Mittwoch, 7. November 2012

Laufen lernen - Tag 26

Aufstehen. Das war die letzte Zeit deutlich einfacher. Fällt es mir schwerer, weil jeder Morgen ein Morgen näher am Ziel ist? Ich verlasse La Caridad gegen acht. Die Kälte des Morgens kündigt bereits die Hitze des bevorstehenden Tages an. Es ist die letzte Etappe am Meer, der Abschied fällt mir jetzt schon schwer. Nur noch Wiesen und Wälder, die Vorstellung davon lässt mich keine Luftsprünge machen. Ich bin angespannt, verfehle die Pfeile und wegweisenden Muscheln. Erst denke ich, es ist mein Körper, dem es wiederholt zu bunt wird, dann wird mir bewusst, es ist der Kopf.

In Tapia de Casariego würde ich am liebsten bleiben, dort steht eine kleine Pilgerherberge umrahmt von Steilklippen. Die Holztreppe zum steinigen Strand hinunter, dort verweile ich bis ich mich irgendwann wieder losreiße. Die Sonne steht hoch am Himmelszelt, der Meerwind frischt ein wenig auf. Ich habe immerfort das Gefühl, mich zu verlaufen. Eigentlich soll es eine wunderschöne Strecke entlang des Meeresufers sein, doch vom Meer sehe ich nicht mehr so viel wie erhofft. Hohe, trockene Maisfelder, dürftige Markierung und die anstehende Hitze. Nur der letzte Teil führt über zwei, drei Strände. Die sind allerdings überfüllt. Viel zu viele Menschen für meinen Geschmack. Ich frage immer wieder nach dem Weg und finde so doch noch zum heutigen Ziel. Als ich den ersten Schritt auf die 600 Meter lange puente de los santos, die Brücke der Heiligen, setze, hellt sich meine Miene auf. Dies ist der Übergang von Asturien nach Galizien. Trotz der Autos, die zu meiner Linken vorbeibrettern, ist es ein unbeschreibliches Gefühl. Ich scheine fast in 60 Meter Höhe zu schweben, das Meer ohne Horizont vor meinen Augen. Der Blick nach unten bringt mich ins Taumeln. Die Wellen formen ein Netz, in dessen Mitte mein Schatten steht. Irgendetwas zieht mich förmlich nach unten. Das offene Meer vor mir, im Rücken der breite Fluss. Der Abschied steht kurz bevor.

Die winzige Herberge bietet Platz für zwölf Pilger, ich bin eine der ersten, die sich Bett mit Ausblick auf die Flussmündung sichert, denn das Häuschen inklusive schräger Dachterrasse liegt tatsächlich direkt neben der Heiligen-Brücke an den Klippen. Hier trocknet die handgewaschene Wäsche im Nu. Es gibt sogar eine gut ausgestattete Küche. Nur leider kein Geschäft, das offen hat. Es ist mal wieder Sonntag. Manchmal trägt es auch Nachteile mit sich, wenn man zeitfastet.

Gegen Abend mache ich mich mit Alex, einem Pilger aus Madrid, seinem Pilgerkumpanen, Paweł, Freddy und Bartek auf zum Praia de Catedras. Alex ist dort einmal als kleines Kind gewesen und hat ihn als den schönsten Strand, den er jemals gesehen hat, in Erinnerung. Da Ribadeo selbst keinen Strand hat, fahre ich mit. Den Weg dorthin bestreiten wir mit dem Bus. Als wir aussteigen, erschlägt mich vor allem eins: die Menschenmassen. Der Kathedralenstrand ist völlig überfüllt. Außerdem ist es verboten, hier schwimmen zu gehen, angeblich aufgrund von Quallen. Den Jungs macht das nichts aus, sie stürzen sich trotzdem in die Fluten, keine fünf Minuten später jagen die Rettungsschwimmer in ihrem Schnellboot heran und scheuchen sie wieder raus.
Gegen 21 Uhr kommen zwei junge Männer von der Guardia Civil in der Herberge vorbei, um unsere Daten aufzunehmen und uns jeweils fünf Euro abzuzwacken. Danach ist sie wieder ganz unser. Víctor hat in dem Ortskern eine kleine Bar aufgetan, zu der wir danach fast geschlossen schlendern. Sonst hat kaum etwas geöffnet hier. Völlig unvorbereitet auf die ganze Pilgerschar steht die Bedienung des Gayoso in ihren pinkfarbenen T-Shirts da. Eigentlich war die fiesta de pulpo, das Tintenfischfest, schon im Begriff sich zu verlaufen. Wir bringen noch mal neuen Schwung in den Laden und werden mit pulpo a la gallega verköstigt. Herrlich.

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