Schon zwei Wochen… Die Zeit vergeht und meine zweite Heimat wird mir immer heimeliger. Viele neue Eindrücke, die erste Party, viele neue Menschen, und noch immer kein Heimweh…
Zwischendurch ein paar ruhige Tage, in denen nicht allzu viel passiert, die helfen, das zu verdauen, zu verstehen, zu verinnerlichen, was um mich herum und in mir drin passiert.
Ein Sonntag in einer kleinen Kirche, eine kolumbianische Hochzeit, auf der Caro singt, sie übt auch fleißig das Aleluya in der deutschen Version. Aber selbst die Hochzeiten fangen erst eine halbe Stunde nach dem vereinbarten Termin an, seltsam, sehr seltsam, aber sonst ist so eine kolumbianische Hochzeit einer deutschen sehr ähnlich, auch wenn man nicht mit Handzeichen vorher anzeigen muss, ob man zur Kommunion geht oder nicht…
Dann an einem sonnigen Nachmittag ein Kaufrausch sondergleichen… Noch nie hab ich so viel Obst gekauft, das ich nicht kenne, in jeder Hand mehrere Tüten, eine gesunde Woche mit tausend neuen Geschmackserlebnissen, der Kühlschrank voll von Obst und Gemüse, Guanabana, Guayaba,… Der Abend ist allerdings nicht sehr lang, denn am Montagmorgen heißt es um 4.45 Uhr aufstehen, der erste Kurs beginnt um sieben Uhr morgens und womit, natürlich mit einer Prüfung, ohne vorher zu üben, spanische Grammatik, Leseverstehen, darüber schreiben, was ich von der Globalisation halte, alles, um zu wissen in welchen Spanischkurs ich gesteckt werde. Das Ergebnis kommt am nächsten Morgen, ich bin eine der wenigen, die das nivel avanzado erreicht haben, aber zu dem Zeitpunkt des Kurses kann ich leider nicht, also schreibe ich meinem Professor, ob es möglich wäre auch an dem Kurs nivel intermedio teilzunehmen, und… es ist KEIN Problem, so etwas wäre in Deutschland wohl nicht machbar. Auch die anderen Kurse sind interessant, es ist ein wenig schwierig mit anderen kolumbianischen Studenten ins Gespräch zu kommen, denn die meisten kennen sich untereinander und sind bereits in höheren Semestern. Aber das wird noch. Es stehen schon im September die ersten Prüfungen an, es gibt viel, viel zu lesen, im Portugiesisch-Kurs wir NUR Portugiesisch gesprochen, die kolumbianische Geschichte mit Hilfe von Filmen zu analisieren ist anstrengend, aber sehr informativ und eine andere Herangehensweise, ein Kurs über die Kultur und das Konzept Lateinamerika, eine andere Sichtweise, die Geschichte, die Kultur nicht von dem Standpunkt der Kolonialmächte zu sehen. Fünf Kurse, hört sich nicht allzu viel an, ist es aber, wenn man sich hinsetzt und dafür lernt und liest. Jeder Professor hinterlegt Material in den verschiedenen Fotokopier-Geschäften, man geht hin, nennt die Nummer oder den Kurs oder den Professor, bringt ein wenig Zeit mit und voilà, Fotokopien, die es zu lesen, zu bearbeiten gilt. So muss man sich keine teuren Bücher kaufen, sondern das Geld für den ein oder anderen Kaffee ausgeben. Dies ist auch sehr unterschiedlich, auf dem gesamten Unigelände, das riesig ist, gibt es überall kleine Cafés, aber Ketten, man kann sich setzen, überall gibt es Bänke, Tische, Stühle, Grünflächen, man kann seine Zeit hier verbringen, indem man das Geländer erkundet, ein Nickerchen macht oder einfach die Menschen hier beobachtet. Manchmal lässt sich nicht unterscheiden, ob es sich um Student oder Professor handelt, denn letztere sind hier sehr jung, haben viel Spaß an dem, was sie unterrichten, sind offen und hilfsbereit und freuen sich über Austauschstudenten. Zwischen den verschiedenen Kursen gibt es Pausen von zehn Minuten, und in diesen zehn Minuten muss man oft lange Wege hinter sich bringen, es gibt Gebäude von A bis Z, und Treppen, Treppen, Treppen. Um in den Unibereich zu gelangen (und auch um wieder rauszukommen) benötigt man seinen Studentenausweis, es gibt Schranken zu überwinden, Sicherheitskräfte, die ihre Hilfe anbieten und trotzdem weiß man manchmal nicht ganz, wo genau man sich befindet. Man entdeckt immer wieder neue Wege von A nach B zu kommen und man sieht dabei die unterschiedlichsten Menschen.
