Montag, 5. November 2012

Laufen lernen - Tag 24


Tatsächlich. Der Abschied von einem Menschen, den ich sehr lieb gewonnen habe, klopft am Morgen bewölkt an die beschlagenen Fensterscheiben. Wir frühstücken auf den Holzbänken und versprechen uns, uns irgendwann wieder zu sehen. Eine letzte lange Umarmung, Rucksack auf und ohne zurück zu schauen Luarca entgegen.

Die fast unbefahrene Straße liegt im Morgennebel da, es wird jeden Tag kälter. Ein Schritt und noch ein Schritt. Die ersten fünfundzwanzig Kilometer für heute schlengeln sich über eine alte, kaum befahrene Nationalstraße. Schatten überall, riesige Täler und Hügel. Straße rauf, Straße runter, steile Kurve. Ab und an rast ein Auto an mir vorbei. Einmal sogar ein Bus. Doch größtenteils begegne ich niemandem. Dazwischen immer wieder kleine Dörfer, in denen ich nach Wasser frage und in denen ich gefragt werde, ob ich tatsächlich alleine unterwegs sei. Ja, doch, seit heute wieder. Binnen fünf Stunden bin ich in Cadavedo. Unglaublich. Und noch strotzt mein Körper nur so vor Kraft. In der kleinen Herberge, die für zwölf Pilger Unterschlupf bietet, lege ich eine Mittagspause ein.

Ich überlege noch einmal und ja, ich will weiterziehen. Auch wenn fünfzehn Kilometer mehr nicht das leichteste Unterfangen ist. Die Hitze kommt auf, der Weg ist schlecht markiert, sodass ich in Queruás eine Extraschleife drehe, dort an einem großen Hof meinen Wasservorrat auffüllen lasse und verwirrt nach Markierungen Ausschau halte. Am Kreisel stehe ich dann tatsächlich ohne weiter zu wissen. Ein Motorrollerfahrer winkt mir den Weg.

Es wird schwül, der Himmel zieht sich zu und einige dicke Tropfen fallen von oben herab. Wieder Asphalt unter den Sohlen spüren, ist auch nicht Wunsch jeden Pilgers. Wirklich sicher bin ich mir heute nicht, immer wieder frage ich Cordula nach Rat, sie kann mir nur leider kaum weiterhelfen, ihre Beschreibungen und die landschaftlichen Gegebenheiten wollen sich nicht unbedingt gleichen. In einer etwas verlassenen Gegend mache ich Halt, setze mich auf einen Stein und starre eine Weile gen Wald. Als ich mich wieder aufmache, springt ein Rehkitz durchs Gebüsch.

Ein Stück weiter des Wegs steht auch das kleine Hotel, von dem bei Cordula die Rede ist, dort angekommen schlage ich den Pfad entlang eines Flüsschens bis hin zum Meer ein. Dann weisen die Muscheln allerdings wieder auf die Straße. Zwei Abzweige durch den Wald. Beim zweiten tut sich eine gruselige Umgebung auf. Alte Möbel türmen sich im Gestrüpp, ein Sofa, Fernseher und allerlei anderer Sperrmüll liegt mitten im Gestrüpp verstreut herum. Und dann sehe ich sie. An die 50 Puppen, nebeneinander aufgereiht, manchen fehlen ein paar Gliedmaßen, anderen ein Auge. So schnell wie möglich fliehe ich vor den Spukgestalten.

Müde bin ich, doch zur Ruh’ gehen kann ich leider noch nicht. Kurze Pausen am Straßenrand und irgendwann, es ist schon mindestens fünf Uhr nachmittags, lesen meine müden Augen Almuña auf dem Ortseingangsschild. Endlich. Das hellblaue Häuschen ganz am Ende der Straße ist die Pilgerherberge. An der Tür ein Zettel, die Herberge sei voll. Der etwas seltsame hospitalero ist noch nicht da. Einige der Pilger meinen, es müssten eigentlich noch ein paar Betten frei sein. Ein Radpilger bietet mir sogar seinen Schlafplatz an. Zunächst einmal gehe ich duschen und dann nach einem Telefonat steht der hospitalero auch vor mir. Sein Humor, nun ja, verschroben. Seine Katze bewacht den Vogelkäfig, die Wellensittiche darin scheinen immer wieder kurz vorm Herzinfarkt zu stehen. Seine Antwort auf die Frage, ob noch ein Bett da sei, für so eine hübsche Pilgerin schon.

Im Schlafsaal entdecke ich eine mir bekannte Schnorchelausrüstung. Wenig später liegen Víctor und ich uns in den Armen. Dass ich ein wenig geschwächelt habe, hat unter meinen Pilgerbekanntschaften schon längst die Runde gemacht, umso erstaunter sind sie, dass ich wieder aufgeholt habe. Heute liegen mehr als 40 Kilometer hinter mir.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen