Mittwoch, 16. März 2011

Papapapapapapa locococolocococo…

Ein sprechender Wecker


„El niño quiere naranjitas“ „Coco loco loco coco“ „Jorgiiiiiiito, comer aveeeena“ „Hola, hola, hola“ Gruuaaarrrr, grrrrruuuarrrr…

Eigentlich liegt mein Zimmer wunderbar ruhig, viel ruhiger als in Köln oder an sonst irgendeinem Ort, an dem ich bis jetzt gelebt habe (bis auf vielleicht Elliehausen, aber selbst da wird man morgens vom Hochdruckreiniger der Nachbarn geweckt). Also, eigentlich. Ruhe und Entspanntheit. Wenn, ja wenn da nicht der Papagei unserer Nachbarn wäre. Da ich liebend gerne bei geöffnetem Fenster schlafe, brauche ich mir keinen Wecker zu stellen. Pünktlich zum Sonnenaufgang beginnt mein Tag mit einer markerschütternden Stimme. Eben der eines Papageis. Anfangs dachte ich es seien mehrere, aber nein, dieser sprachtalentierte Vogel scheint auch mehrere Stimmlagen zu beherrschen. Herrlich. Jeden Tag verstehe ich mehr, von dem, was er so vor sich herbrabbelt. Verrückte Kokosnüsse, aber genauso gut will das Jungchen Orangen…

Vielleicht habe ich mich zu sehr angestrengt, um das zu verstehen, was dieses Federvieh so von sich gibt. Darüber scheine ich ein wenig in Bedrängnis zu kommen. Vier erste Tage habe ich beschrieben und nun bin ich schon drei Wochen hier ohne viel von mir zu geben. Wie gesagt, der Papagei unterhält mich, nur, wen unterhalte ich…

Mittlerweile bin ich angekommen. Ich habe mich an die Höhe gewöhnt, an den Smog, an das Chaos (das sich exponentiell ausgebreitet zu haben scheint während meiner achtmonatigen Abwesenheit), an das Zuspätkommen, an die Fülle von Menschen. Die ersten beiden Wochen waren zugegebenermaßen anstrengender als zunächst gedacht. Zwar hatte ich nicht viel zu tun, aber wahrscheinlich lag genau da das Problem. Nichtstun oder scheinbares Nichtstun, eigentliches Warten. Jedoch konnte ich das wechselhafte Wetter in vollen Zügen genießen. Morgens Sonne, sodass man zu Fuß durch die Straßen spazieren kann und somit auch kein Geld für den Bus oder Transmilenio ausgibt. Sich mit unterschiedlichen Menschen treffen, die sich alle freuen mich wieder in der Stadt zu wissen. Ein Kaffee hier, ein Mittagessen dort. Es ist nett und das nicht im Sinne des kleinen Bruder dieses Wortes. Angenehm. Bis dann gegen Nachmittag sich der Himmel schlagartig verdunkelt und innerhalb von Minuten ein Wasserfall sondergleichen vom Himmel stürzt. Oft gibt es noch Blitz und Donner gratis dazu. Auch das Wetter ist chaotischer geworden, vielleicht ist nicht nur der Bürgermeister der Hauptstadt an Korruption erkrankt, sondern ebenso der Herr dort oben in den Bergen.

A propos Krankheit, in der zweiten Woche war so ungefähr jeder Mensch erkältet, man munkelte bereits von Schweinegrippe, aber daran stirbt man ja glücklicherweise nur in Göttingen. Nun denn, ich bin glimpflich mit einem Tag Fieber davon gekommen, ein wenig Schnupfen, der aber auch vom übermäßigen Smog herrühren könnte. Wie bereits erwähnt, es ist chaotisch. Sehr. Und gefährlicher wohl auch. Ich habe bereits mindestens fünf verschiedene Menschen gehört, die in den kleinen busetas überfallen worden sind, sei es mit Messern oder dann doch schonmal mit Schusswaffen. Bis jetzt ist mir das erspart geblieben, aber die Kleinkriminalität steigt. Auch die Bereitschaft zur Demonstration. Sonst sind die Kolumbianer ein ruhiges Völkchen, wohlgesonnen, vor allem Ausländern gegenüber immer freundlich. Doch wenn es zum Beispiel um Freihandelsabkommen mit der Europäischen Union geht, sehen viele Bauern hier schwarz. Oder eher weiß. Der Konkurrenzkampf würde vor allem die Milchbauern hier erdrücken. Also geht man auf die Straße, wenn die Demokratie schon nicht vernünftig funktioniert, dann muss man zumindest seine Meinung kundgeben. Auch an den öffentlichen Universitäten wird ordentlich gegen die Privatisierung protestiert, weswegen auch des Öfteren diese für mehrere Tage geschlossen werden, damit den Studenten der Raum zur Kundgebung genommen wird. Klappe zu, Affe tot. Das mag alles sehr beunruhigend klingen, ist es vielleicht auch, aber im Grunde notwendig. Die Welt ist im Umschwung, an so vielen Ecken und Enden wird nach Veränderung geschrien. Gekämpft. Die Frage ist, wer schließt sich wem an und wohin führt uns das alles.

