Samstag, 14. Dezember 2013

Wer hat an der Uhr gedreht?


Die Zeit, wo ist sie geblieben… Wie häufig stellt man sich eigentlich diese Frage? Oft genug, meiner Meinung nach. Drei Wochen Chile im Schnelldurchlauf nicht nur für mich, sondern auch für meine Leser. Erwähnenswertes? Eigentlich eine Menge, denn sonst wären die Stunden und Minuten nicht so schnell an mir vorbeigezogen. Die Zeit in Concepción neigt sich dem Ende zu, denn bald fliege ich hoch in den Norden. Nach zweieinhalb Jahren endlich mal wieder richtiges Chaos-Großstadtgefühl erleben. In Bogotá.

Aber erst einmal streife ich noch ein wenig durch die mir mittlerweile bekannten kleinen und größeren Straßen Concepcións, genieße die Sommersonne auf der Haut, die frischen Heidel-, Him- und Erdbeeren, die überall am Straßenrand verkauft werden. Plötzlich scheint ein ganz anderes Licht auf diese Stadt, mit der ich anfangs nicht unbedingt zurecht gekommen bin. Aber jetzt, wo im Dezember der Sommer da ist und der Weihnachtsmann in kurzen Hosen Saxophon spielt, das Eis klebrige Spuren auf den Händen hinterlässt und die knutschenden Pärchen in allen Parks sich verhundertfacht haben, da kommt in mir das Gefühl auf, ich könnte es noch eine Weile hier aushalten. Aber nicht für immer. Und ab und an mal raus zwischen all den letzten Klausuren, das ist auch nicht verkehrt. An einem Sonntagmorgen setze ich mich mit Rita und Andrea in den Bus in Richtung Los Ángeles, wir steigen allerdings früher aus: an den Saltos del Laja. Die größten Wasserfälle in Chile. Es sind nicht gerade die Niagarafälle, aber noch dauert der Sommer nicht zu lange an, sodass sie dennoch eine gewisse Menge Wasser führen. Glücklicherweise sind wir früh in den Bus gestiegen und noch halten sich die Pärchen und Poser mit ihren Digitalkameras in Grenzen. Der Hauptwasserfall weht uns ein wenig Frische und Nässe in Haare und Kleidung, bevor wir es uns hinter der Absperrung gemütlich machen und von oben herab auf das Spektakel schauen. Derweil gibt es Käsebrote und Zimtschnecken, ein leichtes Lüftchen und viel Sonne. Erst als die Touristen sich mehren, erhalten wir vermehrt Blicke und Kommentare. Da auch wir einen wunderbar touristischen Tag verbringen wollen, steigen wir die steile und halbwegs gesicherte Treppe hinab zu dem klaren Wasserfallfluss, der sich durch die urige Felsformationen schlängelt und besteigen das Touristenboot. Zwölf bis fünfzehn Minuten dauert die Fahrt, mit dem Kanu wäre es sicherlich abenteuerlicher, aber zumindest sind wir dem kristallklaren Wasser ein Stück näher. Außerdem tuckern wir an ein paar einheimischen Jungs vorbei, die sich an ihrer Bade- oder Bräunungsstelle in Pose werfen. Da Sonntag ist, gibt es nach der Bootsfahrt noch ein Eis. Herrlich.
Unter der Woche stehen Prüfungen an, ein paar Einkäufe hier, ein wenig Planen dort. Und immer wieder Weihnachtslieder bei der Hitze, die sich in meine Haut brennt, sobald ich vor die Tür trete. Noch ein letztes Mal schwimmen gehen, ein letztes Mal Kuchen in dem schönsten Café Concepcións essen, noch ein letztes Mal auf der Plaza Perú auf Freunde warten. Zumindest, bis ich im März wieder zurück in das kleine Nest komme.

Und da stürzt es in die Tiefe

An meinem vorletzten chilenischen Wochenende besteige ich erneut den Bus in Richtung Los Ángeles und diesmal mit zwei Chilenen, Masiel und Juan Carlos, um tatsächlich bis zur Endhaltestelle zu fahren. Weit im Süden von Conce und nah an den Anden haben die Eltern von Juan Carlos vor etwa vier Jahren ein Grundstück erworben. Ein Hektar groß mitsamt einem kleinen Wald, umgeben von Weizenfeldern und Heidelbeerbüschen der Nachbarn, geschorenen Schafen und Hühnern. Darauf steht ein hölzernes Haus, das hell knarrende Zimmer für die Großfamilie bereithält. Als wir am Freitagabend ankommen, gibt es frisch gebackenes Brot, Käse, Tee und einen unglaublichen Sternenhimmel. Die halbe Nacht verbringen wir draußen, liegen auf der Ladefläche des Jeeps und starren in den schwarzen von leuchtenden Punkten übersäten Nachthimmel. Und plötzlich zischt es, ein schmaler Streifen durchschneidet die Tiefe, und noch einer und noch einer. Es regnet fast schon Sternschnuppen. Außer meinem Glücksstaunen ist es unglaublich still hier. Die Nacht könnte nicht schöner sein und irgendwie überkommt mich dieses Gefühl der Zufriedenheit. Auch wenn sich die nächtliche Kälte über meine Füße durch die Beine in meinen Körper frisst, breitet sich von Innen her eine Wärme aus.

