Montag, 12. November 2012

Laufen lernen - Tag 31

Gegen fünf Uhr morgens rascheln die Italiener bereits den halben Schlafsaal wach. Um halb sieben wird das Licht angeschaltet wie bereits gestern Abend von Michael angedroht. Dafür gibt es auch Frühstück in der Küche, Brot in rauen Mengen, Marmelade und Honig, Kaffee und Tee. Was für ein Luxus. Da muss ich nichtmal auf die alltäglichen magdalenas, spanisches Kleingebäck, zurückgreifen.

Jeder Morgen ist kälter und mein Laufoberteil schützt mich nicht mehr sonderlich gut vor der feuchten Kühle. Leider auch nicht vor diesem Kopf-Tiefpunkt. Ich fühle mich einsam, will aber auch keine Zeit mit anderen verbringen. Immerhin habe ich die lange Strecke bereits gestern hinter mich gebracht. Als eine der letzten überwinde ich mich in die Morgendämmerung hinein zu laufen. Schritt für Schritt durch eine seltsame Mondlandschaft, es ist karg, ich laufe auf glatten Felsen. So sah es bis jetzt noch nirgends aus. Auf knapp 700 Meter Höhe wächst nicht mehr viel, so erweckt es hier zumindest den Anschein. Violett, Gelb und Grün, Pinienkerne und Tannenzapfen. Wie durch Zauberhand verwandelt sich der Mond auf Erden wieder in normale Straßenzüge, die durch Pinienwälder gelegt sind. Ein paar einzelne Gehöfte. Dort ein kleines Bauerncafé, doch ich traue mich nicht an dem fies dreinblickenden Wachhund vorbei. Ein Fehler, denn dort, erfahre ich später von Pascal, gibt es meine heiß und innig geliebte frische Milch, die man sonst so gut wie nie in Spanien in die Hände bekommt.

Plötzlich sind die Italiener hinter mir. Lautstark unterhalten sie sich und mich leider auch. Ich versuche schneller zu gehen, das scheint sie anzuspornen und an mir dran zu bleiben. Aber auch als ich langsamer werde, verlangsamen sie ihr Tempo. Da mein Zeitgefühl dahin ist, weiß ich nicht genau, wie lange sie mir in den Ohren liegen. Ich singe, summe und fühle mich doch gehetzt. Erst in dem nächstgrößeren Ort kann ich sie an mir vorbeiziehen lassen, denn ich mache hier eine Zwangspause, damit ich mir von ihnen nicht den Tag komplett versauen lasse.

Das letzte Stück bis nach Sobrado dos Monxes ist ein abfallender Waldweg, meine Schritte sind leicht und werden vom Untergrund abgefedert. Der von den Mönchen angelegte See bessert meine Laune merklich, die Träne der Einsamkeit vertrocknen im Angesicht des welligen Blaus. Und dort unten im Gras liegt einfach so Sandra. Ich geselle mich zu ihr und erfahre, dass sie gestern Abend noch nach Baamonde zurück gefahren ist und dort übernachtet hat bevor sie heute Morgen nach Sobrado dos Monxes gefahren ist, um sich das Kloster anzusehen und bevor sie sich am Nachmittag nach Santiago de Compostela begibt. Wir warten bis auch irgendwann Antonio des Weges kommt. Das letzte Stück des Weges laufe ich zusammen mit ihm. Schon von Weitem sehen wir die moosbewachsenen Klostermauern, die sich über das überschaubare Dörfchen erheben. Gerade noch rechtzeitig kommen wir an, denn das Kloster wird zwischen 14.00 und 16.30 Uhr geschlossen, sodass weder jemand hinein, noch hinaus kann. Wir bekommen von Alfonso, dem hospitalero, und Emilio, scheinbar Laufbursche für alles, unsere Klosterzelle gezeigt. Dann mahnt Alfonso humpelnd zur Eile. Und siehe da, alle Pilger wählen die Möglichkeit den kleinen Ort unter die Lupe zu nehmen. Nur ich nicht. Ich bleibe hier. Stille. Absolut. Die nur jede Viertelstunde vom blechernen Glockenschlag unterbrochen wird. Um mich herum die dicken Mauern. Sie schützen mich. Noch. Vor der Hektik des bald wieder bevorstehenden Alltags. Vor der Realität da draußen. Nur nicht vor meinen Gedankengängen, in denen ich mich gerne einmal verliere.

Um halb fünf werden den wartenden Pilgern und Touristen die Tore wieder geöffnet, somit ist es auch vorbei mit der meditativen Stille. Sandra verabschiedet sich von mir und gibt mir ihre Jacke für die letzten Tage meines Weges.

Die Stimmung heute ist seltsam. Wie die innere Ruhe vor dem Sturm der Traurigkeit. Um 19 Uhr sind wir als Pilger eingeladen der Vispera beizuwohnen, der gesungenen Abendmesse. Selbst die sonst so gesprächigen Deutschen und Spanier sitzen still auf ihren Stühlen. Der Raum ist niedrig und langgezogen. Nur im vorderen Teil dürfen die Pilger Platz nehmen, der Großteil des Raumes ist den Mönchen zugedacht. Langsam betreten sie das Zimmer, schließen die Fenster. Jeder nimmt sich seine Zeit um einzutreten und sich zu verbeugen. Minuten der absoluten Stille. Sie nehmen Platz auf ihren schmalen im Kreis angeordneten Holzthronen. Alle tragen eine weiße bodenlange Kutte, darüber ein dunkelbrauner Überhang und ein nussbrauner Gürtel. Ansonsten sind sie alle sehr unterschiedlich. Alter und Nationalität spielen hier keinerlei Rolle. Etwa eine Stunde singen sie Bibelpassagen, erheben sich, treten hervor. So als ob wir alle gar nicht anwesend wären. Innerlich werde ich immer kleiner. Tränen steigen mir in die Augen und ich weiß nicht recht, was gerade mit mir geschieht. Eine Grundtraurigkeit erstreckt sich über jede Faser meines Körpers. Am Ende sitze ich da mit aufgequollenem Gesicht. Rotgeweint. Jedoch ohne irgendeinen Laut von mir zu geben. Mit dem gesungenen Vaterunser geht die Abendandacht zu Ende.

Frische Luft. Hinter dem Kloster finde ich im kleinen Park ein wenig Ruhe, niemand, der mich stört. Etwas, das ich schon seit geraumer Zeit mit mir herumtrage, verlässt mich hier. Ein Stück weit komme ich ins Reine mit mir. Vielleicht ist Sobrado dos Monxes ein wenig mein Santiago de Compostela. Plötzlich, ohne es zu erwarten, bin ich an einem Punkt angekommen.

Später koche ich zusammen mit Pascal ein wunderbar einfaches Essen, für das wir insbesondere bei den deutschen Pilgern ein bisschen Neid ernten: Kartoffeln, Spiegelei und Salat.
Ein paar der Touristenpilger nehmen hier Betten in Anspruch. Natürlich würden sie sich niemals als solche bezeichnen. Es ist vielleicht auch nicht ganz fair sie so zu bezeichnen, doch denjenigen, die bereits 700 Kilometer oder mehr hinter sich gebracht haben, erscheint es doch witzig, dass diese Pilger ganz auf die Urkunde erpicht die letzten hundert Kilometer zu Fuß gehen mit ihrem kleinen Wochenendrucksäckchen und sich über schnarchende Pilger mokieren.

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