Eine Stadt versinkt im Chaos oder
Besuch aus bekannten Gefilden
Vier Tage lang. Vier ganze Tage. Die Stadt im Chaos. Das absolute Chaos.
Zunächst begann alles am Montagmorgen. Das morgendliche Hupen vor meinem Fenster war lauter als sonst, stärker, irgendwie auch wütender. Auf meinem Weg zur Uni war dann auch irgendetwas anders. Seltsam. Irgendwas fehlte. Irgendwann fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Die Busse fehlten im Straßenbild, einfach ausradiert. Dafür viele verzweifelte Gesichter, hineingemalt. Ein entzückendes Bild, zumindest für mich, wenn man nicht pünktlich zur Arbeit erscheinen muss und vom öffentlichen Nahverkehr abhängig ist, sondern sich seine Zeit eh schon immer so legt, dass man gemütlich zu Fuß das Ziel erlaufen kann…
Da fehlten sie also, die Busse. Da es nicht gerade eine Kleinstadt ist, kann man sich das Chaos wohl ausmalen. Zwar funktioniert der heißgeliebte Transmilenio noch, aber das Streckennetz ist lange nicht so ausgebaut, dass jeder diesen auch nutzen kann. Wenn mehr als 20.000 Busse ihren Dienst nicht antreten, dann macht sich das bemerkbar. In Deutschland würden die meisten sagen, dann eben Auto. Hier ist das ganze nicht so leicht. Hier gibt es nämlich Beschränkungen. „Pico y placa“. An jedem Wochentag dürfen nur bestimmte Kennzeichen genutzt werden. Eben um ein Verkehrschaos zu verhindern.
Die Busse fehlen also. Am Wochenanfang waren die meisten noch aufgeschmissen. Konsequenzen waren geschlossene Geschäfte, Banken waren nicht geöffnet, Vorlesungen sind ausgefallen, selbst das Sportzentrum hatte geschlossen. Einige haben todesmutig ihr Fahrrad aus dem Verschlag gekramt und der Umwelt etwas Gutes getan (während der ganzen Woche hat sich hier die Luftverschmutzung um zweiundzwanzig Prozent gesenkt), andere sind eben einfach zu Hause geblieben.
Am Dienstag wurden die Bilder abstruser. Schon fast ein wenig zum Lachen. Da gab es Kleinlastwagen, auf deren Ladefläche sich Menschen drängten. Menschen unterschiedlichster Herkunft. Man muss schon schmunzeln, wenn man einen Banker im Anzug, mit Aktentasche auf „eingezäunt“ wie Vieh auf der Ladefläche inmitten von Krankenschwestern, Lehrer und ganz vielen anderen Menschen stehen sieht. Da springt man dann eben ab während der Fahrt, wenn man meint seinem Ziel nah zu sein, denn eine Klingel wie im Bus, die gibt es diesmal nicht. Und es werden immer mehr. Zwischen Orangen- und Kartoffelsäcken. Mütter mit Kleinstkindern auf dem Arm, Bauarbeiter in ihren grell orangefarbenen Anzügen, Nonnen in ihren gestärkten und faltenfreien Trachten, Menschen, die von A nach B wollen… Überfüllte Taxis, überall ist es gelb. Gelbe Knutschkugeln. Die Taxifahrer dürften wohl stark vom Streik profitieren.
Apropos Streik, damit nicht ganz untergeht, weshalb die Stadt in ihrem Verkehrsproblem untergeht: Es soll ein neues System eingeführt werden, ähnlich dem des Transmilenios. Das bedeutet Automaten, Fahrkarten, Haltestellen. Nur ist nicht klar, wer für die Kosten aufkommen soll, außerdem werden dadurch einige kleinere Busunternehmen verschwinden. Da geht man dann eben auch hier mal auf die Straße. Oder eben nicht. Die Busse, die nicht fahren, müssen von Polizei und Militär bewacht werden. Die arbeitende Bevölkerung sieht nämlich nicht ein unter dem Streik zu leiden.
Am Mittwoch erbarmt sich der Bürgermeister dann und gibt für einige „pico y placa“ auf, Taxis dürfen als öffentliche Verkehrsmittel agieren und es soll nur so an Bußgeldern hageln für die Busunternehmen, die nicht fahren. Und doch, helfen tut das alles nur sehr wenig. Die Räder rollen weiterhin nur sehr langsam und die der Busse eben gar nicht. Dafür stehen die Menschen Schlange um sich in den sonst schon überfüllten Transmilenio zu schubsen und zu drängen. Es ist ein Theaterstück, das ganze vier Tage andauert. Wenn man nicht direkt betroffen ist, ist es wirklich lustig anzuschauen. Eine Parodie des verkorksten Transportsystems. Die Straßen sind überfüllt, Staus über Staus, fluchende Menschen, leere geschlossene Geschäfte, Mails von Dozenten, dass die Vorlesungen weiterhin ausfallen, aus Sicherheitsgründen geschlossene Schulen. Das pure Chaos. Großstadtchaos.
