Freitag, 16. November 2012

Laufen gelernt? - Tag 35


Überraschung! Ganz zu Ende ist das Abenteuer noch nicht. Mir bleiben noch drei Tage bis mein Flieger mich zurück nach Deutschland bringt. Morgens warte ich in Wanderkleidung mit Rucksack am Busbahnhof auf meine Mitfahrgelegenheit. Antonio und Sandra haben sich gestern noch dazu entschieden, heute ans Ende der Welt zu fahren. Da uns nicht mehr so viel Zeit bleibt, nehmen die beiden Pascal und mich mit. Normalerweise wäre es noch ein Drei-Tages-Marsch bis nach Fisterra. Auf dem Weg zum Treffpunkt kommen mir Pilger-Neuankömmlinge entgegen. Die Vorstellung erst gestern den Muscheln folgend zur Kathedrale gefunden zu haben, ist seltsam. Es kommt mir bereits vor wie eine halbe Ewigkeit. Vielleicht habe ich meine Pilgerfahrt in der Tat schon abgeschlossen?

Mit dem Auto fahren wir bis nach Corcubión, etwa 15 Kilometer vor Fisterra. Denn ein wenig Auslauf benötigen unsere Beine noch. Während Antonio und Sandra das letzte Stück bis zum Leuchtturm am Ende der Welt per Auto zurücklegen, laufen Pascal und ich. Jeder geht für sich. Es ist unglaublich schön. Viel Wald und Einsamkeit. Meinem Körper tut es gut zu laufen. Plötzlich taucht an meinem Blick-Horizont das Meer auf. Mein Herz springt in die Höhe, es geht mir gut. Zu meinen Füßen liegt der langgezogene weiße Sandstrand Praia de Langosteira. Zwei Kilometer laufe ich barfuß über den warmen Sand, durch das frische Meerwasser, finde kleine, winzige Jakobsmuscheln in unterschiedlichen Färbungen...

Da ich die letzten 100 Kilometer von Santiago de Compostela bis nach Fisterra nicht gelaufen bin, kann ich auch nicht in der Pilgerherberge nächtigen. Dennoch gibt es hier am Ende der Welt einige bezahlbare Hostels. Zusammen mit Pascal habe ich in einem reserviert. Albergue do Sol. Auf der Suche nach der Sonnenherberge treffe ich selbst hier am Ende der Welt auf bekannte Gesichter. Eva. Erholt, braun gebrannt sitzt sie im Schatten, ich geselle mich zu ihr, trinke etwas Kühles und unterhalte mich mit ihr über den Weg, der hinter uns liegt. Das letzte Mal habe ich sie in Comillas gesehen. Sie ist den Camino Primitivo gegangen, hat davor ein paar Etappen mit dem Bus gemacht und ist auf dem Weg von einem Hund angefallen worden. Plötzlich steht Pascal neben uns und wir diskutieren über die Hunde, die uns, bildlich gesehen, angefallen haben. Bei mir war es wohl mein eigener Körper.

Der Leuchtturm und damit das wirkliche Ende – zumindest für mich – muss noch ein wenig warten. Zunächst einmal beziehen wir eines der Mehrbett-Zimmer in der Herberge, legen uns ein Weilchen auf die faule Haut. Irgendwie würde ich dieses Ende gerne überspringen. Einfach schon im Flieger sitzen. Ohne Abschied vom Meer, vom Camino. Zurück ins Schneckenhaus, genug der frischen Luft, der durchgelegenen Matratzen.

