränke bekommt man auch auf Kurzstreckenflügen kostenlos gereicht, da könnten sich RyanAir &Co. mal ne Scheibe abschneiden. Nach ein paar Wolkenbergen tut sich plötzlich der Regenwald unter uns auf, irgendwie habe ich das Bild eines riesigen vor sich herdümpelnden Brokkoli vor mir (und ich mag Brokkoli ziemlich gerne). Kleinere und größere Flüsse schlängeln sich durch die Brokkoli-Röschen, alles ist grün, so grün. Der Landeanflug ist seltsam, denn man sieht nichts außer Grün, weder die Landebahn, noch die Stadt, fühlt sich seltsam an, fast mitten im Nirgendwo zu landen. Jetzt sieht man auch, dass der Brokkoli löchrig ist, Brandrodung, die nicht zu übersehen ist, sich aber doch noch im Rahmen hält. Trotz wiederholter Durchsagen, lösen sich überall im mich herum die Sicherheitsgurte und die Menschen können es kaum abwarten aus dem Flugzeug zu kommen.
Die Tür geht auf, die Rampe ins Grün, die warmfeuchte Luft erschlägt mich ein wenig. Aber ich kann wieder tief einatmen und es ist wunderbar seine Lungen mit so einer anderen, irgendwie reineren Luft füllen zu können. Der Höhenunterschied ist eben doch nicht zu verachten. In dem winzigen Flughafen mit einem einzigen Gepäcklaufband werden wir nach Einheimischen und Touristen sortiert. Als Tourist bekommt man erstmal einen frischen Saft lokaler Früchte, sehr guten Rum und Häppchen serviert bevor man die Touristengebühr von 16.500 Pesos zahlen muss. Die Polizei hält einen dazu an mit niemandem zu reden und gibt uns Handzettel mit den wichtigsten Telefonnummern, nur für den Fall der Fälle. Also Gepäck geschnappt und raus um ein Taxi zu finden. Die sehen hier ein wenig anders aus, so, als ob sie jeden Moment auseinander fallen würden. Wir finden eines, doch der Taxifahrer weiß nicht so recht, wo unser Hostel ist (obwohl wir ihm die Adresse nennen), nach ein wenig hin und her kommen wir an. Und wem laufen wir über den Weg? Einem deutschen Mitstudenten – war ja klar, die sind einfach überall. Da fliegt man mitten ins Nirgendwo und doch laufen einem bekannte Gesichter über den Weg. Unser Zimmer ist klein, aber es gibt einen Ventilator, der auch bitter nötig ist. Wir schwitzen und schwitzen, fast so, wie in der Sauna. Dusche und Klo sind draußen. Nach einer kurzen Rast machen wir uns auf den Weg, ein wenig durch Leticia, die Häuser sind hier alle sehr niedrig, bunt, manche etwas verkommen, andere gerade neu errichtet, es hat schon seinen ganz eigenen Charme, nicht schön, aber auch nicht hässlich.



Das Straßenbild wird hier von Schlaglöchern und Pfützen dominiert, und vor allem von Motorrädern und Rollern. Bis zu fünf Personen finden auf diesen Transportmitteln Platz, Kinder werden in einem Arm gehalten, Frauen sitzen wie in einem Damensattel in High-Heels hintendrauf, Helme sind anscheinend nicht wirklich von Bedeutung und das Mindestalter für einen Führerschein ist auch nicht zu identifizieren. Seltener sind Autos, Piaggios dienen als Taxis oder eben Moto-Taxis (Motorräder als Taxi, immer mal was Neues), Golfmobile und auch ausgeschlachtete VW-Käfer, die zum Cabrio umgebaut wurden kann man ebenfalls entdecken. Wir entscheiden uns für eines der kleinen italienischen Dreiräder und heizen Chris auf seinem ausgeliehenen Motorrad hinterher (und er hat keinen Motorradführerschein), auf nach Brasilien. Ein Nachmittag, drei Länder, so einfach ist das hier. Die Grenze entdeckt man nur bei genauem Hinsehen und man merkt es daran, dass das Spanisch seltsame Formen annimmt, da wird uns Feliz Natal anstatt Feliz Navidad gewünscht. Denn Weihnachten macht auch vor den Dschungelstädtchen nicht halt. Weihnachts- und Schneemänner überall, rosafarbene Delfine in Rot und Weiß, mit Rauschbart,



Blinklichter überall, abends werden die Straßen beleuchtet, aber wenigstens gibt es hier kaum Plastik-Weihnachtsbäume, sondern es werden einfach Palmen und andere natürliche Bäume geschmückt.



Wir sind also in Tabatinga, Brasilien. Am Hafen suchen wir uns eine Lancha, die uns innerhalb einer Viertel Stunde ans andere Amazonas-Ufer bringt. Dieser Fluss ist einfach unglaublich riesig, und überall rings herum grün, Bäume, die hoch in den Himmel ragen, das Wasser ist eher bräunlich, aber bei dem vielen Regen ist das auch kein Wunder, die Strömung des Flusses ist allerdings gar nicht so stark wie erwartet.


Bootshäuser und Geschäfte auf dem Wasser, Menschen, die ihre Wäsche, sowie sich selbst in dem Flusswasser waschen. Und dann sind wir auch schon in Peru, auf der Isla Santa Rosa, ein Dörfchen mit 1.300 Einwohnern, Strom gibt’s fast keinen, wenn die Dunkelheit um sechs Uhr abends hereinbricht liegt auch die Insel völlig im Dunkeln.



Peru also. Die Menschen scheinen nicht viel zu tun zu haben. Anders kann man sich die Heerscharen von Kindern nicht erklären. Und was dem Menschen Spaß macht, gilt wohl auch für die Tiere. Küken, Katzen- und Hundebabys. Sport scheint auch eine willkommene Beschäftigung zu sein, Fußball, Beach-Volleyball auf Rasen und es wird auch durchaus mal ein Netz quer über den einzigen betonierten Weg gespannt. Wir lernen den jefe de la justicia kennen, der in einem zusammengebastelten Rollstuhl sitzt (Untergestell mit Plastikstuhl) und uns ein wenig über das Leben auf der Insel erzählt. Die brasilianischen Soldaten kommen anscheinend gerne rüber auf die Insel um zu feiern und zu streiten…

Ein neues Krankenhaus wird gebaut und auch sonst wird viel Neues errichtet. Es gibt einen deutschen Architekten, der hier viel in die Hand nimmt – Horst.
Wir suchen uns ein Restaurant (Brisas del Amazonas) mit Blick auf den Fluss und die Kellnerin kommt widerwillig angeschlurft, reicht uns die Karte und wartet mit aufgestützten Händen auf unsere Bestellung. Dreimal Hünchen und einmal Fisch für mich. Es dauert und dauert, mein Fisch schmeckt gut, ist sogar gedünstet und nicht frittiert, wie sonst alles; das Hünchen sieht jedoch sehr seltsam aus, irgendwie überfahren. So ein wenig Witwe-Bolte-Hünchen-mäßig, nur platter. Dazu Wasser, nur ich bekomme aus undefinierbaren Gründen eine Inka-Kola, die so gar nichts mit Cola zu tun hat. Neongelb mit ein wenig Kohlensäure und Geschmack nach Kaugummi. Egal, Hauptsache Flüssigkeit.



