Donnerstag, 15. November 2012

Laufen gelernt - Tag 34


Still und leise verlasse ich früh am Morgen das Zimmer. Die Herberge liegt ganz friedlich da. Der Himmel ist noch tiefblau, Sterne funkeln wie an einer Lichterkette aufgereiht. Der Mond scheint heller als jede Straßenlaterne. Santiago de Compostela liegt im Dunkeln vor mir. Ganz alleine beginne ich also meinen letzten Tag. Gerade sind meine Beine in den Tritt gekommen, da bin ich auch schon da. Kurz knarrt die hölzerne Brücke unter meinem Pilgergewicht, unter mir die Autobahn. Noch sind alle Geschäfte geschlossen, mal hat hier oder dort ein kleines Café auf. Doch ich frühstücke erst in der Altstadt. Den Muscheln auf dem Boden folgend, werde ich dorthin geleitet ohne die Kathedrale auch nur zu erahnen... Von einem Moment zum anderen steht sie da. Der große Platz davor ist wie ausgestorben. Kaum ein Mensch ist unterwegs. Kein anderer Pilger, keine Touristen. Im Morgenlicht ragt sie in den Himmel. Ich stehe da, setze mich, starre sie an. Es ist Viertel nach acht. Nichts regt sich. Die Stadt ist wunderbar ruhig. Das soll das Ziel sein? Meines ist es nicht. Mein Körper ist rastlos. Will weiterziehen.

Das Pilgerbüro macht um neun Uhr auf, ich muss nicht Schlange stehen, nur mich von einem niederländischen Pärchen die Ohren blutig labern lassen. Gestern in der Herberge hatten wir bereits Bekanntschaft gemacht. Es geht schneller als gedacht. Ein Kreuzchen entweder bei den religiösen, religiösen und kulturellen, kulturellen oder sonstigen Gründen für die Pilgerschaft setzen und wenig später halte ich sie in der Hand. Die Compostela. In schönstem Latein. Constantium Gräsche hat am 3. September 2012 ihre Pilgerfahrt abgeschlossen.

In einem Café nahe der Kathedrale frühstücke ich in Ruhe, kehre dann zurück zum Kirchplatz. Durch den Seiteneingang komme ich hinein in die Kathedrale. Es werden gerade Laude gelesen. Die Schlange vor der Statue des Apostels ist so gut wie inexistent. Nur eine Gruppe italienischer Pilger steht palavernd vor und nach mir an, um den Apostel Jakobus zu umarmen. Ich lasse mir Zeit, umarme ihn nicht wirklich, lehne nur meine Stirn an seinen goldumantelten Rücken und stehe für wenige Augenblicke direkt verdeckt hinter dem Pfarrer. Ein wenig verweile ich noch im Inneren der Kathedrale. Dann suche ich meine Unterkunft auf, lege meine Pilgerkluft ab und ziehe mir meine schon leicht zerfledderte Leinenhose an, die ich meist abends anhatte.

Um 12 Uhr findet der Pilgergottesdienst statt. Es ist touristischen Gruppen verboten währenddessen Führungen durch das Gotteshaus zu machen, auch Fotos sind ungebeten. Vorab übt eine Nonne mit den Gottesdienstgängern einige Gesangsstrophen ein, die immer wieder gesungen werden. Zunächst werden alle Nationalitäten der Pilger aufgezählt, die gestern und heute in Santiago de Compostela angekommen sind. Je nachdem, wo sie den Jakobsweg begonnen haben. Irún: Alemania. Ja, eine der wenigen hier. Eine Sekunde lang fühle ich mich beinahe persönlich angesprochen. Kurz wird dem deutschen und dem französischen Pfarrer das Wort erteilt, dann folgt ein eher unspektakulärer Gottesdienst, der sich gegen alle Zweifler richtet. „Si vivimos como agnósticos, pensamos como agnósticos.“ (Wenn wir wie Agnostiker leben, denken wir auch wie Agnostiker.) Außerdem sei es ganz leicht den Glauben zu verlieren, wenn das Zuhause frei von kirchlichen Symbolen sei.

Auf dem Platz vor der Kathedrale treffe ich Pascal wieder und auch Miriam, Paweł und Bartek tauchen wieder auf. Umarmungen und Glückwünsche. Da sitzen wir, essen, trinken, erzählen. Auch Bill sticht aus der Menschenmasse heraus. Nur Víctor ist schon wieder in Barcelona und auch Freddy ist gleich eine Stunde nach Ankunft in Santiago in den Bus Richtung Madrid gestiegen. Später dann schlendern auch Antonio und Sandra auf uns zu. Wir schicken die Pilgerpost los, um uns, alle die wir mittlerweile hier sind, gegen acht Uhr wieder vor der Kathedrale zu treffen.

Zusammen mit Antonio und Sandra gehe ich essen. Zur Feier des Tages so richtig im Restaurant mit Tisch, Gedeck. Frischer Fisch und dazu Weißwein. Santiago hat sich schlagartig verändert. Die Straßen sind vollgestopft mit Tischen und Stühlen, Pilgern, Touri-Pilgern und Touristen. Ich erkenne die Stadt kaum wieder. In einer kleinen Seitengasse lassen wir uns in die Terrassenstühle einer Bar sinken und stoßen erneut an. Heute darf das sein. Wir werden zu einer queimada eingeladen, einem traditionellen Getränk Galiciens. Hinein gehören Schnaps, Kaffeebohnen, Zitrusfrüchte und Zucker. Wenn es dunkel ist, wird das Gebräu ähnlich wie der Zuckerhut einer Feuerzangenbowle entzündet. Deshalb müssen wir uns die Zeit vertreiben, nehmen in einer anderen Bar Platz und lauschen typischer galicischer Musik: Dudelsack, Akkordeon und Tambor. Schon ist es acht und tatsächlich hat die Camino-Post ihre Runde gemacht. Es hat sich eine ansehnliche Gruppe aus Pilgern zusammengefunden. Umarmungen, Glückwünsche, Fotos. Die Runde wird immer größer und geselliger. Ein Großteil derer, die mich auf dem Weg begleitet haben, ist hier. Wieder und wieder stelle ich mir die Frage, ob das wirklich das Ende des Weges ist. Da draußen warten noch so viele Fragen darauf, beantwortet werden zu können.

Plötzlich traue ich meinen angetrunkenen Augen nicht mehr. Inmitten der vielen bekannten Gesichter mischen sich zwei weitere. Auch meine Ohren bestätigen, dass ich die beiden Personen, die da geradewegs auf uns zugelaufen kommen, kenne. Wenige Sekunden später liege ich mit Francesc und Cristina in den Armen. Niemals hätte ich geglaubt, sie hier in Santiago wiederzusehen. Unglaublich. Die schönste Überraschung am heutigen Tage. Als alle anderen in ihre Betten huschen, ziehe ich mit Francesc und Cristina noch durch die nächtliche Stadt. Erst um 2 Uhr morgens liege ich in den Federn.

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