Mittagessen im Freien
Der Frühstückstisch ist gedeckt, die Sonne kitzelt auf der Nasenspitze und der Wind bringt eine frische Brise Waldluft mit sich. Da ist es mir sogar gleich, dass der zum Inventar dazugehörende Hund Duque das ein oder andere Mal angeschnüffelt kommt und versucht, mich zum Spielen zu animieren. Außerdem wartet bereits jemand anderes aufs Spielen. Die dreieinhalbjährige Nichte von Juan Carlos. Irgendwie habe ich einen Narren an dem kleinen Wirbelwind gefressen. Ich werde frisiert und geschminkt, wir laufen auf ihre Anweisungen hin durch das Dickicht des Hinterhauswaldes, immer im Schlepptau: Duque. Dann wird aufgetischt, Mittagessen unter freiem Himmel, was kann es besseres geben. Im Schatten der Bäume deckt sich langsam der Tisch. Ich beobachte alles von oben herab. Denn irgendwas hat mich dazu gebracht, hoch in den Baum zu klettern und dort in aller schattigen Ruhe ein Buch zu lesen. Und auch nach dem Essen klettern meine nackten Füße an dem rauen Baumstamm empor, um dem Mittagsschlaf ein Schnippchen zu schlagen und unter dem Blätterdach Zuflucht in einem der so vielen noch zu lesenden Büchern zu finden. Noch ein kurzer Glücksmoment. Stille. Bis Sofia wieder wach ist und umhertollen will. In der Küche werden frische empanadas mit Krebsfleischfüllung zubereitet und das kleine Häuschen nebenan wird für die Geburtstagsfeier des Vaters von Juan Carlos, der ebenfalls Juan Carlos heißt, mit Luftballons geschmückt. Als die Sterne schon längst am Himmel funkeln, als gäbe es kein Morgen, wird nach dem Abendessen wohlgemerkt, der Grill angeschmissen und Rippchen aufgelegt. Gut, dass ich Vegetarierin bin, denn jetzt noch etwas essen... Selbst das Stück Geburtstagstorte macht mir zu schaffen. Aber dem Himbeer-Blätterteig-Karamell-Sahne-Biskuit-Krams kann selbst ein überfüllter Magen nicht widerstehen. Der erste Advent ist zwar kalendarisch da, aber für mich bei 30°C und strahlend blauem Himmel weit entfernt.

Die letzte Uniwoche ist extrem kurz, da die meisten Prüfungen schon hinter mir liegen und die Dozenten es vorziehen, diese zu Hause zu korrigieren, als weiterhin zu unterrichten, ist am Montagabend mein letzter Literaturkurs und am Dienstag werde ich von einer der Dozentinnen zu einem unglaublich leckeren Stück Maracuja-Torte eingeladen. Und so plötzlich endet dieses Semester, lecker und unerwartet. Denn mit dem Semester endet auch meine Zeit in Chile, zumindest vorerst. Am Freitag muss ich aus dem Zimmer raus. Das bedeutet Sachen packen, noch ein wenig Papierkrams erledigen und zusehen, wo ich die verbleibenden Tage unterkomme. Glücklicherweise habe ich zwei sehr gute Freunde gefunden und am Freitagabend mache ich mich auf nach Chiguayante zu Masiel und ihrer Familie.

Am zweiten Advent besteige ich wieder einmal den Bus, schwer bepackt, aber noch nicht mit Ziel Bogotá, sondern Santiago de Chile. Manu Chao spielt nämlich unter freiem Himmel in der chilenischen Hauptstadt und das kann man sich nicht entgehen lassen. Die Arena ist prall gefüllt, Andrea, Rita, Johannes und ich kämpfen um einen guten Platz nicht allzu weit von der Bühne entfernt, sodass wir zumindest erkennen können, wer da auf der Bühne steht. Ganze drei Stunden feiert sich der zwar in die Jahre gekommene, aber dennoch reichlich hyperaktive Musiker, bis wir fast zusammenbrechen. Nach der dritten Zugabe gehen irgendwann die Bühnenlichter tatsächlich aus. Und alles drängt in Richtung Ausgang. Wir setzen uns noch eine Weile auf die Tribüne, um dem Gedränge zu entgehen, sehen dem Spektakel zu, wie oberkörperfreie Chilenen über die Absperrungen klettern und wundern uns über die einzelnen Schuhe, die hier und da durch die Luft fliegen. Ein gelungener Abend, wenn da nicht der unfähige Taxifahrer wäre, der uns auch noch gewaltig verarscht. Aber das soll unsere gute Laune nicht trüben. Am Montag spazieren wir ein wenig durch Santiago, essen im Mercado Central in einem der vielen Touristenüberladenen Restaurants Meeresfrüchte und dann verabschieden wir uns von Rita. 

Die Statue Salvador Allendes vor der Moneda
Denn eine Stadt muss ich noch sehen, bevor ich in den Flieger steige: Valparaíso. Nicht nur der Name klingt paradiesisch. Im Gegenteil zu anderen chilenischen Städten ist diese Hafenstadt ungeordnet, ohne schachbrettförmige Straßen, bunt, jede Hauswand zeigt sich in einer anderen Farbe, hier und da ein durchdachtes Graffiti und jede Menge fröhlich-aufgeschlossene Menschen.

Kunst in den Straßen
Die Luft schmeckt salzig-lebendig, die Brücken ziehen sich augenscheinlich in Wellen über die Straßen, die Autos und Busse rauschen mit hoher Geschwindigkeit unter ihnen durch, die Gehwege sind überfüllt und selbst nachts stirbt die Stadt nicht aus. In jedem Winkel, auf allen der unzähligen Anhöhen wimmelt es vor Menschen, selbst die empanadas sind hier irgendwie saftiger – aber da spielt wohl der Kopf eine große Rolle.

