Montag, 24. August 2009

Cancancia

Müdigkeit

Die Woche beginnt mit einer übermüdeten Rückfahrt und endet mit einem ermatteten Sonntagabend im Bett, Tür zu, niemanden mehr hören, niemanden mehr sehen. Das erste Mal fühle ich mich richtig müde, eine unglaubliche innere Müdigkeit, am liebsten würde ich mich verkriechen in eine Höhle, mit niemandem reden müssen, nichts hören außer meinen Gedanken. Nachdenken können ohne unterbrochen zu werden, grübeln über alles und nichts, schreiben und dann wieder mit neuer Energie in den Tag starten.
Vielleicht war auch alles nur etwas zu viel, viel Schönes und viel Neues, aber manches ist noch nicht ganz verarbeitet und es geht mir vieles durch den Kopf.

Eine eMail, Besuch, und plötzlich muss man Freunde durch die Stadt führen, in der man seit einem Monat lebt, seltsam, dieses Gefühl, man ist angekommen, sieht die Stadt zugleich wieder wie in den ersten Tagen, mit anderen Augen. Alles ist wieder bunt und neu, die Tauben auf dem Plaza Simón Bolívar werden aufgescheucht, fliegen dem Himmel entgegen und suchen sich wieder ihre Unterschlüpfe. Die Straßen, Pflastersteine, Autos, Menschen, Verkehrschaos, Altstadtflair in einem kleinen Café mit vier Tischen, einem tinto, Gespräche über Reisen, über die Heimat, über Unterschiede, alte dunkle Holzstühle, die wackeln, moderne Kunst an den Wänden, der Duft des Kaffees, die Stille, die plötzlich einkehrt, keine Musik, kaum Geräusche, die von draußen hereindringen. Und dann, Aufbruch, durch die Straßen, Menschen, auf ins alternative Viertel El Chorro, die erste spanische Kolonialkirche Bogotás sehen, Einradfahrer, Armbändchenverkäufer und ein Aguila, sich setzen, beobachten, die Sonne genießen, solange sie da ist, Gitarrengeklimper, gebrochenes Deutsch von der Seite, ein Hauch Süße von Marihuana liegt in der Luft und wir machen uns auf. Kurz ins Hostel, dann Richtung Transmilenio, auf dem Weg arepas und empanadas mit einer pikanten Soße, und dann hinein in den Bus, eingequetscht werden, sich etwas zum Festhalten suchen und nach etwa zwanzig Minuten sich den Weg nach draußen erkämpfen, manchmal führt an ein wenig Gewalt kein Weg dran vorbei. Wir treffen Luz, fragen und suchen, wir wollen ins Hardrock Cafe, ein Konzert, kostenlos. Nach einigen Umwegen finden wir es , setzen uns und man fühlt sich wie in fast jedem anderen Hardrock Cafe, Bedienung in kurzen schwarzen Röcken, Anstecker am Kragen, Turnschuhe und Tennissocken, Gitarren an den Wänden von Shakira, Gwen Stefani, eine kleine Flasche Rum, die wir teilen, eine kolumbianische Band mit blonder Frontfrau, Laura, schöne Stimme, leichte Musik, ein schöner Abend der mit viel Gelächter endet und damit, dass ich meinen Schuh mitten auf der autopista verliere, den ich aber gerade so, kurz bevor das Taxi auf mich zurast, retten kann. Der Transmilenio bringt mich sicher nach Hause.
Ein Weckerklingeln reißt mich aus den seltsamen Träumen dieser sehr kurzen Nacht, früh morgens stehe ich auf, trinke meinen guten kolumbianischen Kaffee, und stürze mich erneut in den Uni-Alltag, doch so ganz alltäglich ist dieser Mittwoch nicht. Er ist anders, das erste Mal kriege ich es nicht hin, eine Zusammenfassung über eine naturwissenschaftliche Dokumentation, mir fehlen Vokabeln, kein fachtextliches Wörterbuch ist zur Hand und dann sagt mir der Professor, dass ich doch überlegen sollte, den Kurs zu kippen. Er sei nun mal für Muttersprachler, ich weiß, dass es schwieriger für mich ist, aber ich würde es gerne versuchen und da wäre eine helfende Hand besser als ein Schlag ins Gesicht. Ich rede also mit dem Professor, und weiteren Personen, Kurse zu tauschen ist jetzt nicht mehr möglich, es ist mir angeraten worden, den Kurs aufzugeben, aber ich versuch es weiterhin, ich muss schließlich auch eine Mindestanzahl an Stunden absolvieren. Dann der letzte Kurs für diesen Tag, an dem das erste parcial angekündigt wird in der folgenden Woche, hier werden über das Semester verteilt mehrere Prüfungen geschrieben, deren Ergebnisse alle in die Endnote einfließen. 