Der Morgen beginnt zwar recht spät, die Deutschen aus der
cabaña nebenan sind schon los, dennoch etwas Gutes: So langsam füllt sich mein
Körper wieder mit Kraft. Und die brauchen wir für die heutige Etappe. Die
ersten Kilometer laufe ich so schnell, dass ich das Gefühl habe, alleine zu
sein. Juan Carlos liegt fast immer eine Abbiegung hinter mir. Langsam aber
sicher finde ich meinen Tagesrhythmus. Morgens muss ich schnell in den Tag
hineinlaufen.
In Gijón fragen wir zwar noch nach einem Arzt, dann suche ich
doch nur die Apotheke auf und besorge mir ein neues Durchfallmittel. Wir
frühstücken und dann bin ich wieder am Meer. Die Wellen, der graue Himmel.
Irgendwie ist alles aufgewühlt, so wie ich. Am liebsten würde ich bleiben. Mich
setzen und aufs die zahllosen Wellen starren. Vielleicht bleibe ich und fahre
bis nach Avilés mit der FEVE? Die Strecke dorthin soll die schlimmste sein.
Juan Carlos und ich treffen eine grobe Abmachung, da ich noch einen Moment
benötige hier am Wasser bevor ich mich entschieden habe, sodass wir uns am Ende
der Promenade wieder treffen wollen. Wie in Trance laufe ich nach ewiger
Meerblickerei bis zur Iglesia de San Pedro. Verwundert sehe ich mich um, die
Muscheln und Pfeile sind verschwunden, Juan Carlos taucht auch nicht wieder
auf. Ich spiele mit dem Gedanken, in den Bus zu steigen. Meine Füße tragen mich
wieder ein Stück zurück, da ist er wieder, der Jakobsweg. Diese kleinen
güldenen Muscheln in den Bodenplatten kann man in einem Trancezustand auch nur
aus den halb nach innen gekehrten Augen verlieren. Nicht daran zu denken, Juan
Carlos wieder zu finden. Wahrscheinlich ist er schon über alle Berge. Am
Yachthafen der Stadt halte ich Ausschau nach ihm, ein Stück weiter. Ich
versuche mich durch zu fragen, anscheinend kann mir hier niemand sicher sagen, wo
es lang geht. Wieder eine Analogie zum wahren Leben?
Ich irre so vor mich her, wirke ziellos und weiß tatsächlich
plötzlich nicht so recht etwas mit mir und diesem seltsamen Tag anzufangen.
Soll ich nicht einfach zurück zum schmalen Sandstrand laufen? Schon halb auf
dem Rückweg kommt mir ein bärtiger Mann entgegen. Bekanntes Gesicht, bekannter
Gang. Rucksack, Wanderschuhe. Juan Carlos. Irgendetwas in mir macht einen
kleinen Sprung. Die Entscheidung ist gefallen. Ich laufe weiter. (Ansonsten
wäre das hier wohl die Ende meines Weges gewesen, nicht aufgrund der Tatsache,
dass es ein mir bekannter Mensch war, sondern nur, dass ich diesen Weg nicht
immer alleine gehen muss.)
Die Straße aus der Altstadt bis hin zum
Ortsausgangsschild erscheint uns wie tausende von Kilometern, obwohl schon etliche davon
hinter uns liegen. Endlich sind wir draußen. Ein Schleier von Missmut legt sich
über unser Pilgerdasein. Industriegebiet. Die Luft wird schwerer und schwärzer.
Verfärbt ganze Hausfassaden. Über eine still gelegte Schnellstraße kommen wir
dem Industrieungetüm immer näher. Neben uns ein vermeintlich still gelegtes
Bordell, die Neonanzeige kommt bereits herunter, flackert nachts bestimmt nicht
einmal mehr unbeholfen auf. Die Essen am Horizont stoßen dunklen Rauch in den
Mittagshimmel, üble Gerüche hängen in der Luft. Den Camín Real, den königlichen
Weg, empor erklimmen wir die Ansteigung. Was war wohl zuerst hier? Die kleinen
Häuschen mit Gärten, deren Gemüse so belastet sein muss und die Schürzen der
klapprigen Frauen, die vor Dreck nur so strahlen. Oder das gespenstige Monster
von Industriekomplex, das aus dem vorvorigen Jahrhundert zu stammen scheint.
Tristesse. Bonjour. Mir wird schlecht. Nicht körperlich.
Da, ein Eukalyptuswald. Ich atme auf. Der Himmel ist zwar
bewölkt, die Sonne sticht dennoch hindurch. Die Hitze lässt mich langsamer
werden. Derweil legt Juan Carlos ein ordentliches Tempo vor. Er bereut bereits,
die Strecke zu Fuß hinter sich zu bringen. Ich mache eine Pause, sehe ihn schon
bald nicht mehr. Da bin ich wieder. Einsamkeit und Trübsal nehmen in mir Platz.
Komm’ schon. Weiter. Sitzen bleiben bringt dich nicht weiter. Einfach einen
Schritt nach dem anderen machen.
Mit Cordula in der Hand und den Blick auf die muschligen
Pfeile suche ich mir meinen Weg. Zeigt diese nun nach links den Hügel hinauf
oder nach recht hinab? Ein paar Meter nach unten. Nichts. Kein Zeichen. Also
doch hinauf. Ich laufe, schaue mich um, suche. Werde schneller, der Blick auf
die Bäume. Noch einmal Cordulas genaue Wegbeschreibung lesen. Das stimmt doch
alles nicht. Oh, ein Pärchen. Mit Auto. Die sollten sich hier auskennen. Wie?
Jakobsweg? Avilés? Nein, keine Ahnung. Das hier müsste der Monte Areo sein.
Glücklicherweise hat Cordula Karten zu den Etappen integriert. Falsche
Richtung. So ein Mist. Außer Hörweite der beiden Spanier versuche ich zu
schreien. Ein verschlucktes Krächzen. Genug jetzt. Ich laufe weiter. Ein
Fuß,...
Auf einer Bank vor einer Kirche sitzt er und raucht. Neben
ihm ein Zettel in französischer Sprache, ein Gruß an alle vorbeiziehenden
Pilger. Pause. Innerlich bin ich blass. Auch Juan Carlos scheint diese Strecke
zu seiner Hassstrecke zu erklären. Vergilbtes Grün. Schnellstraße. Jeder vorbei
rasende LKW zieht mich mit seinem Luftsog vom Seitenstreifen in Richtung
Straßenmitte. Konzentration. Der Asphalt unter den Füßen wird härter und
härter. Wir wechseln schon lange kein Wort mehr. Worüber auch. Den Groll muss
man ja nicht teilen.
Avilés. Selbst der Ortseingang zieht sich. Die Herberge
bietet Platz für 80 Pilger. Wo immer sie auch herkommen mögen, viele der Betten
sind belegt. Das offene Geheimnis der meisten: FEVE. Heiße Dusche, kalte
Wäsche. Ich bin unendlich langsam. Wir sehen uns trotz müder Abgestumpftheit
die Altstadt an. Hübsch, aber nicht die Etappe wert. Von einem großen Platz
tönt Musik- und Stimmengewirr. Tatsächlich, einmal in der ganzen langen Zeit,
komme ich nicht einen Tag zu früh oder zu spät für die Festitvitäten eines
Ortes. Vor uns liegt die fiesta de cerveza. Dann genehmigen wir uns doch eins.
Und Pizza dazu. Etwas Süßes zum Nachtisch. Der Himmel zeigt sich in blauer
Abendrobe. Mit dem letzten Glockenschlag schlüpfen wir durch die gerade noch so
offene Herbergstür.
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