Farbe, farbiger, am farbigsten
Der Morgen strahlt in zartem Blau, die Sonne gibt sich großzügig und Andrea und ich erklimmen den ersten cerro, die erste Anhöhe, und nach einem guten Stück Weg tut sich ein weitreichender Blick auf Valparaíso zu unseren Füßen auf. Ein paar Schritte weiter steht eines der Häuser des wohl bekanntesten chilenischen Dichters Pablo Neruda. Es mutet einem Schiff an, so rund und bukig ragt es hier oben weit über dem Meer empor. Die Avenida Alemania kriecht wie eine Schlange durch die Hügel und Berge der Stadt, bevor es am Plaza Bismarck, an dem der werte Herr seinen Schnäuzer grün gefärbt bekommen hat, wieder steil hinunter geht. Ein paar lebensmüde Fahrradfahrer stürzen die Straßen hinab, ihnen hinterher die Busse und Taxis, die zuvor, wenn es hochkommt, im dritten Gang die schmalen Sträßchen hinaufgeschlichen sind. Wir stolpern hungrig dem ältesten Restaurant der Stadt entgegen, dem Cinzano. Das Mittagsmenü in einer eher dunklen, aber umso gemütlicheren Ecke des Lokals, mit Blick auf die langgezogene Bar, den winzigen auf Fußball eingestellten Fernseher und die sicheren Griffe der Kellner, die bereits Inventar zu sein scheinen. Pisco Sour, Salat mit Avocado-Creme, Hecht und Kartoffelpüree und anschließend noch leche quemada, verbrannte Milch, die chilenische Variante der Crème Brulée oder der Crema Catalana oder oder oder. Ein Mittagsschläfchen würde jetzt guttun, anstatt dessen taumeln wir durch die Innenstadtstraßen, hinauf, hinunter, kürzen den steilen Anstieg mit einem der zahlreichen Aufzüge teils noch aus dem 19. Jahrhundert stammend ab, schauen in kleine Boutiquen und Galerien hinein und stranden irgendwann am Hafen. Dort pausieren unsere belaufenen Füße eine Weile, derweil lassen sich unsere Köpfe anwerben. Denn eine Seefahrt, die ist lustig, eine Seefahrt, die ist schön. Noch ein bisschen Meeresluft schnuppern und den glitzernden Sternen auf den Wellen zusehen. Auf einer der Bojen stapeln sich Seelöwen, Möwen schießen steil hinab ins fischreiche Gewässer und ein paar Seekadetten rudern hinaus zu ihren grauen Riesen, die vor der Stadt vor liegen.
Das wäre doch mal ein Arbeitsweg

Der Abend führt zurück nach Santiago de Chile, ein Abschied, der schwer fällt, eine drückend warme letzte Nacht auf chilenischem Boden – zumindest für dieses Jahr. Ein Monstereis gegen die Hitze, ein Flug in engen Reihen und plötzlich ist es Morgen in Bogotá. Alles so bekannt und doch so fremd.

Mittwoch, 27. November 2013

Ein Blondchen im Blondie


Filmfiguren. Das ist das Motto einer Party an diesem Samstag. Da muss ich mir jetzt etwas einfallen lassen, ich will ja keine Spielverderberin sein, aber mich auch nicht in horrende Ausgaben stürzen. Ich überlege und überlege, doch so richtig fällt mir nichts ein, da ich eher Filme sehe, in denen ganz normale Menschen auftreten. Und was tun, wenn man nicht weiter weiß? Mama fragen. Und die meint, ich solle aus mir eine Marilyn Monroe machen. Dank dieser grandiosen Idee und der Hilfe von Masiel und ihrer Schwester Paloma verwandle ich mich also in einen (doch recht gut gelungenen) Abklatsch der Ikone. Als ich in den Spiegel schaue, erkenne ich mich selbst kaum wieder: Löckchen, falsche Wimpern und Makeup. Irgendwie seltsam, aber auch ganz schön, irgendwie. Nur nicht wirklich ich selbst, aber darum geht es ja bei einer Kostümparty ja auch. Abends sitze ich dann mit Lara Croft, William Wallace, Hellboy und vielen anderen Gestalten am Tisch.

Am Sonntag verspüre ich den dringenden Wunsch nach Ferien, denn so langsam fällt mir die Unidecke auf den Kopf, mit all den Prüfungen und Tests, und Lesekontrollen. Ich dachte nämlich eigentlich, dass ich mit meinem Abitur vor mehr als sieben Jahren die Schule hinter mir gelassen hätte. Doch das universitäre Bildungssystem hier in Chile katapultiert mich dann und wann in schulische Fantasien zurück. Aber das Ende ist nah, das Semesterende zumindest. Und weil ich eigentlich lernen sollte, steige ich am Donnerstagmorgen in den Bus, der mich in die Hauptstadt bringt. Am späten Nachmittag komme ich in Santiago an und meine Poren öffnen sich schlagartig und die Schweißproduktion läuft auf Hochtouren. Das Thermometer lässt mehr als 30°C verlauten, es ist Ende November, und hier steht der Sommer vor der Tür, aber gleichzeitig klopft der Weihnachtsmann an jedes Schaufenster. Ob mein Kopf jemals Weihnachten vom Winter trennen werden kann? Die einkaufswütigen Chilenen tun es den Deutschen in der Vorweihnachtszeit zumindest gleich. Überall Angebote, Mitternachtsshopping in den Malls, Glitzerkugeln hier, Plastiktannenbäume dort. Da sehne ich mich plötzlich nach dem ersten Schnee im Jahr, verspüre plötzlich das Verlangen nach einem Glühwein abends um 19 Uhr, wenn die Sonne schon längst untergegangen ist, bei klirrenden Temperaturen und würde alles für einen Flammkuchen geben.