Dienstag ist ein unifreier Tag, der mit einer kleinen Fahrradtour beginnt und mit einem Besuch in der größten öffentlichen Bibliothek endet, eine riesige Bibliothek, in der sich etwa siebzig fremdsprachige Bücher finden lassen, drei davon in Deutsch, und trotzdem wunderschön ist, Wasser überall, Platz, viel Platz, ein Café, ein Raum, in dem man Filme schauen kann, Räume, in denen man Musik hören kann, und das alles mitten im Grünen, der Mond strahlt hell, die Kälte des Wassers steigt empor und kriecht einem unter den Stoff der Kleidung und man stellt sich vor, wie man mit einem Tee in der Hand ein spannendes Buch liest, sich in einen bequemen Sessel kuschelt und zusieht wie die Wolken ziehen, sich verändern, sich auftürmen, sich auflösen…
Die Uniwoche endet dieses Mal schon am Mittwochabend, zumindest für mich, denn der Freitag ist ein Feiertag, hier fallen nämlich alle beweglichen Feiertage per Gesetz auf einen Montag oder einen Freitag, das bedeutet immer ein langes Wochenende, großartiges Gesetz. Aber der Mittwoch ist hart, morgens um sieben der erste Kurs, bis mittags um eins, dann eine Pause von vier Stunden, in denen es sich nicht lohnt, nach Hause zu fahren, und dann der letzte Kurs, eine Doppelstunde, von fünf bis um acht Uhr abends, dann auf zur Haltestelle, sich in den übervollen Transmilenio quetschen, in Deutschland würden die Türen nicht zugehen, hier passt das schon, noch ein bisschen drücken, festhalten muss man sich nicht, denn wenn man Glück hat, kann man seinen kleinen Finger bewegen, nicht mehr, vom Umfallen also ganz zu schweigen. Die blauen Sitze jedoch bleiben oft frei, denn die sind für ältere Menschen, Kinder, Kranke oder Schwangere reserviert, daran hält sich hier fast jeder, egal wie voll der Bus ist. Dafür versteht man hier unter Schlage stehen eher: Wir bilden eine große Traube und kämpfen uns zu dem Bus durch, in den wir einsteigen wollen, oder wir bleiben einfach direkt vor den offenen Türen des Busses stehen, damit wir bei dem nächsten Bus die ersten sind, die einsteigen können bevor wir die anderen aussteigen lassen. Chaotisch, gewöhnungsbedürftig, aber man sieht, wie viele Menschen in dieser Stadt leben, unglaublich viele, und man ist um einiges schneller als mit dem Auto, auch wenn man sein Auto nur an bestimmten Tagen nutzen darf, es hängt davon ab, welches Nummernschild man besitzt., alles um Stau und Umweltverschmutzung gering zu halten, ich will nicht wissen, wie es sein würde, wenn alle Autos dieser Stadt an allen Tagen fahren dürften.