Als die Dämmerung hereinbricht, werden wir aufgefordert zu zahlen. Kolumbianische Pesos werden auch angenommen. Und dann zurück nach Brasilien, mit der Lancha. Die Motoren sehen aus wie Angelstöcke mit nem Fisch am Ende, der fleißig paddeln muss, um ans andere Ufer zu kommen. In Tabatinga nehmen wir dann jeder ein Mototaxi, es gibt sogar Helme für uns, nur Spanisch sprechen die wenigsten, mit dem bisschen Portugiesisch, das ich beherrsche, kriegen wir sie dazu uns nach Leticia zu bringen. Alles läuft wunderbar bis wir irgendwann Prisca an einer der wenigen Ampeln hinter uns lassen. Wir kommen am Hostel an, nur Prisca eben nicht. Wir warten und warten, versuchen sie telefonisch zu erreichen, was schwierig, aber nicht unmöglich ist. Ihr Fahrer versteht kein einziges Wort Spanisch und Prisca wiederum nichts von dem, was der Taxifahrer in seinen portugiesischen Bart brummelt. Irgendwann wechselt sie dann das Moto-Taxi, der Kolumbianer findet das gewünschte Ziel ohne Probleme.

Nach diesem ersten Abenteuer schlafen wir recht gut. Der Morgen beginnt spät, sehr spät, die Hitze und die Feuchtigkeit machen uns zu schaffen. Nach einer ersehnten kalten Dusche fängt es dann so sehr an zu regnen, dass wir lieber keinen Fuß vor die Tür setzen, sondern uns unters Welldach setzen und dem Trommeln des Regens zuhören.


Die Geräuschkulisse ist hier so oder so eine ganz andere. Während des Tages typische Urwaldgeräusche, das Zirpen und Summen der Insekten, gegen Abend kommen dann die ganzen Vögel, tausende unterschiedliche Vogelstimmen, die die Däämerung erfüllen und auch die Nacht ist begleitet von Geräuschen. Aber es hat etwas Beruhigendes. Als der Regen dann aufhört, suchen wir uns ein Restaurant, um zu Mittag zu essen. Fisch, viel Fisch und dazu Säfte aus Sternfrucht, Maracuya und Copoazú. Der Tag geht vorbei ohne, dass wir großartig etwas machen. Außer unseren Dschungel-Trip zu planen. Gustavo, der Inhaber des Hostels erzählt uns viel von der Energie und den Eigenheiten des Dschungels und wir entscheiden uns dazu drei Tage im Urwald zu verbringen.


Morgens um sieben geht es mit wenig Wäsche, Gummistiefeln und Taschenlampen bewaffnet los. Die Lancha Dario I bringt uns nach einer einstündigen Fahrt nach Peru, zur Reserva Natural Marasha,
wo auch schon unser Mann auf uns wartet – Mario, er wird uns die nächsten drei Tage begleiten. Seine geografischen Kenntnisse sind ein wenig fraglich, seiner Meinung nach liegt Australien nah an Österreich (spanisch Austria), aber nun gut, er muss sich ja nur hier am Amazonas auskennen.

Nachdem wir uns nochmals mit Anti-Mücken-Spray versehen haben, geht es los. Ein Fußmarsch von etwa zwei Stunden durch den Dschungel.
Bäume und ihre Eigenheiten werden uns erklärt, so ist es zum Beispiel kein Vergnügen die Rinde des Cartago-Baumes auf der Haut zu spüren, sie brennt und wenn man davon etwas in die Augen bekommt, ist man sofort blind. Wir sind froh über unsere Gummistiefel und auch die langärmligen Oberteile sind von Vorteil. Vier Mädels, die ganz gerne quatschen, sind auf einmal verstummt. Man hört und sieht nur Urwald um sich herum. Das Quatschen der Stiefel, die Augen auf den Boden gerichtet, um zu sehen, wo man hintritt, fast hat es etwas Meditatives. Irgendwann kommen wir dann an. Ein Holzhotel an einem See. Einfach, aber schön. Ein verrückter Vogel, ein Tapir namens José
und ein kleines Wildschwein , das Kotzgeräusche von sich gibt, begrüßen uns. Nach einer kurzen Verschnaufpause und einer Dusche unter fast freiem Himmel, gibt es Mittagessen und dann auf ins Kanu. Am anderen Ufer erwarten uns viele kleine Herr Nielsons.
Gierig darauf mit Bananen gefüttert zu werden. Sie sind so leicht und flink, ihre winzigen Pfoten sehen aus wie Miniaturausgaben menschlicher Hände.

Dann geht es weiter, shansho (oder auch Hoatzin) sitzen überall in den Ästen, Vögel die keinen wirklichen Evolutionsprozess durchgemacht haben und noch immer sehr stark ihren Vorfahren aus der Steinzeit ähneln, tausende andere bunte Vögel, Frösche, die man quaken hört und die Victoria Regia
, die größte Seerose der Welt, deren Größe bis zu drei Metern im Durchmesser betragen kann. Und vor allem die Stille, der Frieden, die Luft. Es ist einfach unbeschreiblich schön, weit weg von den ganzen Abgasen und dem hektischen Alltag, mitten auf einem See im Grünen. Im See tümmeln sich die verschiedensten Fischarten, darunter auch Pirañas, und der Pirarucú, der größte Süßwasserfisch (er kann bis zu zweieinhalb Metern groß und zweihundert Kilo schwer werden), außerdem viele Kaimane in kleinerer Größenordnung. Und trotzdem wagen uns Steph und ich hinein, der See ist ziemlich warm und ab und an ist die Vorstellung mit den ganzen exotischen Tieren zu schwimmen seltsam… Und hineinkommen ist viel einfacher als wieder heraus. Wir dümpeln also vor uns hin auf der Suche nach einer geeigneten Ausstiegsstelle, nach einigen Fehlversuchen schaffen wir es dann doch. Gebissen haben sie uns nicht, die Pirañas, nur gestreift…

Noch einmal auf die Toilette, in der man durchaus kleine Frösche finden kann. Nach dem Abendessen geht es dann erneut auf in den Dschungel, mit Hängematten, Moskitonetzen und Taschenlampen bewaffnet, um eine Nacht dort zu verbringen. Die Geräusche sind andere als am Tage. Mitten im Urwald halten wir, machen unsere Lampen aus und es ist stockdunkel. Das Zirpen und Kreischen und Quaken schleicht sich in die Hörgänge, es ist überwältigend, man fühlt sich so winzig klein und unbedeutend. Glühwürmchen tauchen auf, verstreuen ihr spärliches Licht, langsam gewöhnen sich die Augen an die Dunkelheit, die Umrisse der Bäume lassen sich erkennen, aber nicht viel mehr. Dann schalten wir unsere Lichter wieder an und es geht weiter, tiefer hinein in den Dschungel. Bis wir zu einem riesigen Baum gelangen. Dort schlagen wir unser Lager auf, die Hängematten werden an Stämmen befestigt, Moskitonetze drüber (deren Löcher noch geflickt werden müssen) und dann ein kleines Feuer. Wir übernachten nicht ganz typisch wie Jäger, sondern bereiten Caipirinha zu, der Cachaça wird hier für wenig Geld in großen braunen Flaschen mit Kronkorken verkauft. Dazu gibt es Geschichten über den dueño de la selva – den Curupira – der einen nachts in Gestalt von Freunden versucht, in die Tiefen des Urwaldes zu locken. Man erkennt ihn nur daran, dass seine Füße umgedreht sind, Fersen vorne und Zehen hinten, so dass es aussieht als liefe er rückwärts. Um Mitternacht stoßen wir auf den Geburtstag von Mario an und verkriechen uns dann in unsere Hängematten. Die Stille, die keine wirkliche Stille ist, lässt einen klein werden, jedes Knacken schreckt einen auf, Schlangen, Jaguare, Kriechtiere oder doch der Curupira? Das Schnarchen von Steph hört sich an, als sei es ein wildes Tier auf der Suche nach Nahrung. (Sie gibt auch sonst viele natürliche Geräusche von sich, was oft zur Belustigung beiträgt.) Immer wieder hört man Schüsse, die keine Schüsse sind; der Pirarucú schlägt mit seiner gewaltigen Schwanzflosse auf das Wasser, um seine Beute anzulocken. Irgendwann schlafe ich ein, es ist ein seichter aber doch schöner Schlaf.


