Schon eine Woche in meiner neuen Heimat und noch immer gibt es tausende von neuen Dingen zu entdecken…
Die erste Busfahrt mit einem „normalen“ Bus und nicht mit dem Transmilenio. Das Prinzip ist einfach: richtigen Bus erspähen – ob man wirklich richtig wählt, sieht man an dem Schild hinter der Frontscheibe – hoffen, dass man auf der richtigen Straßenseite steht, um sein Leben winken, der Bus hält an, man steigt ein, durch das Drehkreuz – wie in einem Lebensmittelgeschäft – bezahlt die 1100 Pesos und setzt sich auf alte durchgesessene Sitzbänke, man wäre froh über Sicherheitsgurte, denn der Fahrstil, darüber verliert man lieber kein Wort. Dafür kommt man aus dem Staunen nicht mehr raus, die Stadt verändert sich von Straße zu Straße, wir fahren durch Viertel, in denen man lieber nicht aussteigen sollte, vorbei an Krankenhäusern, riesigen Einkaufsmalls, Autohäusern – BMW Autogermana, Mitsubishi, usw. – dann wieder in ärmere Viertel, wo Pferde auf der Straße rumlaufen, Kinder am Straßenrand spielen, und um die nächste Ecke, dann ist man auch schon auf einer riesigen vierspurigen Straße, unglaublich hohe Gebäude, Glasfassaden neben einer winzigen gelbgestrichenen Finka. Mit einem Fingerschnipsen kann sich alles ändern. Man steht auf, versucht heile an der hinteren Tür anzukommen, klingelt, hofft, dass der Fahrer einen gehört hat, man wagt es nicht ein zweites Mal zu klingeln, denn dann hält er erst recht nicht, quietschende Reifen, der Bus hält kurz, man springt raus und schon fährt der Bus wieder an, wenn er überhaupt richtig angehalten hat.
Genauso wie die Stadt sich innerhalb weniger Minuten verändern kann, verhält es sich auch mit dem Wetter. Im einen Moment strahlt die Sonne, im nächsten regnet es winzige fisselige Tröpfchen, dann stürmt es auch schon, die Sonne knallt einem wieder auf den Kopf. Es gibt hier zwar keine Jahreszeiten, aber an einem Tag kann man fast alle durchleben.
Aber die Stadt und das Leben hier verändert auch mich, noch zögere ich bei rot über die Straße zu gehen, noch bin ich pünktlich am Treffpunkt, noch warte ich eine halbe Ewigkeit beim Überqueren der Straße, noch muss ich mir jeden Tag etwas neues zum Anziehen rauslegen, noch ziehe ich meine Schuhe aus beim Betreten einer Wohnung. Wenn ich jedoch mich ein wenig anpassen will, dann wird sich das ändern, aber nicht alles, hoffe ich.
Selbst ins Kino gehen ist hier anders, die meisten Kinos befinden sich in einer der Einkaufsmalls, meist in den reicheren Gegenden, wo, sobald es dunkel ist, und das ist es hier recht schnell, überall noch mehr los ist als bei Tageslicht, viel mehr bunte Lichter, Gelächter aus den Bars und Restaurants, Sicherheitskräfte in Blau, Polizei in Grün, Hunde, Jungs, die in Gruppen den Weg versperren. Wir warten vor dem Kino auf unsere Verabredung, warten und warten, gehen, um uns die Zeit zu vertreiben in eine Art Spielgeschäft – in dem es von Videospielen, Simulatoren aber auch Massagesesseln nur so wimmelt – ich spiele das erste Mal in meinem Leben Air-Hockey und finde Gefallen daran. Dann warten wir weiter, kurz bevor der Film beginnt, ist auch unsere Verabredung da, mehr als eine halbe Stunde zu spät. Das Kino ist dem was ich kenne ähnlich, sehr europäisch, aber die Gewohnheiten sind andere, hier geht man sogar im Anzug oder in Arbeitskleidung ins Kino, selbst wenn es im Kittel einer Zahnarzthelferin ist, man kommt in den doch recht kleinen Kinosaal, der bereits dunkel ist, man bekommt seinen Platz mit der Taschenlampe vom Platzanweiser zugewiesen, noch laufen Filmvorschauen und man wundert sich, dass es so leer ist, an einem Donnerstagabend. Doch dann als der Film schon seit fünf Minuten läuft, füllt sich das Kino, Geraschel, Gespräche, Rufe, wildes Rumgefuchtel mit der Taschenlampe und schon hat man die nächsten fünf Minuten des Films nicht verstanden, dieses Phänomen kann man wohl auf die kolumbianische Pünktlichkeit schieben. Der Film heißt zwar „La propuesta“, (im deutschen heißt er "Selbst ist die Braut" und kommt erst im Herbst in die Kinos, aber sehr empfehlenswert, wenn man lachen will, ist keine Minute langweilig) ist aber auf Englisch und nur mit spanischen Untertitel versehen, die man eh nicht liest. Nach diesem Film kann man durchaus Bauchmuskelkater haben vom vielen Lachen, doch der Abspann wird abgehackt, die Musik geht aus, das Licht an, man verlässt das Kino ohne die letzten Minuten sitzen zu bleiben und wieder in der Realität anzukommen. Film aus, Realität an. Seltsam. Der letzte Transmilenio fährt abends um elf, den haben wir wohl verpasst, also entscheiden wir uns ein Taxi zu nehmen, aber unsere Verabredung hat sein Auto genommen, um uns den weiten Weg zu fahren. So läuft das hier.
