Sonntag, 4. November 2012

Laufen lernen - Tag 23


Ich schlage die Augen auf, die ersten Pilger rascheln mit ihren Plastiktüten peu à peu alle anderen wach. Einen kurzen Moment liege ich da, spüre jeder Faser meines Körpers nach und merke, mir geht es gut. Nur die morgendliche Müdigkeit. Wandersachen an, die letzten, noch klammen Wäschestücke von der Leine gefischt, meine Zehennägel verarztet, Stiefel geschnürt und auf geht’s.

Zusammen mit Juan Carlos, Mariam und Libertad. Zum nächsten Café im Ortskern, das für 2,80 Euro ein Pilgerfrühstück anbietet. Draußen auf der Terrasse lassen wir uns in die Korbstühle sinken, noch leuchten die Straßenlaternen. Gestern war meine Überlegung, einen Teil der Strecke mit der FEVE zu fahren. Doch ich entscheide mich heute Morgen dagegen. Der Weg windet sich in die Höhe, es sind bereits eine Menge Pilger unterwegs. Ich ziehe das Tempo wie jeden Morgen (an dem es mir gut geht) an und laufe, laufe, laufe. Dabei überhole ich zwei Damen, die sich auf Deutsch unterhalten, dass es unglaublich sei, manche hielten es wohl für ein Rennen. ¡Buen camino! 

Libertad, die Juan Carlos und mich vor ein paar Tagen hinter sich gelassen hatte, bleibt hinter mir, obwohl sie arge Knieprobleme hat und sich mittlerweile schon Schmerzmittel hineinpfeift. Im Zickzack werden wir über Hügel geschickt. Wir kommen an einem verkohlten Stück Waldfläche vorbei, hier standen zumindest bis vor Kurzem noch dicht an dicht Eukalyptusbäume. Vor ein paar Tagen hat es dann gebrannt.

In Muros de Nalón suchen wir die Touristeninformation auf, die sich in einem hórreo befindet, einem alten, nun umfunktionierten Kornspeicher aus Holz auf Steinplatten. Diese mir bis dahin fremden Gebilde prägen die ländliche Gegend schon seit geraumer Zeit. Ein Stempel mehr ziert unser aller Pilgerpass. Im Ort selbst lassen wir uns auf der Terrasse einer kleinen Bar nieder und trinken einen Kaffee, essen selbst mitgebrachte Brote und getrocknete Feigen...

In Schlangenlinien wandern wir durch Eukalyptuswälder. Man könnte meinen, es würden ständig kneternde Türen geöffnet und geschlossen. Gruselig. Wahrscheinlich ist es nur der seichte Wind in den Wipfeln der meterhohen trockenen Stämme. Mariam und Libertad haben Juan Carlos und ich bereits aus den Augen verloren. Oder nicht? Sitzen die beiden etwa im Gebüsch und wollen uns Angst einjagen?
Und dann, als wir uns dem nächsten Ort nähern, vernehmen wir plötzlich ein dumpfes Schlagen, das die Luft erzittern lässt. Dieses Geräusch können wir uns nicht erklären. Es hängt einfach so zwischen allem.

Es ist vorbei mit der Waldidylle. Plötzlich müssen wir eine Schnellstraße überqueren, die extrem dicht befahren ist, keinerlei Ampel oder Zebrastreifen, noch sonst eine Überquerungshilfe in Sicht, vielmehr noch ein weiteres Erschwernis: Die Stelle liegt direkt hinter einer uneinsichtigen Kurve. Von Kolumbien bin ich ja einiges gewöhnt. doch die Knie schlottern auf der anderen Seite doch merklich. Straße, Baustelle, Straße, Überquerung der Schnellstraße. Wir sind ein wenig ratlos, ist das hier wirklich der Jakobsweg? Das haut doch alles vorn und hinten nicht hin. Wir schlagen uns durch und landen auf einer nicht mehr befahrenen Schnellstraße, die uns wiederum zurück ans Meer führt. Die gelben Pfeile zeigen wieder ins Landesinnere, eine Muschel dagegen zeigt in Richtung Kieselstrand. Wir fragen nach. Es gibt wohl eine Möglichkeit auch über den Strand bis nach Soto de Luiña zu gelangen. Also wählen wir die Meeresvariante. Dort unten machen wir erst einmal Rast. Meeresluft atmen, die Lungen weiten und den Kopf ein wenig von all den strapaziösen Straßenerfahrungen lösen. Das hat mir gefehlt in den letzten Tag. Mich einfach an einen beinahe einsamen Strand setzen und ein- und ausatmen, tief ein- und ausatmen.

Ohne die gelben Pfeile oder andere Pilger-Hinweise machen wir zwar einen Umweg, kommen dennoch irgendwann in Soto de Luiña an. Die Herberge ist gut gefüllt. Später ziehe ich aus dem Doppelstockbetten-Saal um in den Nebenraum, in dem Luftmatratzen ausgelegt wurden. Viel besser als die durchgelegenen Matratzen.

Beim etwas dekadenten Supermarkt-Menü mit Herzmuscheln, Miesmuscheln und hervorragendem Schafskäse, dazu natürlich günstiger Wein draußen auf der überdachten Herbergsterrasse treffe ich wieder auf Pascal. Ein paar Tage nur haben wir uns nicht gesehen. Diese Tage kommen mir vor wie Monate. Wir bringen uns gegenseitig auf den neusten Stand der Dinge. Währenddessen ist der Himmel immer dunkler geworden und ergießt sich nun über dem alten Schulgebäude.

Heute Abend gehen wir – Juan Carlos, Mariam, Libertad und ich – in eine der wenigen Dorfkneipen, um uns das Fußballspiel zwischen Barça und Real Madrid anzusehen, zumindest die erste Halbzeit. Oder auch nur, um noch einen letzten gemeinsamen Abend zu verbringen. Denn Libertad muss aufgeben, man sieht es ihr an, irgendwie bricht da ein Stück von dem weg, was sie erreichen wollte. Doch ihr Knie, ihr ganzer Körper, und auch der Kopf machen die Strapazen nicht mehr mit. Nicht nur Mariam verliert damit ihre Laufpartnerin. Auch ich bin ab morgen wieder alleine unterwegs. Juan Carlos hat die Schnauze voll von dem vielen Asphalt, sein Ziel wäre Ribadeo gewesen, doch der Bus bringt ihn morgen zurück nach Barcelona.

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