Morgens stehlen sich die ersten Sonnenstrahlen durch das Blätterdach, alles ist ruhig und feucht… Bis Mario beginnt uns zu wecken und unser Lager abzubauen. Der Weg zurück erscheint in ganz anderem Licht und auch kürzer als nachts. Eine ganz besondere Erfahrung, die mich mit viel Ruhe und Respekt zurücklässt und weiteren Andenken: Ich zähle mehr als hundert Mückenstiche an den unglaublichsten Körperstellen… Aber damit lässt sich leben. Die Dusche erfrischt (jedoch nur in der Zeit, in der man unter dem tröpfelnden Hahn steht, danach beginnt das Schwitzen wieder von vorn). Frühstück und dann ein entspannter Tag.

Hängematten am See, Regen, der hinabprasselt. Eigentlich wollten wir Pirañas fischen, aber wir haben eher ein paar kleine Fische gefüttert mit den halbherzigen Angelversuchen… Ein neues Tattoo habe ich auch, kein dauerhaftes, sondern mit pflanzlicher Farbe, die aus der genipa hergestellt wird. Fünfzehn Tage soll es halten, mal sehen, ein wenig verlaufen tut es schon, so wie Tusche, die mit zu viel Wasser angerührt wird. Kartenspielen und die Ruhe und Abgeschiedenheit genießen.

Die Nacht bricht herein und ein Sternenhimmel der Extraklasse tut sich auf. Noch nie habe ich so etwas Wunderschönes gesehen. Es scheinen viel mehr Sterne als Himmel zu sein. Der Mond ist kaum zu sehen, sodass der Sternenschein noch intensiver und wundervoller ist. Lichtjahre entfernt und doch so nah, zum Greifen nah. Ich könnte die ganze Zeit daliegen und mich verlieren. Doch Wolken ziehen auf und eine weitere Nachtexkursion steht an. Diesmal nicht hinein ins Dickicht, sondern hinaus auf den See. Nach Kaimanen Ausschau halten und sie vielleicht auch fangen. Ich sitze ganz am Ende und sehe nichts. Der See ist tiefschwarz, der Himmel zieht sich weiter zu, irgendwo in meiner Magengegend fühle ich ein Unwohlsein, vielleicht der Respekt vor der Gewalt der Natur. Immer wieder komme ich mir so winzig vor und doch bin ich dankbar für dieses Gefühl, es ordnet sich etwas neu im Kopf. Mario hat die einzige Taschenlampe, wir sitzen völlig lichtlos in dem kleinen Kanu. Meine Balance ist plötzlich nicht mehr die beste, habe Angst umzukippen und wünsche mir innerlich keinen Kaiman zu fangen. Zwei Versuche scheitern, aber die Kraft des Kaimans bringt das Boot zum Erschüttern. Man muss die Natur eben in Ruhe lassen. Und jeden in seinem eigenen Lebensraum lassen. Die Tiere, die ihre Laute von sich geben, machen das ganze irgendwie noch unheimlicher. Mario paddelt und paddelt vor sich her, immer weiter auf der Suche nach Kaimanen, wir sehen ein- zweimal die Augen, aber sie verstecken sich in der schützenden Dunkelheit. Es ist still, unsere Atmung flach und plötzlich schießt etwas aus dem Wasser, direkt auf meinen Hals zu, ich stoße einen unterdrückten Schrei aus, mein Herz explodiert fast und mein gesamter Körper zittert. Was auch immer es war, hart und schuppig, es landet wieder im Wasser. Ich will wieder an Land. Alleine sein, selbst bestimmen, wo es langgeht. Mit noch immer zitternden Beinen schwanke ich an Land und bin froh wieder festen Boden unter meinen Füßen zu spüren. Riesige Fledermäuse schießen übers Wasser, der Himmel ist wolkenverhangen und es beginnt zu schütten. In dieser Nacht sind wir die einzigen Menschenseelen hier draußen. Eine unruhige Nacht steht mit bevor. Schlafen kann man das nicht nennen. Das Bett ist hart, die Matratze kaum vorhanden, es ist stickig, die Mückenstiche jucken höllisch, mein Herz rast noch immer, die Papageien machen einen Höllenlärm und das Wildschweinchen rammt mit seiner gesamten Kraft gegen die Tür, Kotzgeräusche von sich gebend. In der Morgendämmerung finde ich Ruhe und schlafe ein bis wir morgens um acht zum Frühstück geweckt werden.

Danach eine zweistündige Wanderung durch den Dschungel, mein Autan neigt sich dem Ende zu, und eigentlich ist es auch egal bei den vielen Mückenstichen, die meinen Körper übersäen. Die Luft ist klar, der Schweiß rinnt einem ins Gesicht, eine Schlange schlängelt sich an uns vorbei, Kakao und andere Früchte wachsen. Mit der Machete machen wir uns den Weg frei, unglaublich große blaue Schmetterlinge flattern an uns vorbei, der mochilero gibt seinen einmaligen Ruf von sich (ein Vogel, der Nester baut, die einem Sack ähneln).
Dann noch eine kurze Pause im Hotel, ich hole ein wenig Schlaf nach. Mittagessen und dann unsere spärlichen Sachen packen. Ein weiterer Marsch durch den Dschungel, es hat recht viel geregnet in den letzten Stunden, dementsprechend quitscht und quatscht es auch. Mit der Lancha geht es zurück nach Tabatinga,
wo wir schon von Gustavo und einem Taxi erwartet werden. Eine Dusche und dann ins Bett. Wir haben in ein anderes Hostel gewechselt, ein wenig außerhalb von Leticia, mit einem großen See, in dem es Schildkröten und eine Boa gibt. Der Schlaf ist erholsam.

Der nächste Tag beginnt wiederum spät, wir tingeln ein wenig durch Leticia, sonntags haben hier die meisten Geschäfte geschlossen, wir lassen uns in einem kleinen Restaurant nieder, essen Fisch und trinken Saft der arazá, Geschmäcke, die sich mit nichts vergleichen lassen. Eigentlich wollen wir ins serpentario, einem „Schlangen-Zoo“, aber das macht schon um vier zu, also dümpeln wir noch ein wenig rum und genießen den Regen. Es beginnt zu schütten und wir stehen draußen lassen die Feuchtigkeit in jede Pore eindringen, atmen ein und spüren die Energie, die Kraft des Wassers.
Der Montagmorgen (man verliert das Zeitgefühl so ganz ohne Uhr, Handy und Internet, aber das ist doch auch das, was Urlaub bedeutet) beginnt recht früh. Ein Taxi steht bereit, um uns über eine der wenigen Straßen, die hinaus aus der Stadt führen, zu der Maloka von Gustavo zu bringen – ein indígena, der in einer kleinen Kommune im Dschungel wohnt.