Nach ein paar ruhigen Minuten in der Hippie-Unterkunft, begleitet von Gitarrenklängen, lädt mich Pascal auf einen letzten löslichen Kaffee ein. Frische Feigen liegen in der Küche frei zum Verzehr. Wir fühlen uns beide so als hätten wir das Pilgerdasein bereits hinter uns gelassen, vielmehr sind wir schon wieder in der Rolle eines Touristen. Später dann machen wir uns auf, stellen im Supermarkt unser letztes Pilgermahl zusammen: tortilla, Brot, Schafskäse, Oliven, eingelegte Paprika, grüne Tomate und eine Flasche Wein. Unsere Beine tragen uns ans Ende der Welt. Wider Erwarten kann man die Strecke fast bis zum Schluss mit dem Auto fahren, was dem Ganzen ein wenig die Idylle nimmt. Noch steht die Sonne hoch am Himmel, es windet sehr am Leuchtturm. Pascal dreht eine Runde, während ich da auf dem Felsen sitze und auf den endlosen Horizont starre. Ganz langsam stellt sich ein wohliges Gefühl ein. Es scheint als ob die Reise hier nun wirklich zu Ende sei, auch wenn ich nirgendwo „angekommen“ bin. Ebenso wenig habe ich etwas gefunden, denn ich habe nach nichts gesucht, was zu finden hätte sein können. Auch nicht mich selbst. Mein Inneres ist ruhiger geworden, vielleicht ein wenig ausgeglichener. Ob es sich gelohnt hat die Strapazen der letzten fünf Wochen auf sich zu nehmen? Wer weiß schon, ob sich jemals etwas lohnt im Leben. Ansichtssache.

Ganz langsam geht die Sonne in einem dichten Wolkenstreifen knapp über dem Horizont unter. Blutrot färbt sich der Himmel, wir stoßen an. Wie Affen sitzen sie da auf den Felsen: Pilger, Touristen, Touri-Pilger und Pilger, die sich bereits mehr als Touristen fühlen. Es stürmt als gäbe es kein Morgen. Pascal holt eine seltsam geformte Nektarine hervor und schnitzt ihr ein grinsendes Gesicht, ein Geschenk ans Ende der Welt. Die meisten Menschen verschwinden nachdem sich die Sonne gespiegelt im Meer versenkt hat.

Eines steht noch aus: das Verbrennen. Früher war es Tradition dem ankommenden Pilger in Santiago de Compostela seine Pilgerkluft abzunehmen, sie zu verbrennen und den Pilger neu einzukleiden. Das wird heute bei den Massen – 2011 kamen mehr als 270 000 Pilger in Santiago de Compostela an – nicht mehr zelebriert. Der Brauch wurde ans Ende der Welt getragen. Ich verbrenne meine Leinenhose, Pascal ein Paar Socken. Es ist nicht gerade leicht, einen windgeschützten Platz zu finden, außerdem wollen wir auch nicht das Gestrüpp in Flammen setzen.

Es brennt, die Flammen lodern im Wind empor. Zufrieden stehen wir vor dem Feuerspiel. So wie ich vorhin aufs Meeresende gestarrt habe, sehe ich nun ins Feuer. Mit dem restlichen Olivenwasser löschen wir die Glut. Es ist bereits stockdunkel und kalt. Der Wind fährt uns die Glieder. Keine Straßenlaterne, nichts leuchtet uns den Weg. Ein Spanier und ein Mexikaner stoßen zu uns, wir trotzen dem Wind und wandern die dreieinhalb Kilometer zurück in den Ort. Ende.

Donnerstag, 15. November 2012

Laufen gelernt - Tag 34


Still und leise verlasse ich früh am Morgen das Zimmer. Die Herberge liegt ganz friedlich da. Der Himmel ist noch tiefblau, Sterne funkeln wie an einer Lichterkette aufgereiht. Der Mond scheint heller als jede Straßenlaterne. Santiago de Compostela liegt im Dunkeln vor mir. Ganz alleine beginne ich also meinen letzten Tag. Gerade sind meine Beine in den Tritt gekommen, da bin ich auch schon da. Kurz knarrt die hölzerne Brücke unter meinem Pilgergewicht, unter mir die Autobahn. Noch sind alle Geschäfte geschlossen, mal hat hier oder dort ein kleines Café auf. Doch ich frühstücke erst in der Altstadt. Den Muscheln auf dem Boden folgend, werde ich dorthin geleitet ohne die Kathedrale auch nur zu erahnen... Von einem Moment zum anderen steht sie da. Der große Platz davor ist wie ausgestorben. Kaum ein Mensch ist unterwegs. Kein anderer Pilger, keine Touristen. Im Morgenlicht ragt sie in den Himmel. Ich stehe da, setze mich, starre sie an. Es ist Viertel nach acht. Nichts regt sich. Die Stadt ist wunderbar ruhig. Das soll das Ziel sein? Meines ist es nicht. Mein Körper ist rastlos. Will weiterziehen.