Stattdessen schwitze ich und ärgere mich, nicht allzu viel sommerliche Kleidung im Gepäck zu haben. Doch der Ärger ist schnell verflogen, als Juan mich am Busterminal abholt, mich erstmal schnell seiner Mutter vorstellt, ich meine Sachen dann bei ihm in seiner sehr kleinen, spärlichen Bude ablade und mich schon fast wieder auf den Weg mache. Auf zum Konzert. Ins Blondie. Eine Diskothek im unterirdischen Herzen der Hauptstadt. Und dort pocht es ziemlich stark. An diesem Abend spielt dort die US-amerikanische Band CocoRosie. Freak-Folk. Die wenigsten werden damit wohl etwas anfangen können, aber nicht nur ich selbst bin ab und an ein wenig gewöhnungsbedürftig, sondern eben auch mein Musikgeschmack. Seitdem ich Patti Smith in Leipzig sehen konnte, war ich nicht mehr auf einem Konzert. Und dann ist es auch noch eines dieser kleinen, kuschligen Konzerte in einer irgendwie passenden Räumlichkeit. Blaue, würfelförmige Lampen hängen von der Decke herab, auf der Bühne zieht sich eine Wäscheleine durchs Bild, an der Kleidungsstücke hängen. So langsam werden die Chilenen unruhig, ich habe mich alleine in Reihe sechs oder sieben vorgekämpft, doch wie es so ist, vor mir steht ein Riese, zumindest aus meiner Floh-Perspektive gesehen. Sobald sich die Massen in Bewegung setzen, verschiebt sich auch das Sichtfeld und ich lasse mich von der Musik treiben. Ich muss sagen, ich bin gerne allein auf Konzerten, auch im Kino oder selbst im Theater. Doch gerade bei Konzerten, ist es wundervoll, zwischen vielen fremden Menschen zu stehen, sich einfach nur gehen zu lassen, sich den Rhythmen hinzugeben und den Bass im gesamten Körper zu spüren. Wenn man dann noch in einem uralten Käfer, dessen Baujahr mir unbekannt, aber in etwa mit dem meinigen zusammenfallen dürfte, abgeholt und durch die sommerliche Nacht kutschiert wird, kann es für einen winzigen Augenblick gar nicht besser sein.

Beinahe hätte ich mich getraut, zu fahren

Die Nacht ist glücklicherweise lau, doch der nächste Morgen bereits unglaublich stickig. Wir befinden uns weit im Süden der Stadt, im Ghetto, wie Juan gerne sagt. Meiner Meinung nach ist es aber eher ein ganz normales Arbeiterviertel mit wenig Luxus eben. Die kalte Dusche ist sogar erfrischend, und wer braucht schon Unmengen an Platz? Die Nachbarskatze schaut gelegentlich mal herein und erst als es am Nachmittag ein wenig erträglicher wird, besteigen wir mein liebstes Gefährt. Ziel des Tages: der Cajón del Maipo. Ein riesiger Park mit Vulkan und Thermalquellen. Wir suchen uns ein schattiges Plätzchen am Fluss und versuchen so, der Hitze ein wenig zu entfliehen.

Sommerliche Flussabkühlung

Abends lerne ich Juans Schwester mitsamt Familie kennen, die mich löchert, bis kaum noch etwas von mir übrig ist. So ist eben hier in Chile, wenn schon, dann gleich das volle Programm. Am Samstag ist es noch hitziger, da muss ich mich schon anstrengen, damit wir die Bude verlassen. Zumindest ein klitzekleines bisschen vom Zentrum würde ich gerne sehen. Und tatsächlich, neben der Eintrittskartensuche für das nächste Konzert, schlendern wir über die plaza de armas, durch eine der Fußgängerzonen, vorbei an einer der Fakultäten der Universidad de Chile. Es ist nämlich so, dass Manu Chao am 8. Dezember in Santiago de Chile spielt und den wollen wir, ich und zwei Freundinnen, uns nicht entgehen lassen. Doch leider kann man hier oftmals nur mit chilenischen Kreditkarten übers Internet einkaufen, sodass ich vor Ort auf Kartenjagd gehe. Im vielsagenden Plattenladen „The Knife“ kauft mir ein Chilene die letzten vier vorrätigen Karten vor der Nase weg. Also wieder Bus fahren, in einer Pizzeria sollen Karten verkauft werden, hoffentlich, hoffentlich. Und wirklich! Erfolgreich stranden wir in einer Bar im Touristen-Viertel Bella Vista und genießen den Abend.

Abkühlung im Stadtzentrum



Als ich nach einer nächtlichen Busfahrt am Morgen wieder in Concepción ankomme, ist Wahlsonntag. Noch ist alles ruhig, meine Schritte verlieren sich im morgendlichen Schweigen, leise spaziere ich an den erstarrten Dinosauriern im Park vorbei und sehe dabei zu, wie die Stadt aus ihrem Dämmerzustand erwacht. Ob es nun die ersten Wähler sind, die ihre vielen Kreuze machen oder die Frühsportler, denen die leeren Straßen mindestens genauso gut wie mir gefallen dürften – es sind wenige Menschen unterwegs. Bis zum Abend darf weder Alkohol in Supermärkten verkauft, noch in Kneipen ausgeschenkt werden, damit auch alle nüchtern zur Wahl gehen. Es ist das erste Mal, seit dem Ende der Diktatur unter Pinochet, dass die Stimmabgabe nicht mehr verpflichtend ist. Dementsprechend hoch ist auch die Wahlbeteiligung: knapp 49 %. Und wie nicht anders zu erwarten war, gewann die Ex-Präsidentin Michelle Bachelet, ihre Wahlversprechen klingen nicht verkehrt – Reformierung der noch aus Diktaturzeiten stammenden Verfassung, ein gerechteres Steuersystem, Bildung für alle –, doch wenn man die Chilenen so reden hört, dann glauben die wenigsten an die Umsetzung dieser Versprechen. Außerdem muss sich die Dame von links noch in der Stichwahl gegen die rechtsgerichtete Evelyn Matthei am 15. Dezember durchsetzen, bevor sie zeigen kann, dass sie ein „Chile für alle“ schaffen kann – und das dann im zweiten Anlauf, schließlich hat sie es während ihrer ersten Amtszeit von 2006 bis 2010 keinen großen Wandel auslösen können.

Sonntag, 17. November 2013

Hat jemand nach Abenteuerlichkeiten gerufen?


