Sonntag, 11. November 2012

Laufen lernen - Tag 30

Ein Geburtstagsständchen für Antonio weckt die Herberge an diesem Tag. Sandra, die am Samstag zu einer Hochzeit in Santiago de Compostela eingeladen ist, hat gestern ihr Auto aus Vilela, ihrem Startort, geholt und hat nebenbei eine Kuchen für das Geburtstagskind organisiert und meine Wanderstöcke, die ich schon seit geraumer Zeit nicht mehr anrühre, in ihrem Wagen verstaut. Mit guter Laune laufe ich los. Über Waldwege gesäumt von Pinien und Eichen. Vereinzelt ein paar verstreute Steinhäuser, herumrennende Hühner und Ziegen, gemächlich grasende Pferde und Kühe. Landleben. Mitten auf den Felder stehen große Bäume.

Wie jeden Morgen überhole ich erst das dänische Pärchen und dann Pascal. Die „Morgenkonstante“ nennt er mich. Er läuft immer ein wenig früher los als ich, doch mein Morgentempo sorgt dafür, dass ich ihn recht bald einhole. Bereits am Rascheln meiner Hose und meinem Schritt erkennt er mich. Ohne sich umzudrehen grüßt er mich. Eine kurze Morgenrunde Philosophie: Wie lässt sich die Erfahrung des Pilgerns auf den Alltag übertragen?

Nach den ersten zehn Kilometern setzen wir uns in einer perfekt am Jakobsweg positionierten Bar an den runden Tisch und trinken unseren täglichen café con leche. Dann stapfe ich davon. Erst in Baamonde mache ich wieder Halt. Vor dem einzigen Supermarkt des Ortes hat sich eine italienische Pilgertruppe versammelt. Sie laden mich ein, bei ihnen Platz zu nehmen. Gut, eine Mittagspause will ich so oder so machen. Also belege ich mein Brot mit gutem Dosenthunfisch und unterhalte mich ein wenig mit ihnen. Ein bisschen arrogant sind sie schon. Einer unter ihnen fragt mich, seit wann ich denn bereits unterwegs sei. Da ich nicht genau weiß, welcher Tag heute eigentlich ist, nenne ich den 2. August als meinen Starttag. Daraufhin freut er sich ungemein, weil er erst fünf Tage später angefangen hat. Als ob das ganze hier ein Wettbewerb sei. Für einige anscheinend schon. Udo und Michael kommen vorbei und tragen mir an, dass Antonio und Sandra an der Bushaltestelle sitzen. Wir haben nämlich geplant ein gemeinsames Geburtstagabendessen vorzubereiten. Weg von den Italienern, hin zu den beiden Spaniern. Sandra hat die Etappe ganz schön mitgenommen. Sie entscheidet sich dazu, den Bus zurück nach Vilalba zu nehmen und mit ihrem Auto bis nach Miraz zu fahren.

Antonio und ich laufen weiter. Jeder in seinem Tempo. Ein kurzes Stück Straße, dann tut sich ein märchenhafter Eichenwald vor mir auf. Tief atme ich ein, die Luft flimmert grünlich. Die alten Bäume knarzen, ein paar Vögel piepsen vor sich hin, eine leise Brise raschelt durch das Blätterdach. Herrlich. Dann lichtet sich der Wald, ein paar Örtchen, ein Weiler hier, ein Weiler dort. Etwas Seltsames begegnet mir dann doch noch auf dem Weg. Ein Stand mit allerlei Pilgerzubehör – Muscheln, Wanderstöcke, Hüte, Pins, etc.–, dadurch wird mir bewusst, es ist nicht mehr weit bis zum vermeintlichen Ziel. Ich dachte eigentlich um diesen ganzen Mist auf dem Küstenweg herum zu kommen, aber auch hier wird der Jakobsweg immer mehr zum Konsumgut. Noch ein Stückchen Straße und plötzlich habe ich mehr als 40 Kilometer geschafft. Ohne weiteres.

Die Herberge wird auf Spendenbasis geführt. James und Micheal von der britischen Jakobsweggesellschaft Confraternity of Saint James nehmen mich auf, zeigen mir die neurenovierten Gemächer. Eine heiße Dusche und plötzlich tauchen wieder ein paar bekannte Gesichter auf. Die Italiener sind natürlich auch dabei. Nur Sandra wird kein Einlass gewährt, da sie den beiden Pilgervätern suspekt ist. Wo gibt es denn so was, eine Pilgerin mit Auto? Es ist ihnen auch nicht zu verdenken.

Im Nachmittagslicht sitzen wir mit Geburtstagsbier vor der einzigen Kneipe des Dorfes und stoßen zusammen an, Antonio, Sandra und ich. Anstatt Autos trotten hier ganze Rinderherden auf dem Asphalt entlang und hinterlassen fladenweise ihre ganz eigenen Spuren. Dabei werden sie von Familien angetrieben. Landidylle. Es gibt hier ganze 42 Einwohner und jeden Tag stoßen bis zu 26 Pilger hinzu.
Am Abend überzeugen wir dann die Pilgerväter, dass Sandra zumindest die luxuriös eingerichtete Küche für das Essen mit uns teilen darf. Pascal steuert einen Salat zun den Spaghetti mit Zucchini bei. Punkt neun müssen wir alle aus der Küche verschwinden, denn dann wird hier das Frühstück für den morgigen Tag vorbereitet. Das ist unglaublich selten.

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