Das Pilgerbüro macht um neun Uhr auf, ich muss nicht Schlange stehen, nur mich von einem niederländischen Pärchen die Ohren blutig labern lassen. Gestern in der Herberge hatten wir bereits Bekanntschaft gemacht. Es geht schneller als gedacht. Ein Kreuzchen entweder bei den religiösen, religiösen und kulturellen, kulturellen oder sonstigen Gründen für die Pilgerschaft setzen und wenig später halte ich sie in der Hand. Die Compostela. In schönstem Latein. Constantium Gräsche hat am 3. September 2012 ihre Pilgerfahrt abgeschlossen.

In einem Café nahe der Kathedrale frühstücke ich in Ruhe, kehre dann zurück zum Kirchplatz. Durch den Seiteneingang komme ich hinein in die Kathedrale. Es werden gerade Laude gelesen. Die Schlange vor der Statue des Apostels ist so gut wie inexistent. Nur eine Gruppe italienischer Pilger steht palavernd vor und nach mir an, um den Apostel Jakobus zu umarmen. Ich lasse mir Zeit, umarme ihn nicht wirklich, lehne nur meine Stirn an seinen goldumantelten Rücken und stehe für wenige Augenblicke direkt verdeckt hinter dem Pfarrer. Ein wenig verweile ich noch im Inneren der Kathedrale. Dann suche ich meine Unterkunft auf, lege meine Pilgerkluft ab und ziehe mir meine schon leicht zerfledderte Leinenhose an, die ich meist abends anhatte.

Um 12 Uhr findet der Pilgergottesdienst statt. Es ist touristischen Gruppen verboten währenddessen Führungen durch das Gotteshaus zu machen, auch Fotos sind ungebeten. Vorab übt eine Nonne mit den Gottesdienstgängern einige Gesangsstrophen ein, die immer wieder gesungen werden. Zunächst werden alle Nationalitäten der Pilger aufgezählt, die gestern und heute in Santiago de Compostela angekommen sind. Je nachdem, wo sie den Jakobsweg begonnen haben. Irún: Alemania. Ja, eine der wenigen hier. Eine Sekunde lang fühle ich mich beinahe persönlich angesprochen. Kurz wird dem deutschen und dem französischen Pfarrer das Wort erteilt, dann folgt ein eher unspektakulärer Gottesdienst, der sich gegen alle Zweifler richtet. „Si vivimos como agnósticos, pensamos como agnósticos.“ (Wenn wir wie Agnostiker leben, denken wir auch wie Agnostiker.) Außerdem sei es ganz leicht den Glauben zu verlieren, wenn das Zuhause frei von kirchlichen Symbolen sei.

Auf dem Platz vor der Kathedrale treffe ich Pascal wieder und auch Miriam, Paweł und Bartek tauchen wieder auf. Umarmungen und Glückwünsche. Da sitzen wir, essen, trinken, erzählen. Auch Bill sticht aus der Menschenmasse heraus. Nur Víctor ist schon wieder in Barcelona und auch Freddy ist gleich eine Stunde nach Ankunft in Santiago in den Bus Richtung Madrid gestiegen. Später dann schlendern auch Antonio und Sandra auf uns zu. Wir schicken die Pilgerpost los, um uns, alle die wir mittlerweile hier sind, gegen acht Uhr wieder vor der Kathedrale zu treffen.