Knapp zwei Stunden bin ich wieder zu Hause in Concepción und eigentlich auch recht müde – nach zwei Stündchen Schlaf und einer langstündigen Argentinienrückreise – treffe ich mich mit Masiel, einer mittlerweile sehr guten Freundin, an einer Straßenecke, um dort in den Bus nach Lirquén zu steigen. In Concepción ist es angenehm mild, aber uns wurde angeraten, warme Kleidung einzupacken. Ich habe also noch meine Jacke, die mir im winterlichen August hier das Erfrieren von einigen Körperteilen erspart hat, im Gepäck und ein paar Alpaka-Handschuhe, das kommt mir zwar reichlich übertrieben vor, aber man weiß ja nie. Zum Strand soll es eigentlich gehen. Aber Miguel und Juan haben es sich anders überlegt: Nach langem Hin und Her und hier noch etwas einpacken und da noch etwas vergessen haben, stiefeln wir in die Nacht hinein, genau entgegengesetzt zum Meer. Am Straßenrand steht im abendlichen Laternenlicht ein noch recht junges Fohlen, das Mutterpferd im Halbschatten angepflockt. Plötzlich biegen wir links ab, ein kleiner Feldweg, ich bezweifle ein wenig, dass wir öffentliches Terrain betreten, schweige aber. Statt zu protestieren, stolpern Masiel und ich Arm in Arm den beiden Männern hinterher, die uns den Großteil des Gepäcks abnehmen, als wir bei Handy-Taschenlampenschein über eine wacklige Brückenkonstruktion einen (laut unsere männlichen Begleitung) reißenden Fluss überqueren. Bei Tageslicht stellt sich dann aber doch heraus, dass es eher ein gut gefülltes Bächlein ist. Immer weniger Stadtlicht dringt hier oben zwischen den Bäumen hervor, ein kurzer Moment des Beklommenseins und ein kleiner Herzstillstand später und wir stehen auf einer Lichtung mitten im kleinformatigen Nirgendwo. Um uns herum hängt die Stille einsam in den Bäumen und die Sterne vielzählig am Himmelszelt. Wir bauen unser eigenes auf, richten es so, dass wir nicht direkt in den angetrockneten Pferdemist treten und entzünden ein Feuer. Unerwartet und mit ein wenig Rest-Adrenalin vom Aufstieg entspanne ich mich und starre in die Flammen, die sich in den Nachthimmel schlagen – noch wärmt das Feuer, doch bald bin ich froh um meine wärmende Jacke, meine Handschuhe und die warme Decke, denn die Feuchtigkeit kriecht in jede Ritze. Und doch: Welch eine wunderschöne Nacht unter freiem Himmel…
Am Morgen brütet die Sonne auf unserem Zelt und wir torkeln wohlig-warm an die frische Luft, sammeln Sack und Pack zusammen und frühstücken Torte bei Miguel. Kann ein Sonntag besser beginnen? Später spaziere ich zusammen mit Masiel noch zum Strand, wir essen herrlich fettige empanadas gefüllt mit allerlei frischen Meeresfrüchten und lassen uns noch ein wenig Sonne ins Gesicht brennen, bevor wir zurück nach Conce fahren. Duschen und schlafen, auch wenn das Wetter eigentlich nach viel Zeit draußen verlangt, der Frühling steht in seiner ganzen Pracht, der babyblaue Himmel lockt, aber mir fallen die Augen zu.

Gegen späten Nachmittag dann klingelt mein Handy und ich werde gebeten, den Einbruch ins eigene Haus zu verschleiern. Andrea hatte sich ausgesperrt, die einzige Möglichkeit war das Abschrauben des Küchenfenstergitters und der Einstieg ins eigene Haus, da weder Mitbewohner vor Ort, noch Handy in der Tasche, noch Schlüssel für das unüberquerbare Tor zur Hand waren. Also komme ich doch nochmal raus an die frische Luft, schwinge mich auf meinen etwas klapprigen und ungefederten Drahtesel, von dem ich allerdings ein kurzes Stück absteigen muss, da ich Angst habe, von dem kläffenden Straßenköter zerfleischt zu werden und eile herbei. Denn das Gitter alleine wieder anzubringen, das würde dann doch an ein Wunder grenzen. Eine Schraube hier, eine Schraube dort, noch ein wenig zurechtrücken, anziehen und man sieht nichts mehr. Mein Magen grummelt und Andrea lädt mich zum Dank zu einer Pizza ein. Alles dabei? Schlüssel? Ja. Geld? Ja. Handy? Nein. Also kurz nochmal ins Haus. Hallo? Ins Haus! Mist, die Tür lässt sich nicht öffnen. Das kann doch jetzt nicht… Wer hat sich den Scherz erlaubt? Universum, wir lachen. Lauthals, aber ein wenig Verzweiflung mischt sich auch darunter. Sollen wir das Gitter nochmal abschrauben? Lieber nicht, die Passanten schauen schon ein wenig seltsam. Immerhin können wir das Tor in die Freiheit öffnen. Also klingeln wir beim Nachbarn, der erst Andreas Mitbewohnerin und dann den Vermieter anruft, welcher auch ziemlich schnell mit einer Auswahl an Schlüsseln da ist und sich selbst dem Versuch des Türaufschließens widmet. Doch da tut sich nichts. Also laufen wir drei Straßenblöcke bis zu seinem Haus, nehmen in seinem wohl geordneten Wohnzimmer auf dem Ledersofa Platz und sehen dem Spektakel zu, wie er versucht, einen Schlüsseldienst an einem Sonntagabend anzurufen. Das ist schwieriger, als gedacht. Aber irgendwann erreicht er jemanden, der innerhalb von sieben chilenischen Minuten an der Tür steht und mit Hilfe von Taschenlampenlicht am Schloss herumwerkelt, bis es nachgibt. Hätte ich mal bloß besser aufgepasst. Nach der ganzen abenteuerlichen Aufregung schmeckt die Pizza zwar deutlich später, als geplant, aber dennoch sehr gut.