Eigentlich gibt es ein Konzert im Parque Simon Bolívar, gratis, Salsa, aber Menschen überall, nach einer weiteren beengten Fahrt, besteht wenig Lust auf weitere Menschenmassen, also entscheiden wir uns zum Konzert des kolumbianischen Sinfonie-Orchesters zu gehen, für das wir Karten haben. Filmmusik, in der Universidad Nacional, eine öffentliche Universität, und das sieht man auch, selbst die Transmilenio-Station ist anders, mit verstärktem Glas, denn bei vielen Demonstrationen werden Steine geschmissen, überall Graffitis, es gibt einen Che-Platz, Sprüche wie „SOMOS HIJOS DE LA REVOLUCIÓN, NUESTRAS ALMAS GRITAN LIBERACIÓN“ prangen überall, Karikaturen US-amerikanischer Politiker, Che mit Heiligenschein, ganz anders als das, was ich kenne. Und trotzdem gefällt es mir, das Flair hier ist angenehm, man spürt einen Hauch von Aggressivität in der Luft, gemischt mit einer großen Prise Revolutionsgeist und einer Portion Meinungsverschiedenheiten. Hier betritt man den Rasen, steht auf für seine Meinung, macht seinem Ärger Luft, ab und an wohl zu radikal. Und dann später am Abend, nach einer rasanten Busfahrt und einem Feuerwerk zu Ehren von Bogotás 471. Geburtstag, lerne ich schließlich Luz Mutter kennen, sehr herzlich, offen und liebenswürdig. Und es ist ein weiterer Einblick in ein Leben… Ein eigenes Haus, in dem eine Familie untergebracht ist, ein Haus, das sich zwar im Erdgeschoss befindet, die Fenster allerdings nicht vergittert sind, da es keine Fenster gibt, die Räume müssen mit elektrischem Licht beleuchtet werden. Alles ist sehr einfach eingerichtet, wir teilen uns einen Raum zu dritt, zwei Betten, drei Personen und doch ist Platz für jeden. Der freie Freitag beginnt früh mit einem typischen Frühstück: Rührei, Mais und Brot (auf Ei-Basis). Dann geht es mit dem Rad zum Parque Simon Bolívar, ein riesiger Park, in dem es einen großen See gibt, auf dem man paddeln kann, einen Sandstrand, Fahrradwege, Laufwege, Spielplätze, Bühnen, und viele Familien, viele junge Menschen, viele alte Menschen, die ihren freien Tag hier verbringen, man kann alles bekommen, was das Herz begehrt. Drachen steigen lassen, Fußball spielen, Boote mieten…
Auf dem Rückweg kaufen wir Fisch auf der Straße, ein Holzwagen, Eis und darauf Fisch, viel Fisch, der wird gewogen und dann mitten auf der Straße entschuppt, in eine Plastiktüte gepackt und weiter geht die bunte Fahrt, Fahrradwege, Straßen, Schlaglöcher, Ampeln.
Wir werden bekocht, wir ruhen uns aus und dann geht’s nach Hause, umziehen, für die erste große Party. Party mit den anderen Austauschstudenten und ein paar kolumbianischen Studenten, wir haben eine Chiva gemietet, ein Bus, bunt bemalt, ohne Scheiben in den Fenster, viel Musik, wenig Platz, aber wir tanzen, tanzen und fahren. Viel Alkohol, viel Nähe, viel Spaß. Wir fahren durch halb Bogotá in Richtung La Calera, eine Region, die noch ein wenig höher liegt als Bogotá, man hat eine wunderschöne Sicht über das Lichtermeer Bogotás. Die erste Disko, die ich hier besuche, La Compostela, Salsa, kleine Tanzflächen, viele Gespräche, aguardiente (Anisschnaps), Bier, kolumbianische Coke, ein wunderschöner Abend, an dem sich neue Freunde finden, viel Spanisch, aber auch andere Sprachen, tanzen, sich betrinken und das Ende im Krankenhaus. Welches sich nicht sehr von einem deutschen Krankenhaus unterscheidet. Keine Angst, mir geht’s gut, ein Freund, den ich an diesem Abend kennen gelernt habe, hat sich den Kopf im Bad angeschlagen, Blut überall, besorgte Gesichter, und warten, warten auf ein Taxi in Richtung Krankenhaus, plötzlich sind alle verschwunden, ich bin die einzige, die noch bei ihm ist, das Taxi kommt, wir werden rausgelotst, es schüttet in Strömen, wir flüchten uns ins Trockene, Tränen, Telefonate, und eine Klarheit in meinem Kopf, gutes Zureden, Hände halten, Ruhe ausstrahlen, Tränen trocknen, da sein und dann im Krankenhaus, wir werden schon erwartet von der Familie, von den Ärzten, Papierkram erledigen und dann warten, warten, Ruhe bewahren. Daran bin ich mittlerweile gewöhnt, warten, man muss immer ein wenig mehr Zeit mitbringen. Sieben Stiche, weder Alkohol noch Zigaretten für die nächsten zwei Tage, Kopfschmerzen und Krankenbesuch sind das Ergebnis eines Abends, einer Nacht.
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