Überraschung! Ganz zu Ende ist das Abenteuer noch nicht. Mir
bleiben noch drei Tage bis mein Flieger mich zurück nach Deutschland bringt. Morgens
warte ich in Wanderkleidung mit Rucksack am Busbahnhof auf meine
Mitfahrgelegenheit. Antonio und Sandra haben sich gestern noch dazu
entschieden, heute ans Ende der Welt zu fahren. Da uns nicht mehr so viel Zeit
bleibt, nehmen die beiden Pascal und mich mit. Normalerweise wäre es noch ein
Drei-Tages-Marsch bis nach Fisterra. Auf dem Weg zum Treffpunkt kommen mir
Pilger-Neuankömmlinge entgegen. Die Vorstellung erst gestern den Muscheln
folgend zur Kathedrale gefunden zu haben, ist seltsam. Es kommt mir bereits vor
wie eine halbe Ewigkeit. Vielleicht habe ich meine Pilgerfahrt in der Tat schon
abgeschlossen?
Mit dem Auto fahren wir bis nach Corcubión, etwa 15
Kilometer vor Fisterra. Denn ein wenig Auslauf benötigen unsere Beine noch.
Während Antonio und Sandra das letzte Stück bis zum Leuchtturm am Ende der Welt
per Auto zurücklegen, laufen Pascal und ich. Jeder geht für sich. Es ist
unglaublich schön. Viel Wald und Einsamkeit. Meinem Körper tut es gut zu laufen.
Plötzlich taucht an meinem Blick-Horizont das Meer auf. Mein Herz springt in
die Höhe, es geht mir gut. Zu meinen Füßen liegt der langgezogene weiße
Sandstrand Praia de Langosteira. Zwei Kilometer laufe ich barfuß über den
warmen Sand, durch das frische Meerwasser, finde kleine, winzige Jakobsmuscheln
in unterschiedlichen Färbungen...
Da ich die letzten 100 Kilometer von Santiago de Compostela
bis nach Fisterra nicht gelaufen bin, kann ich auch nicht in der Pilgerherberge
nächtigen. Dennoch gibt es hier am Ende der Welt einige bezahlbare Hostels.
Zusammen mit Pascal habe ich in einem reserviert. Albergue do Sol. Auf der
Suche nach der Sonnenherberge treffe ich selbst hier am Ende der Welt auf
bekannte Gesichter. Eva. Erholt, braun gebrannt sitzt sie im Schatten, ich
geselle mich zu ihr, trinke etwas Kühles und unterhalte mich mit ihr über den
Weg, der hinter uns liegt. Das letzte Mal habe ich sie in Comillas gesehen. Sie
ist den Camino Primitivo gegangen, hat davor ein paar Etappen mit dem Bus
gemacht und ist auf dem Weg von einem Hund angefallen worden. Plötzlich steht
Pascal neben uns und wir diskutieren über die Hunde, die uns, bildlich gesehen, angefallen haben. Bei mir war es wohl mein eigener Körper.
Der Leuchtturm und damit das wirkliche Ende – zumindest für
mich – muss noch ein wenig warten. Zunächst einmal beziehen wir eines der
Mehrbett-Zimmer in der Herberge, legen uns ein Weilchen auf die faule Haut.
Irgendwie würde ich dieses Ende gerne überspringen. Einfach schon im Flieger
sitzen. Ohne Abschied vom Meer, vom Camino. Zurück ins Schneckenhaus, genug der
frischen Luft, der durchgelegenen Matratzen.
Nach ein paar ruhigen Minuten in der Hippie-Unterkunft,
begleitet von Gitarrenklängen, lädt mich Pascal auf einen letzten löslichen
Kaffee ein. Frische Feigen liegen in der Küche frei zum Verzehr. Wir fühlen uns
beide so als hätten wir das Pilgerdasein bereits hinter uns gelassen, vielmehr
sind wir schon wieder in der Rolle eines Touristen. Später dann machen wir uns
auf, stellen im Supermarkt unser letztes Pilgermahl zusammen: tortilla, Brot,
Schafskäse, Oliven, eingelegte Paprika, grüne Tomate und eine Flasche Wein.
Unsere Beine tragen uns ans Ende der Welt. Wider Erwarten kann man die Strecke
fast bis zum Schluss mit dem Auto fahren, was dem Ganzen ein wenig die Idylle
nimmt. Noch steht die Sonne hoch am Himmel, es windet sehr am Leuchtturm.
Pascal dreht eine Runde, während ich da auf dem Felsen sitze und auf den
endlosen Horizont starre. Ganz langsam stellt sich ein wohliges Gefühl ein. Es
scheint als ob die Reise hier nun wirklich zu Ende sei, auch wenn ich nirgendwo
„angekommen“ bin. Ebenso wenig habe ich etwas gefunden, denn ich habe nach
nichts gesucht, was zu finden hätte sein können. Auch nicht mich selbst. Mein
Inneres ist ruhiger geworden, vielleicht ein wenig ausgeglichener. Ob es sich
gelohnt hat die Strapazen der letzten fünf Wochen auf sich zu nehmen? Wer weiß schon,
ob sich jemals etwas lohnt im Leben. Ansichtssache.
Ganz langsam geht die Sonne in einem dichten Wolkenstreifen
knapp über dem Horizont unter. Blutrot färbt sich der Himmel, wir stoßen an.
Wie Affen sitzen sie da auf den Felsen: Pilger, Touristen, Touri-Pilger und
Pilger, die sich bereits mehr als Touristen fühlen. Es stürmt als gäbe es kein
Morgen. Pascal holt eine seltsam geformte Nektarine hervor und schnitzt ihr ein
grinsendes Gesicht, ein Geschenk ans Ende der Welt. Die meisten Menschen
verschwinden nachdem sich die Sonne gespiegelt im Meer versenkt hat.
Eines steht noch aus: das Verbrennen. Früher war es
Tradition dem ankommenden Pilger in Santiago de Compostela seine Pilgerkluft
abzunehmen, sie zu verbrennen und den Pilger neu einzukleiden. Das wird heute
bei den Massen – 2011 kamen mehr als 270 000 Pilger in Santiago de
Compostela an – nicht mehr zelebriert. Der Brauch wurde ans Ende der Welt
getragen. Ich verbrenne meine Leinenhose, Pascal ein Paar Socken. Es ist nicht
gerade leicht, einen windgeschützten Platz zu finden, außerdem wollen wir auch
nicht das Gestrüpp in Flammen setzen.
Es brennt, die Flammen lodern im Wind empor. Zufrieden stehen
wir vor dem Feuerspiel. So wie ich vorhin aufs Meeresende gestarrt habe, sehe
ich nun ins Feuer. Mit dem restlichen Olivenwasser löschen wir die Glut. Es ist
bereits stockdunkel und kalt. Der Wind fährt uns die Glieder. Keine
Straßenlaterne, nichts leuchtet uns den Weg. Ein Spanier und ein Mexikaner
stoßen zu uns, wir trotzen dem Wind und wandern die dreieinhalb Kilometer
zurück in den Ort. Ende.