Und das nächste Abenteuer? Ein weniger erfreuliches, würde ich behaupten. Es beginnt eigentlich sehr ruhig an einem Dienstagabend im Hause von Masiel und Paloma, ihrer Schwester, die an diesem Tag Geburtstag hat. Ein kleiner Freundeskreis sitzt zusammen, nimmt onces zu sich, das, was in Deutschland vielleicht Kaffee und Kuchen sein könnte, ein spätnachmittaglicher Imbiss, auch wenn es zeitlich eher Abendbrot ist. Irgendwann, nach reichlich aufgerollten, mit manjar (einer Karamellcreme) oder wahlweise Kastanienpüree gefüllten Eierkuchen, macht sich der Großteil auf den Weg zurück nach Hause, da die letzten micros nach Conce fast schon nicht mehr fahren. Gemeinsam mit einem Freund besteige ich den höchstwahrscheinlich allerletzten Bus, wundere mich über die überhöfliche Art und Weise des Fahrers, den sturzbetrunkenen Fahrgast, der mit einer Hand seine 3-Liter-CocaCola-Flasche liebkost und mit der anderen auf eine Plastiktüte eindrischt und der seltsamen Stimmung der anderen Fahrgäste. Mir dämmert es, aber es ist bereits zu spät. Wir sind auf dem Weg zurück nach Conce, der Fahrer nicht mehr ganz bei Sinnen, mal schrammt er ein wenig zu dicht am Bordstein entlang, mal versagt der Motor. Nach einer gefühlten Ewigkeit sind wir im Stadtzentrum und ich kann aussteigen, flüchtig verabschiede ich mich von meinem Freund und springe erleichtert aus dem Bus. Demnächst vertraue ich wohl lieber wieder nur meinen eigenen Füßen, frei nach Bob Marley. Genug Aufregung. Ich habe wohl ein bisschen zu laut nach Abwechslung gerufen. Erleichtert falle ich ins Bett und bin für die mündliche Prüfung am nächsten Morgen mehr als gewappnet.

Donnerstag, 7. November 2013

Tanze Tango mit mir, Tango, Tango, die ganze Nacht


Der Flugzeugblick auf die Anden
Nach der ersten durchtanzten Nacht – in einer Lokalität Concepcións, die sich „La Bodeguita de Nicanor“ schimpft – steige ich schlaftrunken und mit sich näherndem Muskelkater in den Bus nach Santiago de Chile. Es ist ein sonniger Samstagvormittag, der mich bereits leicht zum Schwitzen bringt. Vor mir im Bus sitzt ein kleines Mädchen, knapp zwei Jahre alt, das sich immer wieder hinter seinen Handflächen versteckt und sich freut, wie sich eben kleine Mädchen freuen, wenn man ihnen Aufmerksamkeit schenkt. In Santiago steige ich von einem in den nächsten Bus, der mich dann wiederum zum Flughafen bringt. Denn das nächste Transportmittel ist beflügelt, erhebt sich allerdings erst gegen 20 Uhr in die Lüfte. So lange stromere ich über den hauptstädtischen Flughafen, stöbere in den überteuerten Geschäften und frage mich, wer eigentlich in den Duty-Free-Shops einkauft, denn wirklich günstiger sind die Produkte hier auch nicht – und wer will schon einen Fußballgroßen ChupaChups-Lutscher im Handgepäck transportieren?

Das beflügelte Monstrum bringt mich ins Nachbarland, nach Argentinien. Genauer: in die Hauptstadt Buenos Aires. Ein riesiges Lichtermeer flackert aus dem schwarzen Loch unter uns hervor. Nach nur anderthalb Stunden Flug befinde ich mich in einem anderen Land. Und wieder eine neue Währung, die erst einmal in meinem Kopf ankommen muss. Ich komme zumindest am späten Abend bei Tante und Onkel einer guten kolumbianischen Freundin an, die mich in Empfang nimmt, da sie hier momentan ihre Pflichtpraktika für ihr Medizinstudium absolviert. Das Haus liegt in einem sehr gediegenen Viertel in der Provinz Buenos Aires, also nicht direkt in der Hauptstadt, dafür entlang von Bäumen gesäumten Kopfsteinpflasterstraßen. Am Morgen blicke ich dann fast vom Bett aus direkt auf den Garten mit Swimmingpool. Außerdem gibt es in diesem Haushalt drei Kinder im Alter von neun bis achtzehn Jahren sowie von montags bis freitags eine Hausangestellte, die sich um alles kümmert. Das ist mir mittlerweile leider gar nicht mehr so fremd, aber dennoch kommt es mir noch immer so vor. Zu uns kommt samstags eine junge Frau, die den Dreck in der Küche unserer 9er-WG beseitigt, aber tagtäglich acht Stunden Haushalt… Ich bin gespannt, wie ich damit zurechtkommen werde.

Am Morgen lerne ich Jackie und Juan Carlos kennen, meine Gastgeber. Und irgendwie fühle ich mich ein bisschen Zuhause, ob das vielleicht an dem kolumbianisch angehauchten Spanisch liegt? Von dem Viertel Martínez aus besteigen wir den Zug, etwa 45 Minuten sind es bis ins Zentrum. Allerdings muss man ein wenig mehr Zeit einplanen, da man nie genau weiß, wann und ob überhaupt ein Zug angekrochen kommt. Auf dem Weg ins Herz der Stadt kommen wir am riesigen Grundstück der momentan amtierenden Präsidentin Kirchner vorbei: Hinter hohen, roten Mauern, geschmückt mit reichlich Stacheldraht, verbirgt sich irgendwo in den weiten das pompöse Anwesen. An der Endhaltestelle Retiro warten Steffi und ich auf eine Freundin, um dann gemeinsam durch San Telmo zu schlendern. Einem kleinen niedriggebauten Viertel mit einer Vielzahl an Restaurants und Cafés, die mit ihren bunt gepinselten Schildern an vergangene Zeiten erinnern. 

