Sonntag, 4. November 2012

Laufen lernen - Tag 22


Der Morgen beginnt zwar recht spät, die Deutschen aus der cabaña nebenan sind schon los, dennoch etwas Gutes: So langsam füllt sich mein Körper wieder mit Kraft. Und die brauchen wir für die heutige Etappe. Die ersten Kilometer laufe ich so schnell, dass ich das Gefühl habe, alleine zu sein. Juan Carlos liegt fast immer eine Abbiegung hinter mir. Langsam aber sicher finde ich meinen Tagesrhythmus. Morgens muss ich schnell in den Tag hineinlaufen.

In Gijón fragen wir zwar noch nach einem Arzt, dann suche ich doch nur die Apotheke auf und besorge mir ein neues Durchfallmittel. Wir frühstücken und dann bin ich wieder am Meer. Die Wellen, der graue Himmel. Irgendwie ist alles aufgewühlt, so wie ich. Am liebsten würde ich bleiben. Mich setzen und aufs die zahllosen Wellen starren. Vielleicht bleibe ich und fahre bis nach Avilés mit der FEVE? Die Strecke dorthin soll die schlimmste sein. Juan Carlos und ich treffen eine grobe Abmachung, da ich noch einen Moment benötige hier am Wasser bevor ich mich entschieden habe, sodass wir uns am Ende der Promenade wieder treffen wollen. Wie in Trance laufe ich nach ewiger Meerblickerei bis zur Iglesia de San Pedro. Verwundert sehe ich mich um, die Muscheln und Pfeile sind verschwunden, Juan Carlos taucht auch nicht wieder auf. Ich spiele mit dem Gedanken, in den Bus zu steigen. Meine Füße tragen mich wieder ein Stück zurück, da ist er wieder, der Jakobsweg. Diese kleinen güldenen Muscheln in den Bodenplatten kann man in einem Trancezustand auch nur aus den halb nach innen gekehrten Augen verlieren. Nicht daran zu denken, Juan Carlos wieder zu finden. Wahrscheinlich ist er schon über alle Berge. Am Yachthafen der Stadt halte ich Ausschau nach ihm, ein Stück weiter. Ich versuche mich durch zu fragen, anscheinend kann mir hier niemand sicher sagen, wo es lang geht. Wieder eine Analogie zum wahren Leben?

Ich irre so vor mich her, wirke ziellos und weiß tatsächlich plötzlich nicht so recht etwas mit mir und diesem seltsamen Tag anzufangen. Soll ich nicht einfach zurück zum schmalen Sandstrand laufen? Schon halb auf dem Rückweg kommt mir ein bärtiger Mann entgegen. Bekanntes Gesicht, bekannter Gang. Rucksack, Wanderschuhe. Juan Carlos. Irgendetwas in mir macht einen kleinen Sprung. Die Entscheidung ist gefallen. Ich laufe weiter. (Ansonsten wäre das hier wohl die Ende meines Weges gewesen, nicht aufgrund der Tatsache, dass es ein mir bekannter Mensch war, sondern nur, dass ich diesen Weg nicht immer alleine gehen muss.)

Die Straße aus der Altstadt bis hin zum Ortsausgangsschild erscheint uns wie tausende von Kilometern, obwohl schon etliche davon hinter uns liegen. Endlich sind wir draußen. Ein Schleier von Missmut legt sich über unser Pilgerdasein. Industriegebiet. Die Luft wird schwerer und schwärzer. Verfärbt ganze Hausfassaden. Über eine still gelegte Schnellstraße kommen wir dem Industrieungetüm immer näher. Neben uns ein vermeintlich still gelegtes Bordell, die Neonanzeige kommt bereits herunter, flackert nachts bestimmt nicht einmal mehr unbeholfen auf. Die Essen am Horizont stoßen dunklen Rauch in den Mittagshimmel, üble Gerüche hängen in der Luft. Den Camín Real, den königlichen Weg, empor erklimmen wir die Ansteigung. Was war wohl zuerst hier? Die kleinen Häuschen mit Gärten, deren Gemüse so belastet sein muss und die Schürzen der klapprigen Frauen, die vor Dreck nur so strahlen. Oder das gespenstige Monster von Industriekomplex, das aus dem vorvorigen Jahrhundert zu stammen scheint. Tristesse. Bonjour. Mir wird schlecht. Nicht körperlich.

Da, ein Eukalyptuswald. Ich atme auf. Der Himmel ist zwar bewölkt, die Sonne sticht dennoch hindurch. Die Hitze lässt mich langsamer werden. Derweil legt Juan Carlos ein ordentliches Tempo vor. Er bereut bereits, die Strecke zu Fuß hinter sich zu bringen. Ich mache eine Pause, sehe ihn schon bald nicht mehr. Da bin ich wieder. Einsamkeit und Trübsal nehmen in mir Platz. Komm’ schon. Weiter. Sitzen bleiben bringt dich nicht weiter. Einfach einen Schritt nach dem anderen machen.

Mit Cordula in der Hand und den Blick auf die muschligen Pfeile suche ich mir meinen Weg. Zeigt diese nun nach links den Hügel hinauf oder nach recht hinab? Ein paar Meter nach unten. Nichts. Kein Zeichen. Also doch hinauf. Ich laufe, schaue mich um, suche. Werde schneller, der Blick auf die Bäume. Noch einmal Cordulas genaue Wegbeschreibung lesen. Das stimmt doch alles nicht. Oh, ein Pärchen. Mit Auto. Die sollten sich hier auskennen. Wie? Jakobsweg? Avilés? Nein, keine Ahnung. Das hier müsste der Monte Areo sein. Glücklicherweise hat Cordula Karten zu den Etappen integriert. Falsche Richtung. So ein Mist. Außer Hörweite der beiden Spanier versuche ich zu schreien. Ein verschlucktes Krächzen. Genug jetzt. Ich laufe weiter. Ein Fuß,...

Auf einer Bank vor einer Kirche sitzt er und raucht. Neben ihm ein Zettel in französischer Sprache, ein Gruß an alle vorbeiziehenden Pilger. Pause. Innerlich bin ich blass. Auch Juan Carlos scheint diese Strecke zu seiner Hassstrecke zu erklären. Vergilbtes Grün. Schnellstraße. Jeder vorbei rasende LKW zieht mich mit seinem Luftsog vom Seitenstreifen in Richtung Straßenmitte. Konzentration. Der Asphalt unter den Füßen wird härter und härter. Wir wechseln schon lange kein Wort mehr. Worüber auch. Den Groll muss man ja nicht teilen.

Avilés. Selbst der Ortseingang zieht sich. Die Herberge bietet Platz für 80 Pilger. Wo immer sie auch herkommen mögen, viele der Betten sind belegt. Das offene Geheimnis der meisten: FEVE. Heiße Dusche, kalte Wäsche. Ich bin unendlich langsam. Wir sehen uns trotz müder Abgestumpftheit die Altstadt an. Hübsch, aber nicht die Etappe wert. Von einem großen Platz tönt Musik- und Stimmengewirr. Tatsächlich, einmal in der ganzen langen Zeit, komme ich nicht einen Tag zu früh oder zu spät für die Festitvitäten eines Ortes. Vor uns liegt die fiesta de cerveza. Dann genehmigen wir uns doch eins. Und Pizza dazu. Etwas Süßes zum Nachtisch. Der Himmel zeigt sich in blauer Abendrobe. Mit dem letzten Glockenschlag schlüpfen wir durch die gerade noch so offene Herbergstür.

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