Es geht über die betonierte Straße (es gibt sogar einen Fahrradweg) und dann biegen wir ab, ein Feldweg, vorbei an einzelnen Hütten, Felder, die noch rauchen, Kahlschlag, ein wenig trist. An einer Kreuzung werden wir abgeholt, zu Fuß geht es weiter, über Brücken aus Baumstämmen, Pfützen hin zur Maloka. Dort werden wir von Gustavo begrüßt. Er erklärt uns ein wenig seine Kultur, wir verstehen nur die Hälfte.
Dann Schnupfen wir Tabak und bekommen jede einen Löffel getrocknete und zerstoßene Koka-Blätter in den Mund.
Die Zunge wird seltsam taub und Gustavo erzählt fleißig weiter. Die Geister seiner Großeltern haben ihn vieles gelehrt, er weiß viel über die Natur, kann viele Geschichten erzählen, jedoch nur nachts, wenn die Türen der Maloka verschlossen werden, damit die bösen Geister draußen bleiben. Ein kleiner Pfad führt uns zu einem kleinen Fluss.

Mit einer Liane stürzen wir uns ins Wasser, es ist erfrischend und macht Spaß. Danach bekommen wir ein Mittagessen, es wird mit Händen gegessen, es ist lecker und mein Magen verträgt viel.
Später schlagen wir uns erneut durch den Urwald, diesmal nicht auf Pfaden, sondern durch Gehölz und Geäst. Gustavo lässt uns Milch von Bäumen probieren, die Magenprobleme verhindert; uns an Baumrinden lecken, die gegen Nierenschmerzen hilft und Flöten aus frischen Palmblättern bauen. Er zeigt uns wie die verschiedensten Pflanzen wachsen.
Wir schwitzen und schwitzen und irgendwann sind wir wieder an der Maloka, ohne ihn hätte ich schon längst die Orientierung verloren. Ein weiterer Fußmarsch führt uns zurück zur Kreuzung, unser Taxi erwartet uns und wir machen uns auf den Rückweg, die letzte Nacht in Leticia beginnt.

Eigentlich wollen wir und nur noch mal versichern, dass der Flug nicht verschoben wurde, dazu müssen wir ins kleinere Hostel, in dem es Internet gibt. Nach fünf Minuten Fußweg beginnt es zu schütten, wir suchen Unterschlupf und warten und warten bis es irgendwann weniger wird. In dem Hostel treffen wir auf einen Kolumbianer und seine italienische Freundin, die vom Schmuckherstellen lebt, durch sämtliche Kontinente reist. Es ist unglaublich. Und der Schmuck wirklich schön und einzigartig. Wir reden und reden während der Regen auf das Dach trommelt und trommelt.

Vier Frauen unter zwei Regenjacken machen sich dann auf in die regnerische Nacht auf Suche nach Nahrung. Denn gut gestärkt müssen wir sein, für den nächsten Morgen, der in aller Frühe beginnt. Denn eines fehlt uns noch: Delfine. Wir haben sie noch immer nicht gesehen. Morgens um fünf stehen wir auf, um halb sieben besteigen wir die Lancha Camilo I, den Amazonas hinab. Erst tut sich ganz lange nichts, doch dann, eine Schnauze eines rosafarbenen Delfins, der männliche Part, sie verstecken sich gerne und lassen sich nicht allzu oft sehen.

Unser Kapitän hat eine gewisse Aura um sich, er weiß, wie man sie anlockt und man sagt, dass Delfine von Frauen angezogen werden. Alldas und die Ruhe weit weg von der Stadt führt dazu, dass wir sie sehen.

Süßwasserdelfine, die in Pärchen aus dem Wasser springen, immer wieder, wir folgen ihnen, sehen ihnen bei ihren Spielereien zu. Es ist ein wunderschöner Anblick, ich bin glücklich und zufrieden. Ein, zwei Stunden schippern wir immer wieder begleitet von ein paar Delfinen auf dem Amazonas umher, der vielmehr einem See ähnelt, da man rings um einen herum nur Wassermassen und in der Ferne Urwald sieht. Dann geht es stromaufwärts, es beginnt zu regnen und wir sind froh, dass wir eine Plane über dem Kopf haben. Alles erscheint bräunlich-grau, der Blick nach hinten, seltsam, es sieht wie das Ende der Welt aus, das Oben ist nicht vom Unten zu unterscheiden, der Regen prasselt von allen Seiten, kein anderes Geräusch ist zu hören.
Wir legen kurz an, um noch einmal ein See voller Seerosen der größten Sorte zu sehen,
ein Äffchen und ein paar Papageien,

dann nähert sich unser Aufenthalt am Amazonas dem Ende. Es geht zurück, Sachen gepackt und auf zum Flughafen.
Dort herrscht das Chaos. Es ist unglaublich wie langsam es vorangeht, immer wieder drängeln sich Kolumbianer vor, die nur eine kleine Frage haben. Wir haben etwa zehn Menschen vor uns, warten aber mehr als eine halbe Stunde, um unser Gepäck aufgeben zu können. Steph hat vergessen ihr Schweizer Messer in ihr Gepäck zu tun, aber es kommt ohne Probleme durch die Kontrolle des Handgepäcks, da weiß man nicht, ob man sich freuen soll. Was wohl sonst noch alles durchkommt, will man lieber gar nicht wissen…
Der Flug hat Verspätung, wie auch sonst. Aber irgendwann sitzen wir drin im Flieger und es geht ab in Richtung zu Hause. Das Atmen fällt wieder schwerer, der Großstadtlärm ist wieder da und der Urlaub ist zu Ende.

Dienstag, 8. Dezember 2009

Todavía soñando?




Mach die Augen auf


So schön die Welt manchmal ist, so anstrengend kann sie ebenfalls sein…
Diese Woche war zwar eine entspannte und auch schöne Woche, aber meist bleiben einem ja eher die unschönen Momente im Kopf.

Es gibt Augenblicke, da zweifelt man auch an seinem gesunden Menschenverstand und noch vielmehr an der Bedeutung einer Freundschaft. Man verabredet sich zum gemeinsamen Kochen und wird dann einfach sitzen gelassen, erst wartet man noch, eine halbe Stunde, eine Stunde, dann greift man zum Telefonat, das nur endlose Klingeltöne aus dem Hörer ausspuckt, und sonst nichts, absolut nichts. Dann eben ein Abend alleine, auch gut, die Wohnung ganz für mich, da mein Mitbewohner seine Semesterferien bei seinen Eltern in Cali verbringt… Also Dinge tun, die man sonst nicht unbedingt tut – Musik bis zum Anschlag aufdrehen, durch die Wohnung tanzen, lautstark mitsingen, sich aufs Sofa schmeißen und das Weiß der Wände auf einen wirken lassen, die Größe, einfach mal ganz allein sein, irgendwann dann Dinge machen wie die Wohnungstür von innen abschließen, doch lieber alle Fenster zumachen, sein Zimmer zuschließen und sich in sein Bett verkriechen, um auf den nächsten Morgen zu warten. Frühstück, Sonne genießen, ein kleiner Spaziergang und der Ärger des vorigen Abends war verschwunden. Bis sich der nächste Abend anbahnte, nach einer Entschuldigung und einem leeren Versprechen wurde ich nämlich von derselben Person wieder versetzt. Und sollte später dann wieder mein Ohr hergeben. Nichts da. Ein Abend voller Wut im Bauch, der nur schlechte Träume brachte. Ach, Schuhe putzen, das hätte ich beinahe vergessen zu erwähnen, man kann es ja mal versuchen. Aber den Nikolaus kennt hier niemand, also war am nächsten Morgen auch nichts in meinen blinkenden und blitzenden Schuhen. Mist.