Tango auf Papier
Da passt es auch umso besser, dass wie heute immer sonntags ein riesiger Flohmarkt auf dem Marktplatz stattfindet und auch alle anderen Straßen von Kitsch- bis Kunstverkäufern gesäumt sind. Ob nun einen mate (Behälter für den mate-Tee, ultramoderne Jungdesigner-Entwürfe, tanzende Tangopaare auf Büttenpapier oder einfach nur schreckliche Mitbringsel – hier findet der suchende Tourist und wahrscheinlich auch der gemeine Argentinier alles, was das kaufwütige Herz begehrt. Unter das Gefeilsche, das Gemurmel und Geschrei in den Gassen mischen sich schnelle Beats, eine Straßenecke weiter stellt eine Ska-Band ihr Bestes preis. Da wippen meine Füße gleich wieder mit, aber der Muskelkater vom Tanzmarathon hindert mich daran, es dem etwa zehnjährigen Mädchen gleichzutun, das vor der Musikertruppe eine ausgefeilte und von Ausdauer geprägte Darbietung ihrer Ska-Tanzkünste liefert.

Städtischer Ska in San Telmo
Wir lassen uns vom Strom der Menschen weitertreiben, bis wir Hunger verspüren und eine Pizzeria aufsuchen, der Einfluss der Italiener auf das Essen hier ist nicht gerade gering. Auch wenn die Pizza Ewigkeiten auf sich warten lässt, sie schmeckt und füllt den Magen fast zum Zerbersten voll. Draußen scheint die schwere Nachmittagssonne, wir flüchten uns in den überdachten Markt von San Telmo, der von hunderten Antiquitätengeschäften, aber auch Obstständen bevölkert ist. Wieder draußen dringen sanfte Tangoklänge in mein Ohr, direkt neben dem Flohmarkt tanzt ein Pärchen, das wahrscheinlich schon seit einem halben Jahrhundert dort wochenends tanzt. Mit einer faltigen Anmut bewegen sich die beiden Tänzer über das improvisierte Tanzparkett, darunter befindet sich gemeingefährliches Kopfsteinpflaster. Wir stehen und schauen, während unser Eis in der Hand in der Sonne dahinschmilzt. Ein paar Schritte weiter ragt die zitronengelbe Kirche von San Telmo mit gleich zwei Türmen in den Himmel. Die Außenfassade wirkt pompös, im Innern empfängt uns ein gedämpftes Weiß und eine angenehme Kirchenstille, eine kurze Pause vom ganzen Großstadtwochenendtrubel. Ein Haus weiter bietet sich eine ganz andere Aussicht: Hinter hohen Zäunen verwittert ein riesiges Gebäude, das Künstlern als Leinwand für ihre Graffitis und Kunstwerke dient. So langsam machen wir uns auf den Rückweg, ich mit einem mate und Steffi mit neuen Ohrringen in der Tasche, wir steigen in den Bus und warten dann eine halbe Stunde an der Haltestelle Retiro darauf, dass die S-Bahn herangeschlichen kommt. Wir steigen nicht in Martínez aus, sondern fahren zwei Stationen weiter, um die Kathedrale von San Isidrio in Augenschein zu nehmen. Vor ihr ein kleiner Park, die Verkaufsstände werden so langsam abgebaut und uns führt ein kleiner abendlicher Spaziergang zurück zu Onkel und Tante.

Am nächsten Morgen bin ich alleine im Haus, der Rest ist ausgeflogen, entweder zur Arbeit, zur Schule oder zu einer Prüfung. Da ich nicht alleine vor die Tür soll, weshalb auch immer, verbringe ich den Vormittag ganz ohne Fernsehen und Rumgezicke. Gegen 10 Uhr kommt Sandra, um das Haus zu putzen, das Mittagessen vorzubereiten und ich weiß gar nicht so recht, wie ich mich ihr gegenüber verhalten soll. Gegen frühen Nachmittag mache ich mich auf den Weg ins Zentrum und treffe mich dort mit Steffi, die eine Prüfung in der kolumbianischen Botschaft schreiben musste. Gemeinsam laufen wir durch das aufgewühlte microcentro, die enge Fußgängerzone ist stark belaufen, überall wird der Tausch von Dollar in argentinische Pesos angeboten, schwarz versteht sich. Vor der Citibank wird Tango in Frack und hautengem Kleid getanzt. Ansonsten fühlt es sich wie jede europäische Großstadt an, bekannte Marken haben hier genauso ihre Geschäfte wie in Paris, an das mich Buenos Aires tatsächlich stark erinnert, aufgrund der Architektur, der Geschäftigkeit und der Vielfalt. Nur ist die argentinische Variante deutlich schmutziger, da lässt man mal eben den Müll einfach fallen, auch wenn der Mülleimer einen Meter weiter steht. Plötzlich stehen wir auf dem Plaza de Mayo, dem wohl politischsten Ort in der Hauptstadt, hier wird nicht nur den Opfern des Krieges um die Falklandinseln gedacht, sondern auch den Tausenden von Verschleppten und Ermordeten unter Videla. Auf den Boden sind weiße Kopftücher gemalt, das Symbol für die Madres de Plaza de Mayo, die Mütter, die hier noch immer jeden Donnerstag gegen das Verschwindenlassen und für die Menschenrechte protestieren. Direkt hinter diesem historischen Platz befindet sich das Casa Rosada, der Präsidentenpalast.
Gemalte Kopftücher auf der Plaza de Mayo

Auf dem Weg nach Hause steigen wir in Belgrano aus, wo wir vorbei an einem Drachen und durch ein haushohes Tor hindurch in das Chinatown von Buenos Aires gelangen. Zwei Straßenzüge voll chinesischer Schriftzeichen, kleiner Asia-Märkte, fremder Gerüche. Nur leider ist es schon ein wenig spät und das geschäftige Treiben findet wahrscheinlich andernorts statt. In einem nahegelegenen Park gehen die blauen Lichter in einem kleinen Pavillon an und wieder schwappt warme Tango-Musik zu uns herüber. Wir könnten eine Tango-Stunde nehmen, ich bevorzuge aber das Zuschauen.