Zurück zu meiner winzigen Wenigkeit, vor einem halben Jahr noch an einem Ort, von dem momentan alle Ausländer aus Angst flüchten, sodass nur eine riesige Menge nicht zu evakuierender Menschen zurückbleibt, eben jene, die in der größten Stadt der Welt versuchen das Leben dort zu meistern. Schon bin ich wieder auf einem anderen Kontinent. Und was mache ich hier. Zunächst schien es so, als hätte mich die Zeitung, bei der ich mittlerweile angefangen habe, vergessen. Immer wieder wurde mein Einstiegstermin verschoben. Und nochmal verschoben. Aber dann. An einem Donnerstagmorgen, dem letzten, ging es endlich los. In einer hübschen Wohnung in einem der teuersten Viertel der Stadt lernte ich schlussendlich dann doch meine neuen Vorgesetzten kennen. Richard und María Claudia. Wunderbare Menschen. Richard ist in Venezuela geboren, teils in Deutschland aufgewachsen, und hat den Großteil seiner Studienzeit in Kanada verbracht. Er hat vorwiegend als Kriegsfotograf in Ländern wie Angola gearbeitet, ist dann in den neunziger Jahren nach Kolumbien gesandt worden, um über den blutigen Wahlkampf zu berichten für viele internationale Medien, insbesondere britische. Dort lernte er dann María Claudia kennen, seine jetzige Frau und Geschäftspartnerin, Kolumbianerin, Journalistin und eine Seele von Mensch. Richard ließ sich hier nieder, kennt das Land wie seine Westentasche, steht allem sehr kritisch gegenüber, weiß, dass er vor allem für die Elite des Landes schreibt und doch, er bleibt objektiv, begibt sich in unbekanntes Terrain. In der Zeitung arbeiten wir mit Journalisten aus dem englischsprachigen Raum, Briten, Kanadier, Australier, US-Amerikaner, alle tätig für internationale Medien wie The New York Times oder den US-amerikanischen Fernsehsender Fox. Kurzum, es ist großartig, alle arbeiten für die einzige englischsprachige Zeitung Kolumbiens und das auf freiwilliger Basis. Ein guter Grundstein, meiner Meinung nach, die Artikel werden geschrieben, weil sie geschrieben werden wollen. Und auch ich muss keinen Kaffee kochen, der wird mir von meinem Chef gekocht. Nein, ganz im Gegenteil, ich als unbeschriebenes Journalistenblatt darf Zeitungsseiten beschreiben. In jeder der monatlichen Ausgaben wird mindestens ein Artikel von mir erscheinen. Die Themen sind so gut wir frei, nur das erste, noch streng geheim, wurde mir vorgegeben, da ja bald Ostern ist. Der Rest wächst frei nach meiner Schnauze. Es ist schon ein gutes Gefühl ernst genommen zu werden. Am Telefon stellt man sich als Journalistin vor und schon hat man Kontakt zu den wichtigsten Personen. Aber man verbringt auch ganze Nachmittag mit Recherchearbeiten in der größten Bibliothek Lateinamerikas während nach langen unbeständigen klimatischen Bedingungen endlich mal die Sonne scheint. Das nimmt man jedoch gerne in Kauf. Auf, auf, die Suche nach guten Geschichten hat begonnen, kein heiliger Gral, viel lieber sind mir interessante Gesichter, spannende Geschichten, Orte, Gegenstände.