Dafür war der Sonntag schön, und die Woche davor auch. Nur ist das eben nicht immer ganz einfach. Man lässt sich oft viel zu schnell dazu verleiten, die Augen auf die schlechten Dinge zu richten.
Dabei gab es auch wunderschöne Augen-Blicke. Das Lachen in den Gesichtern der Menschen, die Sonne macht den Alltag doch gleich viel fröhlicher. Überall blitzt es, die Scheiben reflektieren die Sonnenstrahlen, die Schattenwürfe und –spiele sind faszinierend.
Und ein kleines Weihnachtsfest hatten wir auch schon, da viele der Austauschstudenten sich bereits auf den Weg gemacht haben – sei es um Weihnachten in der Heimat zu verbringen oder um zu reisen, beschlossen wir ein internationales Vorweihnachten zu organisieren. Internationale Leckereien (Tiramisú, Bouche de Noel, Dresdner Christstollen, Buñuelos, Natilla, Crêpes; reichhaltig und lecker), Geschenke – das Wichteln wurde umgewandelt in Blinde Kuh-Spielen

(Catalina musste auf dem Boden rumkriechen ohne den kleinen bunt beleuchteten Plastik-Weihnachtsbaum umzureißen, ein Geschenk auswählen und dann weitertasten nach einer Person, was durchaus zu einigen Lachern geführt hat, wenn man die Tasthöhe ihrer Hände beachtet). Manche haben sich mehr, manche weniger über ihre Geschenke gefreut, aber es geht ja auch hauptsächlich darum gemeinsam einen schönen Abend zu verbringen.

Das war dann auch erstmal genug Weihnachtsgefühl – morgen geht’s auf in den Dschungel. Mal sehen, ob und mit wie vielen Mückenstichen und seltsamen Krankheiten ich wieder zurückkomme…

Montag, 30. November 2009

Pequeñezas que te dejan pensar




Am Rande – zwischen (T)raum und Wirklichkeit

Immer wieder gibt es kleine kurze Augenblicke, die dem Alltag die Rahmen springen. Manchmal sind es nur ein paar Sekunden, ein Augenzwinkern, manchmal sind es Bemerkungen, die in Gesprächen fallen, manchmal sind es einzelne Wörter, die einem im Gedächtnis bleiben, manchmal sind es Blicke von Fremden, manchmal ist es eine zufällige Berührung und ganz selten ist es auch einfach nur ein Gefühl, das sich plötzlich in der Magengrube breit macht.



Da gehe ich zum Beispiel schnellen Schrittes – und ja die, die mich kennen, wissen, dass ich ziemlich flott unterwegs bin, erst recht für meine kurzen Beinchen – abends gegen neun Uhr das kurze Stück von der Haltestelle des Transmilenios zu meiner Wohnung nach Hause. Es ist dunkel, wenig Menschen sind unterwegs, der ein oder andere führt seinen Hund spazieren und auf der Mitte der Straße steht ein Obdachloser in Lumpen, man riecht ihn zehn Meilen gegen den Wind, er sieht jedoch harmlos aus. Auf dem Fußweg, eine ältere Dame, bestimmt an die achtzig, klein, faltig, sie sieht sehr verängstigt aus, irgendwie wirkt sie winzig, ihr Körper passt einfach nicht in diese Stadt, an diesen Ort, so einsam und allein. Sie fasst sich ein Herz und spricht mich an, ob ich nicht einfach neben ihr herlaufen könne, sie würde sich so unsicher fühlen und ganz in der Nähe wohnen. Das kurze Stück begleite ich sie gerne, nichts sagend, langsam durch die nächtlichen Straßen, nebeneinander her, ein leises „Danke“ und schon trennen uns unsere Wege wieder.

Ich sitze im Taxi, auf dem Weg zu einer Messe, überfliege einige Seiten eines Buches, das ich erst vor einigen Stunden erstanden habe, lese ein paar Sätze genauer, denke über das Gelesene nach, hebe meinen Kopf, schaue gedankenverloren aus dem Fenster und plötzlich kreuzt sich mein Blick mit dem einer Prostituierten, einer männlichen. Es ist ein stechender Blick, ein verurteilender Blick, so als hätte ich nicht das recht in diesem Moment, in dieser Straße, in diesem Taxi zu sitzen, geschweige denn, den Blick zu heben, um mich umzusehen. Und ehe ich mich versehe, starre ich erst recht die Straße entlang, entdecke rasierte Männerkörper in knappen Glitzer-Röckchen auf Highheels, auf denen ich niemals laufen könnte, eine Straßenecke weiter sitzt ein fleischgewordener Berg von Mensch auf einer Bank, vor einem Haus, die Lippen offensichtlich weit mit dem rosafarbenen Lippenstift verfehlt, Erinnerungen an einen traurigen Clown werden wach. Um die nächste Straßenecke gebogen und schon ist alles vorbei.



Eine Frage, die mich nach mehrmaligem Nachfragen so sehr in Lachen ausbrechen lässt. Im Spanischen gibt es kein sprachliches Adäquat für warm und heiß, es gibt hier einfach keinen Unterschied, alles ist caliente. Während eines Filmes drückt er plötzlich auf die Stopp-Taste und fragt mich, ob es warme Hosen in Deutschland wirklich gäbe. Warme Hosen? Schneehosen? Lange Unterhosen? Bis ich mir das Standbild genauer ansehe und mir bewusst wird, was er meint. Ich kann mich kaum halten vor Lachen. Hotpants. „Heiße Hosen“. Hier steht man eben nicht auf wirkliche Anglizismen, sondern übersetzt sie lieber.

Der Rückweg eines Abends, mit dem Transmilenio; es ist voll, die Menschen sind ungeduldig, unruhig, unfreundlich, drängeln sich in der traubestehenden Masse weiter nach vorne, lassen dann nach ewigem Warten weder ein- noch aussteigen und ignorieren die (halbwegs) freundlichen Aufforderungen („Disculpa“, „Perdon“) bis man sich mit dem Ellenbogen nach vorne arbeitet. Aus Dankbarkeit wird man dann fast verprügelt, die Hand zischt nur knapp an meinem Ohr vorbei. Einmal drin im Bus, zustimmendes Gemurmel, die Menschen sind auf meiner Seite, drücken ihre Zustimmung durch Nicken und Blicke aus. Ein leichtes Seufzen, ein Mundwinkel zieht sich nach oben, ein seichtes Schütteln mit dem Kopf.



Ein Traum, an den ich mich zumindest bruchstückhaft erinnere, was sehr selten ist, denn meine Träume und ich. Ich spreche hier nicht vom Kopfkino, von den Dingen, die ich vor meinem inneren Auge sehe, an diese Geschichten kann ich mich sehrwohl erinnern, an meine Träume jedoch nicht. Und wenn dies dann der Fall ist, geschieht etwas, kaum zu beschreiben. Mein Körper kann den Traum reproduzieren, er fühlt das Geträumte nochmals. Die Gefühle sind klar und deutlich, die Beteiligten nicht, alles andere ist schwammig, mehr als schwammig. Eine seltsame Erfahrung, wenn man im Traum erschossen wird.