Tanze Tango mit mir…
Ein neuer Morgen, ein neues Ziel: das Mamba, das Museum für Moderne Kunst. Klein aber fein kommt es daher. In einem Raum befindet sich die Lichtinstallation der argentinischen Künstlerin Karina Peisajovich: El aire tomará esta forma („Die Luft wird diese Form annehmen“). Es ist stockdunkel, die Augen sind unfähig auch nur die kleinste Kontur wahrzunehmen, vorsichtig ins Nichts hineintastend stolpere ich in die Dunkelheit. Am anderen Ende des Raumes gibt es eine Lichtquelle, eine Reihe von schwacher Glühbirnen, deren Licht sich farblich langsam verändert. Nach einer gefühlten Ewigkeit tauchen plötzlich Umrisse aus der Dunkelheit hervor, die tölpelhafte Unsicherheit weicht von mir und sicheren Schrittes laufe ich durch den Raum. Draußen dagegen scheint die Frühlingssonne auf den kleinen Yachthafen im Viertel Porto Madero. Kräne ragen in die Höhe und die Brücke Puente de la Mujer über das Wasser. In piekfeinen Restaurants ließe sich hier feinstes argentinisches Rinderfleisch verspeisen, wenn man denn Fleisch äße und auch einiges an Scheinen in seinem Portemonnaie hätte. Stattdessen spazieren wir am Ufer entlang und sind froh, dem städtischen Smog eine Weile entfliehen zu können.

Frau vor der Frauenbrücke

Am Mittwochvormittag steigen wir in die S-Bahn, allerdings in die dem Zentrum entgegengesetzte Richtung: nach Tigre. Die Stadt, die ihren Namen einem Tiger verdankt, klebt quasi fast an Buenos Aires, hat aber rein gar nichts mit dem großstädtischen Treiben gemeinsam, höchstens die vielen Menschen mit ihren mate-Behältern. Nach einigen Irrungen und Wirrungen finden wir den Puerto de Frutos, den Obsthafen, doch hier werden schon lange keine Obstwaren mehr feilgeboten, vielmehr ist es ein touristisches Viertel mit vielen kleinen Geschäften geworden. Geschäfte in einem Hafen, durchzogen von kleinen Becken, in die das Wasser eines Arms des Flusses Río de la Plata schwappt. Die andere Uferseite sieht aus, wie aus dem Amazonas-Gebiet geklaut. Auf Grund gelaufene Schlepper, Holzhütten auf Stelzen und irgendwie wild. Wir ziehen im großen Bogen am Wasser entlang, kommen an unzähligen Rudervereinen vorbei, deren Sitze an den Reichtum vergangener Tage erinnern. Die fast schon salzige Luft weht uns die Sonne ins Gesicht, mit einem frisch gepressten Saft machen wir einen ausgedehnten Spaziergang hin zum Kunstmuseum der Stadt, was vormals ein Casino war. Die Werke im Innern sind nicht gerade berauschend, aber der ausladende Balkon bietet einen wunderschönen Ausblick auf die Umgebung.

So fährt man hier Taxi
Eigentlich wollten wir früh aufstehen, das hat auch einigermaßen geklappt, dennoch schaffen wir es nicht pünktlich ins Zentrum zur Friedhofsführung, die ich gerne mitgenommen habe, aber es gibt halt Menschen, die eine halbe Ewigkeit im Bad benötigen und auch, um endlich loszukommen. Wir kommen also zu spät, aber der Friedhof La Recoleta ist auch ohne Führung magisch.

Gut verwahrt
Die Mausoleen drängen sich dicht an dicht wie winzige Reihenhäuser, und doch sind sie alle ganz unterschiedlich. Viele stammen noch aus dem 19. Jahrhundert, nur wenig neue Mausoleen stehen hier. Oftmals sind die Scheiben eingeschlagen, die Türen jedoch mit schweren Schlössern verhangen, als ob man den Toten im Untergrund den Weg ins Hier und Jetzt versperren müsste. In den Gräberalleen finden sich Namen, die auch überall in Argentinien die Straßen schmücken: Präsidenten, Wissenschaftler, Schauspieler, usw.. Einige Gräber sind mit Plastikblumen versehen, wie das von Eva Perón, auch bekannt unter dem Namen Evita. Mir schießt die Frage durch den Kopf, weshalb dem Tod eigentlich Häuser gebaut werden, in denen es vor allem hinab in die Tiefe geht, nur wenige der Särge befinden sich überirdisch, Wendeltreppen führen Hinab, ins Jenseits? Langsam rollt Berta heran, der Sturm Berta, der seit zwei Tagen die argentinischen Nachrichten beherrscht. Der Himmel zieht sich zu und die ersten Tropfen fallen vom Himmel. Wir flüchten uns in ein Café, bevor wir uns mit einem Regenschirm bewaffnet in die Fluten stürzen, hin zur Bushaltestelle. Die Stadt steht Kopf und das Himmelswasser überspült Straßen und Gehwege. Und Berta belässt es nicht beim Donnerstag, den Freitag über regnet und regnet es, ich würde ja rausgehen, aber…

Auch wenn ich nicht ganz so viel von der argentinischen Hauptstadt gesehen habe, wie ich eigentlich wollte, eine Woche raus aus der Kleinstadt, die Concepción doch irgendwie ist, rein in eine andere Welt, dafür hat es sich gelohnt. Und dann passiert noch etwas: In Argentinien selbst habe ich eigentlich keinen Argentinier kennen gelernt, da ich ja bei einer kolumbianischen Familie war. Im Bus von Santiago de Chile nach Concepción sitzt neben mir ein Argentinier aus La Plata, mit dem ich mich lang und breit über sein Heimatland und die Gewohnheiten dort unterhalte. Er zeichnet ein weniger klischeehaftes Bild, als das es sich mir in Buenos Aires selbst ergeben hat.