Am Freitag dann allgemeines Aufatmen. Die Räder rollen wieder an. Aber die Drohung weiterer Streiks schwebt in der Luft. Das war erst der Anfang. Mal sehen, was noch kommt.
Und dann war da noch etwas. Besuch. Aus Deutschland. Nun ja, nicht direkt. Eher aus Medellin. Zwei Kommilitoninnen, die ihr Auslandssemester in Medellin verbringen, sind übers Wochenende in die Hauptstadt gekommen. Denn auch die beiden wollen länger bleiben und müssen sich um ihr Visum kümmern. In den Tagen des Chaos ein toller Spaß.
Der Freitagnachmittag. Von ungewohnter Reinheit geschwängerte Luft, Sommersonne und angenehme Temperaturen. Da bekommt man sogar richtig Lust ein Eis zu essen… Hmmm… Brombeersorbet auf Mandeleis in frischer Waffel. Wunderbar, um diesen Tag zu genießen. Die Stadt ist fröhlich, in vielen Gesichtern lässt sich ein Lächeln entziffern. Selbst als ich beim Warten auf einen Freund von einem kleinen Jungen angegrinst werde, funkeln auch meine Augen vor angenehmer Wärme. Noch. Bis der dann seine Hose öffnet und ganz ungeniert gegen den Mülleimer pinkelt, der etwa einen Meter neben mir steht. Erst will ich es nicht glauben und als dann auch noch die augenscheinliche Großmutter neben ihm auftaucht und ihm wohl gesonnen zunickt, falle ich fast vom Glauben ab. Aber öffentliche Toiletten, die gibt es hier nicht, wird mir da bewusst. Oder sie verstecken sich zu gut. Das Warten ist zwar vergeblich, manchmal kommen die Kolumbianer eben gar nicht. Aber das hat meiner guten Laune nichts an. Dann spaziere ich eben allein ein wenig durch den Park, genieße die Sonne, setze mich auf eine Bank, hole meinen Zeichenblock hervor und skizziere den Herrn Santander, der übersät von Tauben und ihren Hinterlassenschaften ist (auch hier werden diese unhübschen Tiere als „Ratten der Lüfte“ bezeichnet und wenn ich den Kolumbianern erzähle, dass in der Tiefkühltruhe meiner Eltern ein paar Täubchen auf ihren Verzehr warten, schauen sie mich nur verdattert an), ein Pärchen gesellt sich auf die Parkbank und erhascht ein paar Blicke auf meine Zeichnung.
Dann ein Wiedersehen. Nach mehr als einem halben Jahr. Zwei Deutsche. Und es ist seltsam. Mit dem Schreiben klappt es ja noch einigermaßen. Aber das Reden. Das kostet ungewohnte Mühen. Mir fehlen die Worte. Die deutschen. Andauernd schleichen sich spanische Bruchstücke in meine Sätze. Bis ich irgendwann aufgebe und eben doch nur Spanisch rede. Man versteht mich ja auch so. Ein angenehmer Nachmittag, der in den Abendstunden bei Kaffee endet…
Und Regen. So ist es eben. In Bogotá. Está lloviznando…
Also kein wirklicher Regen, sondern diese fisselige Feuchtigkeit, die fast nicht in Tropfenform vom Himmel sinkt, sondern sich eher wie ein grauer Schleier von Feuchtigkeit um einen legt. Und trotzdem sind die Menschen unterwegs. Dann werden eben an den Straßenecken anstatt Fächer und Sonnenbrillen Regenschirme angepriesen (natürlich gibt es weiterhin „llamadas, llamadas, llamadas“). Und das Angenehme dieses Abends ist, dass freitags die Septima, eine der Hauptstraßen, vom Zentrum aus bis etwa zu dem Stadtviertel, in dem ich wohne, für alles, was Räder und Motor hat gesperrt wird. Ab fünf Uhr nachmittags gibt es hier Straßenkünstler, die ihrem Namen alle Ehre machen. Kunst auf der Straße und zwar auf einer, der meist befahrensten. Da versucht sich ein junger Kerl im Hiphop, direkt daneben legt ein älterer Herr einen beachtlichen Tango aufs Parkett… Man kann Wetten abschließen, Meerschweinchenrennen, es wird gegrillt, was hier eben so auf den Grill kommt: Maiskolben, Fleischspieße, arepas… Straßenverkäufer preisen ihren Schmuck an oder auch Filme (Piraterie natürlich), Zigaretten, Süßigkeiten, überall ist Leben. Am Straßenrand entdecke ich meinen persönlichen Höhepunkt des Abends. Ein Pärchen, ein wenig punkig, abgewetzte Kleidung, Dreadlocks, sie machen Musik. Aber nicht einfach so mit Gitarre und Gesang. Nein. Da dient einer dieser großen Wartezimmer-Wasserspender-Behälter als Trommel, ein Staubsauger-Rohr als Blasinstrument, ein gusseisernes Abflussrohr als Triangel und verrauchte Stimmen geben dem ganzen einen gewissen Charme.
So langsam taut das Chaos ab, das Wochenende hat deutlich zur Entspannung beigetragen, vielleicht auch ein wenig in den Köpfen der Menschen hier…
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