Der plötzliche Schreck, wenn man das kalte Wasser der Dusche aufdreht, alles zieht sich zusammen, die Lungen arbeiten nicht, wie sie sollen, blitzschnell formt sich eine Gänsehaut am ganzen Körper. Dann der Weg zum Schwimmbecken, es zieht, der Badeanzug klebt eisig am zitternden Körper. Und dann der Sprung vom Startblock, die Fingerspitzen tauchen ein, der Kopf, der Körper, eine andere Welt tut sich auf. Es ist so still, so unglaublich still. Der Körper schwebt, schwebt in seinem Element und nichts, aber auch rein gar nichts kommt in meinem Kopf an, kein Denken, kein Fragen, keine Bilder, keine Geräusche. Nur Sein, bloßes Sein.

Das Bild eines Menschen, das plötzlich in einem auftaucht, ein Wort, das im Zustand der Ekstase gefallen ist, wie bewahrt man es auf. Es verbindet sich mit einem Gefühl, das in einer winzigen Ecke des Körpers entsteht.

Ein Lied, das ganz plötzlich genau das trifft, was man fühlt, aber nicht in Worte fassen kann.

Eine Berührung, die sich tausendmal wiederholen soll, es aber nie wieder tut, nie wieder auf genau diese eine Art und Weise.

Die Betonung eines Wortes, die die ganze Situation verändert.

Ein Augenzwinkern und die Illusion hat sich aufgelöst, die Seifenblase ist zerplatzt.

Und das Warten, das Suchen und Finden beginnt erneut.

Manchmal muss man die Augen schließen, um Dinge zu sehen, um sich bewusst zu werden, um die Welt um sich anders wahrnehmen zu können.

Schließ für einen Moment die Augen, stell dir deine Umgebung vor, öffne deine Augen wieder und beginne die Welt von Neuem zu entdecken.

Jeden einzelnen Tag. Atme ihn ein, sauge ihn auf.

Es gibt Schönes und weniger Schönes.

Montag, 23. November 2009

Último día de clase




Halbzeit

Das war es nun also, mein Semester in Kolumbien, ein Fingerschnipsen und schon sind sechzehn Wochen Vorlesungen um, gut, es fehlen noch die Abschlussklausuren, in meinem Fall bedeutet das das Schreiben einiger Hausarbeiten und das war’s dann auch schon. Ein wenig Arbeit steht somit noch an, aber dann. Dann muss ich erst einmal weitersehen…

Und doch war der letzte Tag ein wunderschöner Tag. Keine einzige Wolke am Himmel, die Sonne brennt erbarmungslos nieder. Ein beständiger seichter Wind fährt einem durch die Haare. Das Strahlen der Sonne lässt sich auch in den Gesichtern der Menschen wieder finden.
Ein letztes parcial, ein herzlicher Abschied von Sôniá, meiner Portugiesisch-Lehrerin, eine Einladung zum Kaffeetrinken bei einer anderen Dozentin und dann das lang ersehnte Schwimmbecken. Es ist doch noch was geworden, und das vor dem nächsten Semester. Unglaublich, aber wahr. Aber nicht genug der Unglaublichkeiten. Wie in jedem anderen Schwimmbad muss man auch hier eine Badekappe tragen, nur, dass man diese hier bei seinem ersten Besuch gratis bekommt. Und außer Badebekleidung muss man auch nichts mitbringen. Ein Handtuch bekommt man geliehen, die Seifenspender sind immer gut gefüllt. Da spürt man den Luxus. Außerdem ist es besser im Vornherein zu reservieren, denn es werden pro Bahn höchstens zwei Personen zugelassen. Eine Stunde schwimmen und man fühlt sich wie neugeboren. Und es hat schon was, sich dabei im fünften Stock eines größtenteils gläsernen Gebäudes zu befinden. Die freie Zeit, die ich jetzt habe, werde ich ausgiebig nutzen das etwas zu warme Wasser zu genießen.

Der Mittag oder besser die Mittagssonne lockt mich dann ins Grüne. Unsere Grünfläche, die man nicht überqueren und dennoch betreten darf. In der Nähe vom Bobo ein nettes Plätzchen gefunden, Schuhe aus, Socken aus, Hosenbeine hochgekrempelt, Sonnenbrille aufgesetzt und nen neuen Auster rausgekramt. Das leichte Kitzeln des Rasens, die brennende Hitze auf der Nasenspitze, das laue Lüftchen, das das Ohr streift. Und eine Ruhe, himmlisch. Da kann man fast einschlafen. Aber es gilt ein paar Verabredungen einzuhalten und ja, auch nach vier Monaten hier, bin ich noch immer pünktlich, die anderen allerdings meistens nicht. Also warte ich eine Weile, aber bei dem Wetter, da ist das nicht weiter schlimm… Ein leicht rötliches Ohr hingehalten, zugehört, beratschlagt, dann wieder ein wenig warten auf die nächste Verabredung. Reden, zuhören, sich dem Sonnenbrand auf dem Schienbein bewusst werden, in seiner vegetarischen fajita zwei Stück Fleisch finden und dann ist er auch schon vorbei, der manchmal so lang ersehnte letzte Vorlesungstag.

Und was nehme ich mit? Hhm, da fallen mir so einige Dinge ein. Zu Anfang war ich doch recht geplättet, von der Größe, von dem Angebot und auch von dem, was einem abverlangt wurde. Natürlich macht man sich zunächst zu viel Stress, man muss sich daran gewöhnen, dass alles eben nicht in seiner Muttersprache ist, man muss schnell herausfiltern können, was wichtig ist und was eher zweitrangig. Man muss sich daran gewöhnen seine Dozenten zu duzen oder eben auch „mi amor“ oder „bonita“ beim Kauf eines Kaffees auf dem Campus genannt zu werden (was immer noch besser ist als „reina“ ("Königin") in einem Piercingladen). Man gewöhnt sich an das politische Desinteresse der Studenten der teuersten Privatuni ganz Kolumbiens (während die Studenten der sehr guten Uni Nacional lautstark gegen die Privatisierung kämpfen). Man gewöhnt sich auch schnell an den Luxus, der einem hier geboten wird. Sei es eben der Campus an sich, das neue Sportzentrum, die Betreuung durch die Dozenten auch außerhalb ihrer Sprechzeiten, die Bürokratie, die kein Stück besser ist als die deutsche. Man gewöhnt sich an das außergewöhnliche Wetter, an die morgendlichen Busfahrten (und selbst an den rasanten und auch recht fragwürdigen Fahrstil der Busfahrer, sowie an die winzigen Drehkreuze, durch die man sich durchzwängen muss und an die Klingel zum Anhalten des Busses, die auch gerne mal überhört wird). Man gewöhnt sich selbst an die ganzen Markenklamotten, iPhones, Laptops, Sicherheitskräfte, Polizeipatrouillen, studentische Arbeitskräfte in leuchtend gelben Uniformen, aber man findet auch seine Leute mit denen man über viele Dinge diskutieren kann, viele gute Professoren, die ihre Sache verstehen, viele kritische Geister, Unterstützung und Hilfe.

