Freitag, 2. November 2012

Laufen lernen - Tag 21


Die Tagesaufzeichnungen verschwimmen so langsam. Der Montag wird durchgestrichen, es ist nämlich schon Dienstag. Das ist aber auch fast egal.

Die Nacht hätte ein wenig entspannter sein sollen, doch die Nachwirkungen des opulenten Mahls und des Sonnenstichs kann ich nicht ignorieren. Seit zwei Tagen herrschen Bauchschmerzen und Durchfall vor und nichts aus der Reiseapotheke hilft wirklich. Wenn ich alleine laufen würde, wäre ich wahrscheinlich trotzdem ohne zu überlegen losgelaufen. Juan Carlos, ganz in der Aufpasserrolle, ermahnt mich zu Langsamkeit. Erst einmal setzen wir uns auf die Terrasse eines Cafés und frühstücken in aller Ruhe. Ganz in der Nähe sitzt ein Wiener mit seltsamer Rucksackkonstruktion. Auf einer Art Sackkarre klemmt sein Wanderrucksack, anstatt einer durchgängigen Zugvorrichtung ragen zwei Metallstreben mit Polsterung in Richtung Hüfte. Ob das wirklich bequem ist? Das einzige, was ich bis jetzt noch nie als übermäßig schwer oder störend empfunden habe, ist der Wanderrucksack.

Tostadas mit Salz und einem Hauch von Olivenöl sowie ein Pfefferminztee beruhigen meinen Magen etwas. Er grummelt jedoch laut auf als ich nach drinnen laufe, um mich ein letztes Mal zu erleichtern und unsere heiß und innig geliebte Freundin aus Toledo an der Bar sitzen sehe. Noch gab es keinen Blickkontakt. Vielleicht. Ja, vielleicht hat sie mich noch nicht gesehen. Zurück an unserem Tisch weise ich Juan Carlos diskret auf unsere Pilgerfreundin hin, er hat sie schon entdeckt und sie leider auch ihn.

Wir packen unsere Sachen, beiden geht es nicht blendend, wie wollen nur kurz erneut „Auf Wiedersehen“ sagen. Zu früh gefreut. Schnell stürzt die Sabbeltasche ihren café con leche hinunter und läuft uns hinterher. Sie war ja schon schnell unterwegs heute Morgen. Die läppischen sechs Kilometer von Sebrayu aus. Sie will uns also tatsächlich begleiten. Welch ein Glück! Endlich jemand, der unsere sonst so morgendliche Stille durchbricht mit höchstinteressanten Geschichten aus dem wahrhaft interessanten Leben einer alleinstehenden Toledanerin, Mitte bis Ende vierzig, von Beruf Englisch- und Sportlehrerin, die täglich mindestens einmal mit ihrer Mutter telefoniert. Es gäbe noch so vieles Interessantes über sie zu erzählen. Allerdings habe ich innerlich geschrien, da konnte ich nicht alles mithören. Und das, was ich so zwischen meinen Schreien aufgeschnappt habe, habe ich mit der Melodie von „Ich komme davon...“ von den Einstürzenden Neubauten weggesummt. Mir ist schlecht. Ich muss den Hüftgurt lösen, der mir auf die untere Magengegend drückt. Ein winziger Frosch sitzt auf dem Weg, ich hocke mich neben ihn, in der Hoffnung auf seine Größe zu schrumpfen und fortspringen zu können.

Mein Schritt verlangsamt sich unmerklich, ich falle leicht zurück, an einer Bank sinke ich erschöpft nieder. Rosie sieht mich an, meine Ohren habe ich aus meinem Kreislauf ausgeklinkt, mehr als ein dumpfes Rauschen höre ich nicht, also muss ich ihren Ratschlägen auch keinerlei Beachtung schenken. Juan Carlos setzt sich neben mich. Wir warten eine ganze Weile bis Rosie verschwunden ist. Sie wird uns am Scheideweg endgültig verlassen, denn wir werden dem Camino del Norte weiterhin folgen, sie biegt an der Abzweigung in Richtung Oviedo ab, von wo aus der Camino Primitivo beginnt (sie wird allerdings den Bus nach Hause nehmen).

Wir laufen weiter, langsam. Bis zum nächsten Lokal, dort trinke ich noch einen Pfefferminztee, mein Magen macht nämlich weiterhin Sperenzchen. Juan Carlos verschreibt uns Spaziergangtempo. Zwei Berge liegen vor uns. Langsam. Schritt für Schritt. Kürzere Pausen. Die Sonne kommt hinter den Wolken hervor und ich verfluche sie fürs Scheinen. Dichte Wälder und Stille, keine anderen Pilger kreuzen unseren Weg. Schweigsam, wie um den Wortschwall Rosies mit einer Extraportion Stille vertreiben zu müssen, spazieren wir durch den Norden Asturiens. Nach einer Rast bei der Bar Pepito steigert sich das Tempo ein wenig. Dennoch, in Deva kommen wir erst nach zehn Stunden (wohlgemerkt für etwa 20 Kilometer) an. Ich habe ein verdammt schlechtes Gewissen gegenüber meinem Begleiter. Ohne mich wäre er schon über alle Berge…

Dieses Mal werden die Pilger in kleinen hölzernen cabañas auf dem Campingplatz kurz vor der Großstadt Gijón untergebracht. Es gibt sogar ein Schwimmbecken, doch eine heiße Dusche muss reichen. Meinen Körper habe ich so oder so schon überanstrengt. Im Restaurant bekomme ich eine Portion Reis, ganz ohne alles, während Juan Carlos ein überteuertes Hühnchen isst. Die cabaña teilen wir uns mit einem Radpilger, einem weiteren Spanier und einem Pärchen, dem wir unterstellen, keine wirklichen Pilger zu sein. Welche Pilgerin hat schon Ausgehkleidchen, Föhn und Schminke mit im Gepäck. Auch die mitgeführte Styropor-Kühlbox prall gefüllt mit Bier- und Coladosen und Unmengen an Eis erweckt einen ganz anderen Anschein. Um 22 Uhr (keine Seltenheit übrigens) liege ich im Bett und schlafe bei Gemurmel von der Terrasse her ein.

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