Zusammen mit Antonio und Sandra gehe ich essen. Zur Feier des Tages so richtig im Restaurant mit Tisch, Gedeck. Frischer Fisch und dazu Weißwein. Santiago hat sich schlagartig verändert. Die Straßen sind vollgestopft mit Tischen und Stühlen, Pilgern, Touri-Pilgern und Touristen. Ich erkenne die Stadt kaum wieder. In einer kleinen Seitengasse lassen wir uns in die Terrassenstühle einer Bar sinken und stoßen erneut an. Heute darf das sein. Wir werden zu einer queimada eingeladen, einem traditionellen Getränk Galiciens. Hinein gehören Schnaps, Kaffeebohnen, Zitrusfrüchte und Zucker. Wenn es dunkel ist, wird das Gebräu ähnlich wie der Zuckerhut einer Feuerzangenbowle entzündet. Deshalb müssen wir uns die Zeit vertreiben, nehmen in einer anderen Bar Platz und lauschen typischer galicischer Musik: Dudelsack, Akkordeon und Tambor. Schon ist es acht und tatsächlich hat die Camino-Post ihre Runde gemacht. Es hat sich eine ansehnliche Gruppe aus Pilgern zusammengefunden. Umarmungen, Glückwünsche, Fotos. Die Runde wird immer größer und geselliger. Ein Großteil derer, die mich auf dem Weg begleitet haben, ist hier. Wieder und wieder stelle ich mir die Frage, ob das wirklich das Ende des Weges ist. Da draußen warten noch so viele Fragen darauf, beantwortet werden zu können.

Plötzlich traue ich meinen angetrunkenen Augen nicht mehr. Inmitten der vielen bekannten Gesichter mischen sich zwei weitere. Auch meine Ohren bestätigen, dass ich die beiden Personen, die da geradewegs auf uns zugelaufen kommen, kenne. Wenige Sekunden später liege ich mit Francesc und Cristina in den Armen. Niemals hätte ich geglaubt, sie hier in Santiago wiederzusehen. Unglaublich. Die schönste Überraschung am heutigen Tage. Als alle anderen in ihre Betten huschen, ziehe ich mit Francesc und Cristina noch durch die nächtliche Stadt. Erst um 2 Uhr morgens liege ich in den Federn.

Mittwoch, 14. November 2012

Laufen lernen - Tag 33

Als es noch stockduster ist, frühstücke ich ganz alleine im Frühstückssaal. Bei Vollmond und langsamer Dämmerung beginne ich den Morgen. Die Kälte frisst sich in meine Knochen. Was bin ich froh über Sandras Jacke. Ich begegne wirklich niemandem auf dem ersten Kilometer. Das trägt nur noch mehr zu dem Schock bei, den ich bald schon erleiden werde. Im Ortszentrum treffe ich dann, rein aus Zufall, auf dem Zebrastreifen Antonio. Wir beschließen heute gemeinsam zu laufen, also eher so im stillschweigenden Einvernehmen. Denn was kein Zufall ist, sind die Pilgermassen, die bereits unterwegs sind. Antonio erzählt, wie sie alle schon früh um sechs ihre Sachen zusammen gepackt haben, um möglichst vor allen anderen ihrem Ziel entgegen eilen können.

Ehrlich gesagt ist mir sogar nach ein wenig angenehmer Gesellschaft und Antonio ist eindeutig einer der Menschen, mit denen ich gut laufen kann. Wir legen ein ordentliches Tempo vor und ziehen an den zumeist unbekannten Pilgergesichtern vorbei. An der casa calzada legen wir unsere einzige Kaffeepause ein, den Spaniern scheint der Kaffee ins Blut übergegangen zu sein... Dort treffen wir tatsächlich das dänische Pärchen, die beiden Niederländerinnen, dann Udo und Michael sowie die beiden Polen, Onkel und Neffe, die ich seit einer gefühlten Ewigkeit immer wieder sehe. Wir laufen weiter, unterhalten uns über Literatur, Politik und allerlei andere Themen. Der weiche Waldboden tut den Füßen gut und der kühle Schatten dem Kopf. Ohne weitere Pause also laufen wir nach Pedrouzo. Wie eine riesige Ameisenkolonne kriechen die Pilger feinsäuberlich an einer Kette aufgereiht den Jakobsweg entlang. Aus der Vogelperspektive muss das Ganze noch viel belustigender aussehen als aus meiner Froschperspektive.