Und ja, ich muss es alles gar nicht missen, denn jetzt ist es offiziell, ich kann noch ein weiteres Semester dranhängen. Wenn ich also kein Praktikum finde, werde ich ein paar Kurse besuchen bevor ich mich wieder auf den Rückweg mache. Nach Deutschland. Um dann wieder herzukommen. Es ist zwar momentan noch alles sehr vage, aber das wird schon. Ein wenig von der kolumbianischen Mentalität ist doch schon auf mich übergegangen… Reisepläne stehen auch noch nicht fest, nur eine Woche ist bis jetzt verplant. Mitte Dezember geht’s an den Amazonas, mit rosa Delfinen und Piranhas tauchen, sich mit Macheten durch den Urwald schlagen und hoffentlich wieder zurückfinden. Weiße Weihnachten werde ich hoffentlich auch erleben, allerdings weiße heiße Weihnachten. Am Strand, unter Palmen. Und ins neue Jahr rutschen, das weiß ich noch nicht, wo genau. Aber da hier Feuerwerk verboten ist, wird es so oder so ein ziemlich anderer Jahresabschluss werden.

Diese Zeit hier, der Advent, den man hier nicht kennt, ist auch recht anders. Während in Deutschland die ersten Weihnachtsmärkte öffnen, klettern hier Lichter in Form von Eichhörnchen an Palmen empor oder riesige Albino-Stofftier-Mammuts stehen in riesigen Haufen von Styroporkügelchen in Einkaufszentren. So wird die Weihnachtszeit hier eingeläutet. In einer Woche ist dann auch schon der erste Advent, mal sehen, ob ich eine Kerze anzünde…

Sonntag, 15. November 2009

No dejé eSKAParme esta oportunidad

Eine spektakuläre Woche und schon wieder ein Feiertag in Aussicht



20 Jahre Mauerfall – Ich war noch recht klein als die ersten die Mauer durchbrachen, mit meinen anderthalb Jahren konnte ich da noch nicht an einem solchen Spektakel teilnehmen… Aber 20 Jahre später durfte ich mit Hammer und Meißel bewaffnet die Mauer einreißen. Ja, ich war dabei, beim Fall der Mauer. Und ich bin nun auch im Besitz eines Stücks der Mauer. Und das obwohl ich mich in Kolumbien befinde. Auch hier wurde die Wiedervereinigung gefeiert.

Seit Semesterbeginn gab es auf dem Campus eine Mauer, aus Beton, als Erinnerung an die in Berlin, an der man seine Meinung kundtun konnte, egal ob politisch oder eben nur blöde Sprüche… Und am Montag wurde sie dann eingerissen, vorher gab es eine kurze Rede vom schon uralten Dirktor der Uni, dann eine ewiglange Rede des deutschen Botschafters (in einem sehr deutschen Spanisch, soll heißen, lange verschachtelte Sätze, schreckliche Betonung und mit der Betonung auf Frau Doktor Angelika Merkel) und ein paar interessanten DDR-Kindheits- und Jugenderinnerungen eines jetzigen Politik-Dozenten der Los Andes, danach noch ein paar kurze Worte der Initiatorin und dann wurden fleißig Schutzbrillen und –helme verteilt, bevor es mit großen sowie kleinen Hämmern ans Werk ging. Die ersten Versuche scheiterten, aber dann begann sie zu bröckeln. Viele waren dafür, sie stehen zu lassen, die Mauer, der einzige Ort der freien Meinungsäußerung und künstlerischen Betätigung aller Studenten. Aber wie schon ein Artikel in der El Tiempo schrieb: „Die Mauer muss weck!“ Es dauerte seine Zeit, aber schlussendlich blieben nur Schutt und Staub übrig. Und ein strahlender Nachmittag.



Denn ja, es scheint nun endlich so weit zu sein. Die Sonne kehrt zurück und das nicht nur für ein paar kurze Stündchen, sondern fast den ganzen Tag über. Sonnenbrand gibt’s also wieder im Angebot. Der Regenausverkauf ist vorbei.

Der andere Höhepunkt dieser Woche waren nicht die restlichen Aufsätze, die darauf warten geschrieben zu werden, sondern mein erstes großes Konzert in Kolumbien. Eine Premiere und das nicht nur für mich. Denn sowohl für Toten Hosen, als auch für Ska-P war es das allererste Konzert in Kolumbien. Da mich niemand begleiten wollte, es sei denn ich hätte für die Eintrittskarte bezahlt, hab ich mich allein auf den Weg gemacht. Ein Freitagnachmittag, strahlender Sonnenschein und das erste Mal, dass ich hier Menschen gesehen habe, die wirklich Schlange stehen und was für eine Länge. Da ich mittlerweile schon ein wenig „kolumbianisiert“ bin, habe ich mich einfach mal nicht am hinteren Ende, sondern eben am vorderen eingereiht. Und Ausschau gehalten nach Deutschen. Aber niemand zu sehen, der auch nur ansatzweise deutsch sein könnte. Und das, obwohl die Hosen auf dem Programm standen. Dafür umso mehr kolumbianische Punks (von denen man nur allzu wenige an der Los Andes sieht) und alternativ gekleidete junge Leute. Und dazwischen viele unterschiedliche Menschen; von umherspringenden Kindern über lautstarke Jugendliche bis hin zu alten klapprigen Gestalten, die alle versuchen ihre Waren an die wartende Meute zu verkaufen: Zigaretten, Bonbons, Bier, aguardiente, Telefonate, Hotdogs (die hier perro caliente heißen, also heißer Hund, nur bei uns in Deutschland sind die Anglizismen so stark verbreitet) und vieles mehr. Die Schlange wird nicht kürzer, die Zeit vertreib ich mir indem ich mich musikalisch einstimme und die Leute um mich herum beobachte. Drei Uhr. Halb vier. Die Sonne strahlt und taucht alles in ein unglaublich schönes Licht. Vier. Viertel nach vier. Halb fünf. Erste Unruhen. Viertel vor fünf. Die Sonne steht jetzt so tief, dass man kaum etwas erkennen kann, da alles im Gegenlicht steht. Zehn vor fünf. Fünf. Und nichts. Dabei sollte um fünf Einlass sein. Zehn nach fünf. Die ersten Buh-Rufe werden laut. Viertel nach fünf. Und noch immer rührt sich nichts. Zwanzig nach fünf. Plötzlich scheint es, als ob die Türen geöffnet würden. Doch nicht dort, wo der Eingang angeschrieben steht. Nein, weiter vorne. Eine Welle von hinten. Es wird gerannt, gestolpert, gequetscht. Menschenmassen, die hineinwollen. Pause, weitere fünf Minuten des Wartens. Und ein weiterer Ansturm. Überall Menschen, die ungeduldig werden. Pfiffe und noch mehr Buh-Rufe. Eine weitere Welle des Andrangs und es scheint sich immer mehr anzustauen. Und dann sind wir an den Absperrungen, durchbrechen sie (es bleibt einem gar keine andere Möglichkeit, hinaus aus der vorantreibenden Traube kommt man nicht mehr), und eine weitere Schlange steht vor uns. Die Sicherheitskräfte lassen immer nur fünf Personen durch die meterhohen Gittertüren. Jacke aus, Halstuch ab, Gürtel weg, Schuhe aus, sich abtasten lassen, alles wird durchsucht. Und dann darf man sich erneut anstellen. Zumindest steh ich jetzt vor dem Palacio de Deportes, dem Sportpalast, der so palastähnlich gar nicht ist, eher das Gegenteil von einem Palast, recht klein. Aber nun gut, ich drängel’ mich noch ein Stück weiter vor, geselle mich zu drei Kolumbianern, die ganz nett aussehen und in der Tat, wir kommen ins Gespräch, ich versuche ihnen die Aussprache der deutschen Band beizubringen und wir warten und warten… Bevor wir erneut abgetastet werden und gefragt werden, ob wir auch wirklich keine Zigaretten dabei hätten. Nein, und wenn doch, dann würd ich es bestimmt nicht zugeben. Pfft. Einmal drin im Palast, da frag ich mich, was man hier für Paläste baut. Von innen ist es noch kleiner als es von außen scheint. Die Bühne ist nicht sonderlich groß, aber wir stehen im vorderen Drittel. Die Halle füllt sich und ja, ein anderes Klientel als ich mittlerweile von der Uni her gewohnt bin.

