Gegen fünf Uhr morgens rascheln die Italiener bereits den
halben Schlafsaal wach. Um halb sieben wird das Licht angeschaltet wie bereits
gestern Abend von Michael angedroht. Dafür gibt es auch Frühstück in der Küche,
Brot in rauen Mengen, Marmelade und Honig, Kaffee und Tee. Was für ein Luxus.
Da muss ich nichtmal auf die alltäglichen magdalenas, spanisches Kleingebäck,
zurückgreifen.
Jeder Morgen ist kälter und mein Laufoberteil schützt
mich nicht mehr sonderlich gut vor der feuchten Kühle. Leider auch nicht vor
diesem Kopf-Tiefpunkt. Ich fühle mich einsam, will aber auch keine Zeit mit anderen verbringen. Immerhin habe ich die lange Strecke bereits gestern hinter
mich gebracht. Als eine der letzten überwinde ich mich in die Morgendämmerung
hinein zu laufen. Schritt für Schritt durch eine seltsame Mondlandschaft, es
ist karg, ich laufe auf glatten Felsen. So sah es bis jetzt noch nirgends aus.
Auf knapp 700 Meter Höhe wächst nicht mehr viel, so erweckt es hier zumindest
den Anschein. Violett, Gelb und Grün, Pinienkerne und Tannenzapfen. Wie durch
Zauberhand verwandelt sich der Mond auf Erden wieder in normale Straßenzüge,
die durch Pinienwälder gelegt sind. Ein paar einzelne Gehöfte. Dort ein kleines
Bauerncafé, doch ich traue mich nicht an dem fies dreinblickenden Wachhund
vorbei. Ein Fehler, denn dort, erfahre ich später von Pascal, gibt es meine
heiß und innig geliebte frische Milch, die man sonst so gut wie nie in Spanien
in die Hände bekommt.
Plötzlich sind die Italiener hinter mir. Lautstark
unterhalten sie sich und mich leider auch. Ich versuche schneller zu gehen, das
scheint sie anzuspornen und an mir dran zu bleiben. Aber auch als ich langsamer
werde, verlangsamen sie ihr Tempo. Da mein Zeitgefühl dahin ist, weiß ich nicht
genau, wie lange sie mir in den Ohren liegen. Ich singe, summe und fühle mich doch
gehetzt. Erst in dem nächstgrößeren Ort kann ich sie an mir vorbeiziehen
lassen, denn ich mache hier eine Zwangspause, damit ich mir von ihnen nicht den
Tag komplett versauen lasse.
Das letzte Stück bis nach Sobrado dos Monxes ist ein
abfallender Waldweg, meine Schritte sind leicht und werden vom Untergrund
abgefedert. Der von den Mönchen angelegte See bessert meine Laune merklich, die
Träne der Einsamkeit vertrocknen im Angesicht des welligen Blaus. Und dort
unten im Gras liegt einfach so Sandra. Ich geselle mich zu ihr und erfahre,
dass sie gestern Abend noch nach Baamonde zurück gefahren ist und dort
übernachtet hat bevor sie heute Morgen nach Sobrado dos Monxes gefahren ist, um
sich das Kloster anzusehen und bevor sie sich am Nachmittag nach Santiago de
Compostela begibt. Wir warten bis auch irgendwann Antonio des Weges kommt. Das
letzte Stück des Weges laufe ich zusammen mit ihm. Schon von Weitem sehen wir
die moosbewachsenen Klostermauern, die sich über das überschaubare Dörfchen
erheben. Gerade noch rechtzeitig kommen wir an, denn das Kloster wird zwischen
14.00 und 16.30 Uhr geschlossen, sodass weder jemand hinein, noch hinaus kann.
Wir bekommen von Alfonso, dem hospitalero, und Emilio, scheinbar Laufbursche
für alles, unsere Klosterzelle gezeigt. Dann mahnt Alfonso humpelnd zur Eile.
Und siehe da, alle Pilger wählen die Möglichkeit den kleinen Ort unter die Lupe
zu nehmen. Nur ich nicht. Ich bleibe hier. Stille. Absolut. Die nur jede
Viertelstunde vom blechernen Glockenschlag unterbrochen wird. Um mich herum die
dicken Mauern. Sie schützen mich. Noch. Vor der Hektik des bald wieder
bevorstehenden Alltags. Vor der Realität da draußen. Nur nicht vor meinen
Gedankengängen, in denen ich mich gerne einmal verliere.
Um halb fünf werden den wartenden Pilgern und Touristen die
Tore wieder geöffnet, somit ist es auch vorbei mit der meditativen Stille.
Sandra verabschiedet sich von mir und gibt mir ihre Jacke für die letzten Tage
meines Weges.
Die Stimmung heute ist seltsam. Wie die innere Ruhe vor dem
Sturm der Traurigkeit. Um 19 Uhr sind wir als Pilger eingeladen der Vispera
beizuwohnen, der gesungenen Abendmesse. Selbst die sonst so gesprächigen
Deutschen und Spanier sitzen still auf ihren Stühlen. Der Raum ist niedrig und
langgezogen. Nur im vorderen Teil dürfen die Pilger Platz nehmen, der Großteil
des Raumes ist den Mönchen zugedacht. Langsam betreten sie das Zimmer,
schließen die Fenster. Jeder nimmt sich seine Zeit um einzutreten und sich zu
verbeugen. Minuten der absoluten Stille. Sie nehmen Platz auf ihren schmalen im
Kreis angeordneten Holzthronen. Alle tragen eine weiße bodenlange Kutte, darüber
ein dunkelbrauner Überhang und ein nussbrauner Gürtel. Ansonsten sind sie alle
sehr unterschiedlich. Alter und Nationalität spielen hier keinerlei Rolle. Etwa
eine Stunde singen sie Bibelpassagen, erheben sich, treten hervor. So als ob
wir alle gar nicht anwesend wären. Innerlich werde ich immer kleiner. Tränen
steigen mir in die Augen und ich weiß nicht recht, was gerade mit mir geschieht.
Eine Grundtraurigkeit erstreckt sich über jede Faser meines Körpers. Am Ende
sitze ich da mit aufgequollenem Gesicht. Rotgeweint. Jedoch ohne irgendeinen
Laut von mir zu geben. Mit dem gesungenen Vaterunser geht die Abendandacht zu Ende.
Frische Luft. Hinter dem Kloster finde ich im kleinen Park
ein wenig Ruhe, niemand, der mich stört. Etwas, das ich schon seit geraumer
Zeit mit mir herumtrage, verlässt mich hier. Ein Stück weit komme ich ins Reine
mit mir. Vielleicht ist Sobrado dos Monxes ein wenig mein Santiago de
Compostela. Plötzlich, ohne es zu erwarten, bin ich an einem Punkt angekommen.
Später koche ich zusammen mit Pascal ein wunderbar einfaches
Essen, für das wir insbesondere bei den deutschen Pilgern ein bisschen Neid
ernten: Kartoffeln, Spiegelei und Salat.
Ein paar der Touristenpilger nehmen hier Betten in Anspruch.
Natürlich würden sie sich niemals als solche bezeichnen. Es ist vielleicht auch
nicht ganz fair sie so zu bezeichnen, doch denjenigen, die bereits 700 Kilometer oder mehr hinter
sich gebracht haben, erscheint es doch witzig, dass diese Pilger ganz auf die
Urkunde erpicht die letzten hundert Kilometer zu Fuß gehen mit ihrem kleinen
Wochenendrucksäckchen und sich über schnarchende Pilger mokieren.
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