Dann der erste Tag in meiner neuen Universität. Ich mag es kaum als Universität beschreiben, es ist viel, viel mehr als das, es ist quasi eine Insel, auf der alles möglich ist, alles vorhanden ist, alles machbar erscheint, aber einem auch viel abverlangt, zumindest wird es einem angekündigt.
Aber der Reihe nach, ich komme morgens um acht an, nachdem ich das erste Mal alleine in der morgendliche Fülle von Menschen den Transmilenio genutzt habe, um an der Endstation „Las Aguas“ auszusteigen, werde durch die Sicherheitsschranke gelotst, hin zu einem Raum, vor dem etwa vierzig ausländische Studenten warten, reden, lachen und gespannt darauf sind, was sie erwartet. Viele Franzosen unter ihnen, aber auch einige Deutsche, mit denen ich später ins Gespräch komme, sogar ein Kölner ist dabei, aber auch ein Düsseldorfer, der seltsamerweise FC-Fan ist… Begrüßung durch die Ausländerbeauftragte, sehr jung, genauso wie die Koordinatorin, eine Gruppe von kolumbianischen Studenten, die mit uns einiges unternehmen werden im Laufe des Semesters, ein erster Einblick in das, was uns erwartet. Der Direktor, der uns über die Sicherheitslage im Land, in der Stadt und in der Universität aufklärt, der Direktor und Arzt, der uns über die medizinische Lage aufklärt, wir sind sogar außerhalb der Uni versichert und können jederzeit einen Arzt rufen, der uns zu Hause besucht, wenn wir nicht in der Lage sind selbst zu kommen. Dann eine kurze Pause, in der ich andere Leute kennen lerne, viele sind zu zweit oder zu dritt hier, wenige wie ich ganz alleine, viele haben noch immer keine Wohnung und leben in Hostels, viele sind hier, um zu feiern, weniger um zu studieren, viele beherrschen das Spanische nicht unbedingt, aber werden es hier lernen, vor allem die Umgangssprache. Que vacano!
Nach der Pause geht es weiter mit dem Bildungssystem, Fehlzeiten sollte man sich hier so gut wie keine leisten, denn sonst besteht man den jeweiligen Kurs nicht, es gibt in jedem Kurs drei bis vier Prüfungen während des Semesters bevor es eine Endprüfung in der Prüfungszeit Ende November gibt, viele Hausarbeiten in Gruppen oder auch alleine, mündliche Prüfungen – und alles wird benotet, das bedeutet es wird viel zu tun sein. Noch kann ich es mir nicht vorstellen, vamos a ver…
Dann ein Rundgang über das Gelände, riesige Neubauten, alle nur zugänglich mit dem Studentenausweis, immer durch Schranken, die von Sicherheitspersonal bewacht werden, überall Farben, moderne Aufzüge, Grünflächen zum Ausruhen, die nicht zum Überqueren genutzt werden, sondern NUR, um sich auszuruhen, hunderte von Gebäuden und tausende von Treppenstufen. Und ganz oben, das Sportzentrum, vieles davon wird gerade erneuert, so wird es ab Oktober ein komplett neues Fitnessstudio, eine Schwimmhalle, einen Tennisplatz und vieles mehr geben. Momentan kann man Sportkurse belegen und dafür Creditpoints bekommen (auch wenn man kein Sport studiert), ein kleines Fitnessstudio, in dem man seine Freistunden verbringen kann und noch mehr grün, Palmen, eine ehemalige kleine Kirche, in der sich nun eine der vielen Bibliotheken befindet, eine kleineres Gebäude, das einer Finka ähnelt, alte Zugwaggons, in denen sich die Räume der Architektur- und Kunststudenten befinden, überall kleine Cafes mit Terrassen. Eine der Bibliotheken befindet sich im obersten Stockwerk, dort gibt es ebenfalls eine Terrasse mit Holzdielen, Palmen, von wo aus man über die ganze Stadt schauen kann. Überall Rückzugsmöglichkeiten, Oasen der Ruhe und Entspannung. Auch wenn man hier überwacht wird, ein Gefühl der Freiheit erwacht in einem, man ist berauscht von der Schönheit und vergisst beinahe, dass man zum Studieren da ist.