Antonio bleibt wie viele Pilger in Pedrouzo. Da der Tag noch sehr jung ist und wir für die ersten zwanzig Kilometer tatsächlich weniger als vier Stunden benötigt haben, laufe ich weiter. Nein, nicht ganz bis nach Santiago de Compostela. Es gibt noch eine Übernachtungsmöglichkeit fünf Kilometer vor der Kathedrale. Darauf hat mich Juan Carlos hingewiesen bevor wir uns voneinander verabschiedet haben. Damit ist heute der Monte do Gozo mein Ziel. Der Nachmittag wird mit jedem Schritt länger, die Sonne brennt immer stärker, die Hitze drückt meine Schritte zusammen. Sie werden immer kleiner, immer langsamer. Nur lassen sich meine Füße nicht mehr anhalten. Egal wie langsam sie mich vorantragen, sie bleiben nicht mehr stehen. Selbst bei der Gelegenheit etwas Kühles zu trinken nicht. Es geht voran, wenn auch unmerklich. Das letzte Stück von Pedrouzo aus ist nicht mehr so stark belaufen, der Großteil ist wohl dort in der Herberge geblieben. Ganze Teilstrecken laufe ich alleine durch den lichten Wald. Auf einem Baumstumpf sitzt ein älterer Herr, der mir einen buen camino zuruft, ich ihm das erwidere. Und er mich mit starkem deutschen Akzent fragt „¿español?“, worauf ich dummerweise antworte: „Nein, Deutsche.“ Und schon klinkt er sich ein. Er erzählt mir von seinem Unfall, den er hatte, bei dem er sich am Auge verletzt hat und trotzdem nach einem Tag schon wieder topfit weiterläuft. Dann sei auch noch seine ganze Seite vom Sturz blau. Ja, was soll ich sagen. Mein Mitleid habe ich leider irgendwo auf dem Weg verloren. Er merkt wohl, dass ich lieber alleine laufe und lässt mich von dannen ziehen.

Vielleicht fehlen nur noch ein paar Kilometer, doch im Grunde spielt das keine Rolle. Es ist nicht wichtig. Der Weg ist nie zu Ende. Santiago de Compostela war nie mein Ziel. Nomadenleben, Menschen kennen lernen, sich selbst. Eine Analogie zu meinem Leben. Könnte ich tatsächlich an allen Orten der Welt leben? Will ich das? Will ich jemals irgendwo ankommen?
Ich nehme mich selbst nicht mehr so ernst. Wenn die Füße schmerzen, dann schmerzen sie. Was ist schon dabei. Ich kann den Schmerz akzeptieren, wodurch er verschwindet, in mein Inneres wandert. Wonach suchen all die Menschen auf diesem einen Weg? Gesellschaft? Leidensgenossen? Sicherlich gibt es zahlreiche Gründe, die sich mir niemals erschließen werden. Ich habe gelernt, gewisse Dinge oder gar Menschen auszublenden. Wenn ich sie nicht sehe, sehen sie mich auch nicht. Ganz einfach. Geht man diesen Weg, um sich selbst etwas zu beweisen oder um es anderen unter die Nase reiben zu können? Wer bin ich ganz im Inneren? Will ich mir solche Fragen überhaupt stellen? Schmiede ich Pläne ohne sie umzusetzen und mache dann lieber das, was mein Bauch mir sagt? Vielleicht. Warum immerzu schwärmen und nicht einfach bloß machen oder gar schweigen. Ja, schweigen. Das ist eine Aufgabe, die ich bis jetzt nur im Ansatz erfüllen kann. Plötzlich sprudeln sie hervor, all diese ungestellten Fragen.

