Als es noch stockduster ist, frühstücke ich ganz alleine im
Frühstückssaal. Bei Vollmond und langsamer Dämmerung beginne ich den Morgen.
Die Kälte frisst sich in meine Knochen. Was bin ich froh über Sandras Jacke.
Ich begegne wirklich niemandem auf dem ersten Kilometer. Das trägt nur noch
mehr zu dem Schock bei, den ich bald schon erleiden werde. Im Ortszentrum
treffe ich dann, rein aus Zufall, auf dem Zebrastreifen Antonio. Wir
beschließen heute gemeinsam zu laufen, also eher so im stillschweigenden Einvernehmen. Denn was kein Zufall ist, sind die Pilgermassen, die bereits
unterwegs sind. Antonio erzählt, wie sie alle schon früh um sechs ihre Sachen
zusammen gepackt haben, um möglichst vor allen anderen ihrem Ziel entgegen
eilen können.
Ehrlich gesagt ist mir sogar nach ein wenig angenehmer
Gesellschaft und Antonio ist eindeutig einer der Menschen, mit denen ich gut
laufen kann. Wir legen ein ordentliches Tempo vor und ziehen an den zumeist
unbekannten Pilgergesichtern vorbei. An der casa calzada legen wir unsere
einzige Kaffeepause ein, den Spaniern scheint der Kaffee ins Blut übergegangen
zu sein... Dort treffen wir tatsächlich das dänische Pärchen, die beiden
Niederländerinnen, dann Udo und Michael sowie die beiden Polen, Onkel und
Neffe, die ich seit einer gefühlten Ewigkeit immer wieder sehe. Wir laufen
weiter, unterhalten uns über Literatur, Politik und allerlei andere Themen.
Der weiche Waldboden tut den Füßen gut und der kühle Schatten dem Kopf. Ohne weitere Pause also laufen wir nach Pedrouzo. Wie eine riesige Ameisenkolonne kriechen
die Pilger feinsäuberlich an einer Kette aufgereiht den Jakobsweg entlang. Aus
der Vogelperspektive muss das Ganze noch viel belustigender aussehen als aus
meiner Froschperspektive.
Antonio bleibt wie viele Pilger in Pedrouzo. Da der Tag noch
sehr jung ist und wir für die ersten zwanzig Kilometer tatsächlich weniger als
vier Stunden benötigt haben, laufe ich weiter. Nein, nicht ganz bis nach
Santiago de Compostela. Es gibt noch eine Übernachtungsmöglichkeit fünf
Kilometer vor der Kathedrale. Darauf hat mich Juan Carlos hingewiesen bevor wir
uns voneinander verabschiedet haben. Damit ist heute der Monte do Gozo mein
Ziel. Der Nachmittag wird mit jedem Schritt länger, die Sonne brennt immer stärker,
die Hitze drückt meine Schritte zusammen. Sie werden immer kleiner, immer
langsamer. Nur lassen sich meine Füße nicht mehr anhalten. Egal wie langsam sie
mich vorantragen, sie bleiben nicht mehr stehen. Selbst bei der Gelegenheit
etwas Kühles zu trinken nicht. Es geht voran, wenn auch unmerklich. Das letzte
Stück von Pedrouzo aus ist nicht mehr so stark belaufen, der Großteil ist wohl
dort in der Herberge geblieben. Ganze Teilstrecken laufe ich alleine durch den
lichten Wald. Auf einem Baumstumpf sitzt ein älterer Herr, der mir einen buen
camino zuruft, ich ihm das erwidere. Und er mich mit starkem deutschen Akzent fragt „¿español?“, worauf ich
dummerweise antworte: „Nein, Deutsche.“ Und schon klinkt er sich ein. Er
erzählt mir von seinem Unfall, den er hatte, bei dem er sich am Auge verletzt
hat und trotzdem nach einem Tag schon wieder topfit weiterläuft. Dann sei auch
noch seine ganze Seite vom Sturz blau. Ja, was soll ich sagen. Mein Mitleid
habe ich leider irgendwo auf dem Weg verloren. Er merkt wohl, dass ich lieber
alleine laufe und lässt mich von dannen ziehen.
Vielleicht fehlen nur noch ein paar Kilometer, doch im
Grunde spielt das keine Rolle. Es ist nicht wichtig. Der Weg ist nie zu Ende.
Santiago de Compostela war nie mein Ziel. Nomadenleben, Menschen kennen lernen,
sich selbst. Eine Analogie zu meinem Leben. Könnte ich tatsächlich an allen
Orten der Welt leben? Will ich das? Will ich jemals irgendwo ankommen?
Ich nehme mich selbst nicht mehr so ernst. Wenn die Füße
schmerzen, dann schmerzen sie. Was ist schon dabei. Ich kann den Schmerz
akzeptieren, wodurch er verschwindet, in mein Inneres wandert. Wonach suchen
all die Menschen auf diesem einen Weg? Gesellschaft? Leidensgenossen? Sicherlich
gibt es zahlreiche Gründe, die sich mir niemals erschließen werden. Ich habe
gelernt, gewisse Dinge oder gar Menschen auszublenden. Wenn ich sie nicht sehe,
sehen sie mich auch nicht. Ganz einfach. Geht man diesen Weg, um sich selbst
etwas zu beweisen oder um es anderen unter die Nase reiben zu können? Wer bin
ich ganz im Inneren? Will ich mir solche Fragen überhaupt stellen? Schmiede ich
Pläne ohne sie umzusetzen und mache dann lieber das, was mein Bauch mir sagt?
Vielleicht. Warum immerzu schwärmen und nicht einfach bloß machen oder gar
schweigen. Ja, schweigen. Das ist eine Aufgabe, die ich bis jetzt nur im Ansatz
erfüllen kann. Plötzlich sprudeln sie hervor, all diese ungestellten Fragen.
Fast bin ich da. Irgendwann stehe ich neben einer kleinen
Kapelle und vor dem riesigen Denkmal, das zum Papstbesuch am Monte do Gozo (zu
Deutsch: Berg der Freude) errichtet wurde. Die Herberge ist riesig, in einem
schier unendlichen Gang gibt es hunderte von Zimmern mit je acht Betten. Ein
letztes Mal Wäsche waschen. Morgen. Ja, morgen...
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