Der Nachmittag wird gefüllt mit einer kleinen Stadtführung (die ich schon letzten Samstag hatte), lässt viel Zeit für Gespräche, auch ein erstes in deutscher Sprache, das irgendwie nicht hierher passt, ich fühle mich ein wenig unwohl auf den Straßen in einer fremden Sprache zu kommunizieren, aber auch Gespräche auf Niederländisch, Englisch und auch Spanisch. Wir gehen durch das Regierungsviertel, sehen die Garde des Präsidenten marschieren, die eher den beiden hochgewachsenen blonden Schwedinnen unserer Gruppe hinterher schauen und grinsen als diszipliniert auf und ab zu marschieren, eine uniformierte Gruppe, die einen unbekannten Marsch spielt, Taschenkontrollen und wunderschönes Licht zum Fotografieren, nur leider habe ich meine Kamera nicht dabei.
Später dann löst sich die Gruppe auf, viele von ihnen werden sich am Abend treffen, um in die Disko zu gehen, ich dagegen werde mit meinen Mitbewohnerinnen das erste Mal in eine kolumbianische Kirche gehen, in der es jeden Freitag ein Konzert gibt, es sind zwar christliche Lieder, die dort gesungen werden, aber nicht so, wie man es in Deutschland gewohnt ist. Die Kirche sieht auch nicht gerade wie eine Kirche aus, mehr ein enorm großer Saal, mit einer Empore, einer Bühne, auf der Musik gemacht wird, Schlagzeug, Keyboard, Verstärker, Mikrofone, Backgroundsängerinnen, Tänzerinnen und Menschen, hunderte von Menschen, Familien, viele von ihnen zurechtgemacht, im Kleid und sie feiern, feiern aus tiefster Seele ihren Glauben, die Musik reißt sie von den Stühlen, sie tanzen, klatschen, und singen, die Texte werden auf eine große Leinwand übertragen, damit jeder mitsingen kann. Alle Lieder handeln von Gott, Jesus, dem Glauben. Es ist seltsam, wenn so viele Menschen die Arme emporreißen und sie Gott hinhalten. Zwischendurch Predigten, über Mikrofon, die die Menge mitreißen, ich verstehe nicht alles, aber es geht viel um Kolumbien, das Leid, das dieses Land durchgemacht hat, das Land, das so reich an Kultur ist, das Land, das es verdient hat in eine bessere Zukunft zu blicken, und wieder Musik, platzende Luftballons, Kindergeschrei, zwei Stunden, in denen ich Menschen ins Gesicht blicke und eine Ehrlichkeit sehe mit der sie singen, sich freuen, leben und sich Gott öffnen, dabei werde ich immer stiller, einsamer, denn ich kann an all dem nicht teilnehmen, das wäre nicht ich. Ich sehe gerne zu, sehe wie viele in dieser Gemeinschaft sich aufgehoben fühlen, freue mich für diese Menschen, aber es wird immer deutlicher für mich, dass ich in einer Glaubensgemeinschaft fehl am Platze bin. Bei der letzten Predigt wird der Pastor sehr emotional, für mich zu – ich kann es kaum anders beschreiben – fanatisch, die kolumbianische Flagge wird geschwenkt, die Liedtexte erscheinen auf dem Hintergrund der kolumbianischen Flagge und werden von la tierra, also die Erde, in Colombia uminterpretiert. Ich bin froh als es vorbei ist, werde dann aber noch dem Pastor vorgestellt, was ich eigentlich nicht will, aber er ist ein sehr warmer, herzlicher Mensch. Dieser Abend war einer der seltsamsten, die ich bis jetzt hier erlebt habe. Ich habe schon einige Gespräche hier über den Glauben und die Kirche geführt, einige sehr schöne und offene Gespräche. Ich werde nicht komisch angeschaut, wenn ich sage, dass ich Agnostikerin bin, mir wird der Glaube nicht aufgedrängt, es sind vielmehr Diskussionen über das, was man unter Glaube und Kirche versteht. Hier hat das einen anderen Stellenwert und daran muss ich mich gewöhnen. Aber ich bin dankbar dafür in die vielen unterschiedlichen Bereiche des Lebens eintauchen zu dürfen, einen Einblick davon zu gewinnen.
Hola Constanze,
AntwortenLöschenacabo de regresar de España y leo tus comentarios tan llenos de colores, olores, sentimientos, impresiones, me encantan y me hacen pensar que viajar y conocer el mundo es una de las oportunidades más fantásticas que tenemos, te deseo lo mejor y cuídate y disfrute a tope, un fuerte abrazo de tu vieja profe de español Neumeyer