Die Vorband beginnt, Area 12, die Akustik ist nicht gerade die beste, den Sänger hört man kaum, aber die Musik ist nicht schlecht, nur denkt das leider nur die Minderheit des Publikums. Rufe wie „FUERA! FUERA!“ werden laut oder „QUEREMOS VER SANGRE!“ („Raus mit euch!“ oder „Wir wollen Blut sehen“). Ein wenig Angst krieg ich schon, mal ganz davon abgesehen, dass hier kaum jemand Die Toten Hosen kennt. Nach einer halben Stunde gibt die Vorband auf, es wird wieder hell. Umbau. Anti-Uribe-Chöre, die immer wieder angestimmt werden während des Abends. Die ersten Marihuana-Wolken steigen auf, ich habe allen Ernstes noch kein Konzert erlebt, auf dem so viel gekifft wurde (und ich frage mich, wie das Zeug reingeschmuggelt wurde). Nach der kurzen Umbau-Pause stimmen die Hosen Hey Ho, Let’s Go von den Ramones an und wider Erwarten reißt es die Menge mit. Die ersten fangen an zu pogen. Danach Begrüßung halb auf Spanisch, halb auf Englisch (ein schlechter Flachwitz: „We thought we would know what snow is, but the best snow that exist is from Columbia!“) und dann das neuste Lied: Strom. Kaum jemand versteht was gesungen wird, aber solange man dazu pogen kann…
Bekannte Lieder wie Es kommt die Zeit oder Hier kommt Alex werden gesungen und ich gröle fleißig mit (und übersetze Teile) und die Leute um mich herum schauen mich nur seltsam an, so nach dem Motto, in welch fremden Zungen spricht die denn. Steh auf, wenn du am Boden bist und zwischendurch immer wieder Cover-Versionen: I fought the law von The Clash und La Bamba. Und da soll noch mal einer sagen, dass die Deutschen verschlossen und kalt sind. Und man mag es kaum glauben, Campino, der Sänger, entledigt sich seines Hemdes und seines T-Shirts und wirft sich oberkörperfrei und schwitzend in die Menge – Stage-Diving während er singt, Respekt. Die Meute kocht. Es ist großartig. Schon lange habe eine Menschenmasse nicht mehr so genossen. Die schweißgetränkte Luft, das Mitgrölen alter Lieder, das gemeinsame Springen im Takt, den Körperkontakt mit so vielen fremden Menschen, die sich für das Gleiche begeistern, chévere…
Und dann die Zehn kleinen Jägermeister (bis auf die Stelle, an der einer der Jägermeister nach Köln fährt, ein gelungenes Trinklied):

Zehn kleine Jägermeister rauchten einen Joint,
den einen hat es umgehaun, da waren's nur noch neun.
Neun kleine Jägermeister wollten gerne erben,
damit es was zu erben gab, musste einer sterben.
Acht kleine Jägermeister fuhren gerne schnell,
sieben fuhrn nach Düsseldorf, einer fuhr nach Köln.

Einer für alle, alle für einen,
wenn einer fort ist, wer wird denn gleich weinen?
Einmal trifft's jeden, ärger dich nicht,
so geht's im Leben, du oder ich.

Sieben kleine Jägermeister warn beim Rendezvous,
bei einem kam ganz unverhofft der Ehemann hinzu.
Sechs kleine Jägermeister wollten Steuern sparen,
einer wurde eingelocht, fünf durften nachbezahlen.
Fünf kleine Jägermeister wurden kontrolliert,
ein Polizist nahm's zu genau, da warn sie noch zu viert.

Einer für alle, alle für einen,
wenn einer fort ist, wer wird denn gleich weinen?
Einmal trifft's jeden, ärger dich nicht,
so geht's im Leben, du oder ich.
Einmal muss jeder gehen
und wenn dein Herz zerbricht,
davon wird die Welt nicht untergehn -
Mensch ärger dich nicht!

Vier kleine Jägermeister bei der Bundeswehr,
sie tranken um die Wette, den Besten gibt's nicht mehr.
Drei kleine Jägermeister gingen ins Lokal,
dort gab's zwei Steaks mit Bohnen und eins mit Rinderwahn.
Zwei kleine Jägermeister baten um Asyl,
einer wurde angenommen, der andere war zu viel.

Einer für alle, alle für einen,
wenn einer fort ist, wer wird denn gleich weinen?
Einmal trifft's jeden, ärger dich nicht,
so geht's im Leben, du oder ich.
Einmal muss jeder gehen
und wenn dein Herz zerbricht,
davon wird die Welt nicht untergehn -
Mensch ärger dich nicht!
Ja, davon wird die Welt nicht untergehn -
Mensch ärger dich nicht!


Und dann… Lichter wieder an. Anti-Uribe-Chöre, Plakate wurden gehisst („Colombia si es el Israel de América Latina!”) und Ska-P-Rufe wurden geschrien...
Bis dann endlich die Lichter wieder ausgingen, um Sekunden später die Bühne wieder zu erleuchten. Und da waren sie. Ska-P. Für alle, die sich fragen, was denn genau Ska ist, nun, es ist unbeschreiblich, man muss dabei sein, um es zu erleben. Es macht auf jeden Fall eine Menge Spaß. Und Ska-P ist eine der verrücktesten und auch politischsten Ska-Bands. Plötzlich bricht eine Tanzwut aus. Mehr als zwei Stunden wird „geskankt“, „gepogt“ undd vor allem genossen, mitgesungen, mitgefiebert… Lieder wie Vergüenza, Ni f uni fa, A la mierda, Cannabis, Welcome to Hell heizen der Menge ein und wirklich, wir tropfen nur so vor uns hin. Die Luft tanzt mit, obwohl sie eigentlich stehen müsste. Jeder Körperteil ist in Bewegung, das Hirn schüttet so viele Endorphine wie nur möglich aus. Derjenige, der am Ende dieses Abends nicht durchgeschwitzt, glücklich und völlig fertig ist, hat definitiv etwas falsch gemacht. Die Bühnenshow ist großartig, man sollte vielleicht erwähnen, dass keiner der sechs Kerle wirklich hübsch ist, aber das ist ihnen völlig egal und auch gut so. Der Trompeter, mit einem ordentlichen Bierbauch spielt das gesamte Konzert über in nichts weiter als in einem Schottenrock, einer der Sänger verkleidet sich als Uncle Sam auf Stelzen während des Liedes Tio Sam

Und sie hören nicht auf zu spielen, fast zweieinhalb Stunden und am Ende, nachdem auch Intifada ein zweites Mal gespielt wurde, legen sie alle ein paar ordentliche Soli aufs Parkett und entledigen sich fast ihrer gesamten Kleidung bis sie nur noch in Unterhosen auf der Bühne stehen…
Ein nicht wirklich schöner Anblick, aber ein umso besserer Abschluss für einen so genialen Abend. Dieses Wochenende heißt es wohl eher: Erst das Vergnügen, dann die Arbeit.