Auch vom kulturellen Leben bekomme ich viel mehr mit als zuvor. Vielleicht kann ich sogar demnächst einem Telefoninterview mit Botero lauschen, auch dem wichtigsten Kurator Kolumbiens konnte ich bereits ein Küsschen auf die Wange drücken, oder eben auch einem der bekanntesten Künstler Jim Amaral. Morgen geht es ganz alleine auf die Eröffnung einer Ausstellung, Bicentenario Pop, Freiheitskämpfer Lateinamerikas mal anders, poppig eben. Arbeitstechnisch ist also alles im Lot, endlich. Das Visum macht noch ein wenig zu schaffen, aber auch das wird noch.


Zum Leben. Langsam taste ich mich wieder heran an die kolumbianische Lebensart. Ich musste mich leider von einem sehr guten Freund verabschieden, Nelson, von nun an werde ich niemanden mehr zum Frühstücken haben, aber immerhin konnte ich anderthalb Wochen mit ihm teilen. Durch die Straßen ziehen, schlechten Witzen lauschen, viel passiv rauchen, aber vor allem leben, reden, philosophieren. Nun sitzt er in Buenos Aires in seinem Büro und entwirft fleißig neue Dinge. Vielleicht ein nächstes Ziel, wer weiß. Aber der Abschied war großartig, so muss es sein. Kolumbianisch. Viel Musik, laute Musik, die zum Tanzen animiert. Salsa, Merengue, Samba, alles, was das Herz oder vielmehr die Füße begehren. Die Hüfte schwingt im Takt (auch ich komme langsam wieder dorthin mich einfach mitreißen zu lassen). Es wird gefeiert. Keine Sorge, ich werde hauptsächlich arbeiten. Und das stelle ich auch direkt am nächsten Tag unter Beweis. Denn nachdem die Polizei bereits drei Mal an der Tür stand, gehen die letzten Gäste gegen fünf. Ich stehe eine halbe Stunde später wieder auf, noch leicht verdünntes Blut in den Adern, um mich in den Süden der Stadt zu begeben. Diesmal sind mehr Kinder erpicht darauf Englisch zu lernen. Und so vergeht ein Vormittag ganz ohne Kater, verantwortungsbewusst bevor ich abends um acht todmüde ins Bett falle.

Ein anderer Tag, ein anderes Wochenende, das Szenario verhält sich ähnlich, doch diesmal befinden wir uns an einem seltsamen Ort, Café Terra. Eine Bar, Kneipe mit allerlei Raritäten, alte Radios genauso wie Rollschuhe hängen von der Decke. Neben Marilyn Monroe räkelt sich Shakira und John F.Kennedy an der Wand, in den Fernsehern an den Pfeilern läuft nur Schneegestöber, jeder Stuhl ein Unikat, alte Nähtische dienen als Bierunterlage. Und es gibt ein widerwärtiges Getränk, das nur gemischt wurde, um sich geschwind in einem angeheiterten Zustand zu befinden. Wir sind hier, weil wir eine Band sehen wollen: Coretta Molly, ein guter Freund von mir spielt Schlagzeug. Und die Schlagzeuger sind wie man weiß, die besten. Wir lauschen dem wohligen Rock, Hardrock und wohlig ist es auch nicht, laut, aber gut, wir mögen Musik eben nur, wenn sie laut ist. Glücklicherweise bin ich beim Blick auf die Uhr wieder stocknüchtern und mache mich schleunigst auf den Weg nach Hause, nicht, dass gleich mein Papagei wieder mit einstimmt ins Lallen.


Vielleicht wird der Eindruck vermittelt, ich feiere zu viel, trinke zu viel, denke zu wenig nach, lasse es mir zu gut gehen. Vielleicht. Aber im Grunde arbeite ich hart. Ernsthaft. Es gibt noch viele Hürden zu überwinden. Vieles klingt einfacher als man denkt. Und doch. Es war die richtige Entscheidung wieder zurückzukehren. In diese zweite Heimat. Da bin ich wieder. Hin- und hergerissen. Wir werden sehen, welcher Teil von mir, wo landet. Das innere Tauziehen.

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