Die Tagesaufzeichnungen verschwimmen so langsam. Der Montag
wird durchgestrichen, es ist nämlich schon Dienstag. Das ist aber auch fast
egal.
Die Nacht hätte ein wenig entspannter sein sollen, doch die
Nachwirkungen des opulenten Mahls und des Sonnenstichs kann ich nicht ignorieren. Seit zwei Tagen herrschen Bauchschmerzen und Durchfall vor und
nichts aus der Reiseapotheke hilft wirklich. Wenn ich alleine laufen würde, wäre
ich wahrscheinlich trotzdem ohne zu überlegen losgelaufen. Juan Carlos, ganz in
der Aufpasserrolle, ermahnt mich zu Langsamkeit. Erst einmal setzen wir uns auf die
Terrasse eines Cafés und frühstücken in aller Ruhe. Ganz in der Nähe sitzt ein
Wiener mit seltsamer Rucksackkonstruktion. Auf einer Art Sackkarre klemmt sein
Wanderrucksack, anstatt einer durchgängigen Zugvorrichtung ragen zwei
Metallstreben mit Polsterung in Richtung Hüfte. Ob das wirklich bequem ist? Das
einzige, was ich bis jetzt noch nie als übermäßig schwer oder störend empfunden
habe, ist der Wanderrucksack.
Tostadas mit Salz und einem Hauch von Olivenöl sowie ein
Pfefferminztee beruhigen meinen Magen etwas. Er grummelt jedoch laut auf als
ich nach drinnen laufe, um mich ein letztes Mal zu erleichtern und unsere heiß
und innig geliebte Freundin aus Toledo an der Bar sitzen sehe. Noch gab es
keinen Blickkontakt. Vielleicht. Ja, vielleicht hat sie mich noch nicht
gesehen. Zurück an unserem Tisch weise ich Juan Carlos diskret auf unsere
Pilgerfreundin hin, er hat sie schon entdeckt und sie leider auch ihn.
Wir
packen unsere Sachen, beiden geht es nicht blendend, wie wollen nur kurz erneut
„Auf Wiedersehen“ sagen. Zu früh gefreut. Schnell stürzt die Sabbeltasche ihren
café con leche hinunter und läuft uns hinterher. Sie war ja schon schnell
unterwegs heute Morgen. Die läppischen sechs Kilometer von Sebrayu aus. Sie
will uns also tatsächlich begleiten. Welch ein Glück! Endlich jemand, der
unsere sonst so morgendliche Stille durchbricht mit höchstinteressanten
Geschichten aus dem wahrhaft interessanten Leben einer alleinstehenden
Toledanerin, Mitte bis Ende vierzig, von Beruf Englisch- und Sportlehrerin, die
täglich mindestens einmal mit ihrer Mutter telefoniert. Es gäbe noch so vieles
Interessantes über sie zu erzählen. Allerdings habe ich innerlich geschrien, da
konnte ich nicht alles mithören. Und das, was ich so zwischen meinen Schreien
aufgeschnappt habe, habe ich mit der Melodie von „Ich komme davon...“ von den
Einstürzenden Neubauten weggesummt. Mir ist schlecht. Ich muss den Hüftgurt
lösen, der mir auf die untere Magengegend drückt. Ein winziger Frosch sitzt auf
dem Weg, ich hocke mich neben ihn, in der Hoffnung auf seine Größe zu
schrumpfen und fortspringen zu können.
Mein Schritt verlangsamt sich unmerklich, ich falle leicht
zurück, an einer Bank sinke ich erschöpft nieder. Rosie sieht mich an, meine
Ohren habe ich aus meinem Kreislauf ausgeklinkt, mehr als ein dumpfes Rauschen
höre ich nicht, also muss ich ihren Ratschlägen auch keinerlei Beachtung
schenken. Juan Carlos setzt sich neben mich. Wir warten eine ganze Weile bis
Rosie verschwunden ist. Sie wird uns am Scheideweg endgültig verlassen, denn
wir werden dem Camino del Norte weiterhin folgen, sie biegt an der Abzweigung
in Richtung Oviedo ab, von wo aus der Camino Primitivo beginnt (sie wird
allerdings den Bus nach Hause nehmen).
Wir laufen weiter, langsam. Bis zum
nächsten Lokal, dort trinke ich noch einen Pfefferminztee, mein Magen macht
nämlich weiterhin Sperenzchen. Juan Carlos verschreibt uns
Spaziergangtempo. Zwei Berge liegen vor uns. Langsam. Schritt für Schritt.
Kürzere Pausen. Die Sonne kommt hinter den Wolken hervor und ich verfluche sie
fürs Scheinen. Dichte Wälder und Stille, keine anderen Pilger kreuzen unseren
Weg. Schweigsam, wie um den Wortschwall Rosies mit einer Extraportion Stille
vertreiben zu müssen, spazieren wir durch den Norden Asturiens. Nach einer Rast
bei der Bar Pepito steigert sich das Tempo ein wenig. Dennoch, in Deva kommen
wir erst nach zehn Stunden (wohlgemerkt für etwa 20 Kilometer) an. Ich habe ein
verdammt schlechtes Gewissen gegenüber meinem Begleiter. Ohne mich wäre er
schon über alle Berge…
Dieses Mal werden die Pilger in kleinen hölzernen cabañas
auf dem Campingplatz kurz vor der Großstadt Gijón untergebracht. Es gibt sogar
ein Schwimmbecken, doch eine heiße Dusche muss reichen. Meinen Körper habe ich
so oder so schon überanstrengt. Im Restaurant bekomme ich eine Portion Reis,
ganz ohne alles, während Juan Carlos ein überteuertes Hühnchen isst. Die cabaña
teilen wir uns mit einem Radpilger, einem weiteren Spanier und einem Pärchen,
dem wir unterstellen, keine wirklichen Pilger zu sein. Welche Pilgerin hat
schon Ausgehkleidchen, Föhn und Schminke mit im Gepäck. Auch die mitgeführte
Styropor-Kühlbox prall gefüllt mit Bier- und Coladosen und Unmengen an Eis
erweckt einen ganz anderen Anschein. Um 22 Uhr (keine Seltenheit übrigens)
liege ich im Bett und schlafe bei Gemurmel von der Terrasse her ein.
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