150 Seiten, die es zu lesen gilt, viel Palaver, viele Informationen, zu viel, um alles im Kopf zu behalten. Ein gemeinsames Mittagessen mit Manuel und zwei Reisenden aus dem Hostel, Pizza, die wirklich nach Pizza schmeckt auch wenn es sich um kolumbianischen Käse handelt. Durch die Straßen schlendern, in die Andy Warhol-Ausstellung, vor allem die kleinen Polaroids sind interessant, seine Selbstporträts und sein Werk, das auf der Erschießung Kennedys beruht, die anderen Dinge hat man größtenteils schon gesehen, Marilyn Monroe, Mao Zedong, etc. Das Kunstmuseum ist riesig, weitere Ausstellungen, Bilder von Monet, Picasso, Chagall, in seltsamer Zusammenstellung, eine Botero-Ausstellungen: überdimensionale Gemälde, die überdimensionale Menschen darstellen, viele Eindrücke, die auf einen einprasseln. Ich benötige eine Pause, gebe mich geschlagen, mache mich auf den Weg nach Hause, ruhe mich kurz aus und dann geht es weiter, eigentlich nur, um etwas mit Manuel, Luz und Danilo – Beziehung, Affäre, man weiß es nicht – zu trinken, ein Bierchen, aus dem schnell zwei werden. Es wird gelacht, geredet, philosophiert, und der Entschluss gefasst Salsa tanzen zu gehen. Plötzlich sind wir die letzten in der Kneipe, wir werden wortwörtlich hinausgefegt, in die bogotanische Nacht, mitten in der Woche, es ist nicht viel los, der Hunger überkommt uns, es gibt perros calientes (Hotdogs), für mich als Vegetarierin Hotdog ohne heißen Hund, also Brot mit Zwiebeln und Soße, aber egal. Ein kleiner Salsa-club hat geöffnet, wir stürmen die Tanzfläche und machen die Nacht zum Tag. Irgendwann trennen sich unsere Wege, das Taxi ist nachts doch recht teuer, dennoch: Das Taxi bringt mich sicher nach Hause.
Kein Weckerklingeln, sondern das Klingeln des Telefons weckt mich am nächsten Morgen. Einkäufe erledigen, Wäsche waschen, putzen und lesen, lesen, lesen, Notizen machen und hoffen, dass etwas hängen bleibt. Schauen, was im Kino läuft, es nicht viel hier, die meisten Filme sind auf Englisch und mit Spanisch untertitelt, denn sonst dauert es Ewigkeiten bis ein Film hier synchronisiert in die Kinos kommt, bestes Beispiel: Auf der anderen Seite ist hier gerad ganz neu. Lange müssen wir nicht überlegen, wir sehen uns einen kolumbianischen Film an La pasión de Gabriel, ein Pfarrer, der sich mit allen möglichen Bevölkerungsgruppen anlegt, sei es das Dorf, die Guerilla, die Kirche, realitätsnah, eindrucksvoll, manchmal Verständnisschwierigkeiten. Danach ein Bier und weitere Gespräche. Um dann den letzten Transmilenio in Richtung Bett zu nehmen.
Frühes Aufstehen an einem Freitag, normaler ist das nicht, aber ich muss lesen. Also wird gelesen. Unterricht, mehr Verwirrung, was die anstehende Prüfung betrifft und die Lust alles hinzuschmeißen begleiten mich durch den Vormittag. Um einen klaren Kopf zu bekommen, laufe ich, laufe durch den Regen und bin auf einmal glücklich, durch den Regen, den angenehmen Regen zu laufen, lache den Menschen ins Gesicht, das ein oder andere Lächeln entspringt diesen fremden Gesichtern und trägt zu meiner Glücklichkeit bei. Ich habe Brot gefunden, dunkles, etwas hartes Schwarzbrot, nicht schlecht, nicht wirklich von guter deutscher Qualität, aber um so vieles besser als das, was sich hier Brot schimpft. Eigentlich bin ich verabredet, abends, indigene Musik, ich fühle mich aber als sei ich um Jahre gealtert und bin schon dabei abzusagen, als Luz mir einredet doch mitzukommen…
Masken, Flötenmusik und eine Band mit Schlagzeug und E-Gitarre aber auch volkstümliche Musikinstrumente erwarten uns. Es wird Guayusa serviert, Tee aus verschiedenen Kräutern mit aguardiente, mich stimmt er ruhig, ein wenig traurig, aber nur, bis wir zum Tanzen aufgefordert werden. Eine seltsame Art zu tanzen, man tanzt zwar in Paaren, aber man berührt sich nicht, es werden Vögel in ihrem Balzverhalten imitiert, schnelle verrückte Schrittfolgen, die etwas auslösen, eine Art Befreiung, ein wenig wie in Trance, in eine andere Welt eintauchen, aus sich herausgehen. Eine schöne Wendung, von dem Gefühl des Erschlagensseins zu einer anderen Art und Weise sich auszudrücken. Und ein wenig wie in Watte gepackt laufen wir durch die Nacht. Auf der Suche nach einem Bus, wir müssen warten, warten, warten, dann taucht in der Ferne einer der Busse auf, die in unser Viertel fahren. Wir winken, hat ein wenig was von Vögeln unsere Bewegung, steigen ein, lassen uns fallen. Der Bus bringt uns sicher nach Hause.
Bildung am nächsten Tag auf der kolumbianischen Buchmesse. Unglaublich viele Menschen, viele Familien mit Kindern, auch wir sind mit einem Jungen unterwegs, ein Freund von Luz ist Vater eines dreijährigen Kindes, Bücher, Bücher und noch mehr Bücher. Hier herrscht Chaos, zumindest meiner Meinung nach, eine wirkliche Ordnung kann ich nicht erkennen, weder auf dem Gelände, noch in den Pavillons. Und im Hinterkopf tauchen immer wieder die ganzen Seiten auf, die es noch zu lesen gilt. Wir schauen uns jedoch jeden einzelnen Pavillon an, drehen uns im Kreis, andauernd, essen zu Mittag. Man bekommt Plastikbesteck und Plastikhandschuhe gereicht, an unserem Tisch werden die Handschuhe gewählt. Seltsam zu sehen, wie man damit isst, wenn die erste Idee bei deren Anblick die von Haarfärbehandschuhen ist. Das erste Mal, dass mir das Essen nicht schmeckt. Aber das liegt wohl auch am generellen Unmut dieses Tages. Als das Ende in Sicht ist, wird mir verkündet, dass wir noch Luz’ Mutter einen Besuch abstatten müssen, sodass es schon dunkel ist, als ich mich daran machen kann zu lesen und zu lernen, aber die Lust dazu fehlt an diesem Abend gänzlich.
Unausgeglichen, mit nicht allzu guter Laune stehe ich auf, packe meine Schwimmsachen, denn heute geht es in ein Thermalbad nach Tabio, ein kleines Dorf, etwa eine Stunden Busfahrt entfernt. Ein Bad im Freien, grünes Wasser und blaue Badehauben überall. Die sind hier Pflicht, in fast jedem Schwimmbad. Auch das Tragen adäquater Badekleidung ist Pflicht, was man hier allerdings zu sehen bekommt, fraglich, ob BH, T-Shirt und Shorts den Voraussetzungen entsprechen. Geschweige denn von den neongelben Badeanzügen stark übergewichtiger Damen, die diese mit grasgrünen netzstrumpfhosenartigen Röcken zu verschönern versuchen. Das Wetter ist stabil, das Wasser warm, es kommt direkt aus dem Boden. An manchen Stellen ist der Boden so heiß, dass man Angst haben muss sich zu verbrennen. Aber angenehm, Wasser, seine Bahnen kann man hier zwar nicht ziehen, aber es reicht auch schon, sich einfach voll saugen zu lassen, sich treiben, genießen und alles Schlechte dieser Woche hinter sich zu lassen.

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