Fast bin ich da. Irgendwann stehe ich neben einer kleinen Kapelle und vor dem riesigen Denkmal, das zum Papstbesuch am Monte do Gozo (zu Deutsch: Berg der Freude) errichtet wurde. Die Herberge ist riesig, in einem schier unendlichen Gang gibt es hunderte von Zimmern mit je acht Betten. Ein letztes Mal Wäsche waschen. Morgen. Ja, morgen...

Dienstag, 13. November 2012

Laufen lernen - Tag 32

In der Tat gab es heute Nacht einen Schnarcher im Raum. Eigentlich wäre das kein Problem, daran hat sich der Langzeitpilger schon längst gewöhnt. Nur die „Neuen“ eben nicht. Einer in dem Zimmer hat andauernd versucht, den Schnarchenden mit Klatsch- und Schnalzgeräuschen versucht, wach zu bekommen. Die junge Dame über mir hat ich mindestens eine halbe Stunde lang demonstrativ umhergewälzt und gestöhnt, dass ich kurz davor war zu fragen, ob bei ihr da oben alles in Ordnung sei. Irgendwann hat sie ihren Freund wach gemacht, gemeinsam haben sie dann versucht, den Schnarchenden mit ihren Stirnlampen auszumachen. Damit haben sie zwar fast den ganzen Raum wach gemacht, aber das sollte ja sonst niemanden stören. Irgendwann haben sie ihre Sachen zusammen gepackt und sind in ein anderes Zimmer umgezogen. Endlich wieder Stille.

Sandras Jacke schützt mich vor dem auffrischenden Morgenwind. Mit dem Kloster im Rücken beginnt die letzte kurze Etappe. Bis nach Arzúa sind es 22 Kilometer. Gestern Abend haben Pascal und ich aus einer atypisch geformten Kartoffel mit Hilfe von ein paar Nudeln eine kleine Pilgerente gebastelt, diese lassen wir heute an Kilometerstein 60 auf einem Paar Wanderschuhen zurück. Seit wir in Galicien sind, zeigen die Wegweiser auch die noch fehlenden Kilometer an. Vielerorts wurden sie abmontiert, wohl Pilger, die ebenso wenig wie ich ständig wissen wollen, wie viele Kilometer man bereits gegangen ist oder eben, wie viele noch immer fehlen. 

Der Weg bis Boimorto ist noch ein letztes Mal voll von Einsamkeit. Mittlerweile haben sich größere Pilgergruppen gebildet, die den letzten Rest gemeinsam laufen. Ich würde gerne weiterhin ganz alleine sein. Die Etappe heute ist nicht sonderlich erwähnenswert. Die Sonne scheint aus allen Knopflöchern. Um dem Pilgeransturm in Arzúa aus dem Wege zu gehen, dort treffen nämlich der Camino del Norte und der Camino Francés aufeinander, quartiere ich mich etwa einen Kilometer in der wunderschönen Pazo Santa María ein. Zunächst kann ich tatsächlich die Stille auf der Terrasse genießen. Bis dann eine Horde älterer Franzosen einfällt. Es stellt sich heraus, dass diese 14-köpfige Truppe jedes Jahr einen Teil des Jakobsweges bestreitet. Dabei haben sie Autos zu Hilfe, eine Person fährt sie vom Startpunkt zum Zielpunkt des jeweiligen Tages, der Rest wandert gemütlich und gepäckfrei leichte Tagesetappen von fünfzehn bis zwanzig Kilometern. Sie veranschlagen auch keine Pilgerherbergen wie die berühmt berüchtigten Touristenpilger, sondern nächtigen in Hotels oder Pensionen. Sie nehmen mich in den Ortskern. Außer einer Statue mit dem hiesigen Käse, vielen Übernachtungsmöglichkeiten für Pilger und einer Menge Restaurants gibt es hier nicht viel. Nur ein, zwei bescheidene Supermärkte, in denen ich mich für die vorletzte Strecke morgen eindecke. Zurück in der Unterkunft genieße ich noch ein letztes Mal die Abgeschiedenheit.

Montag, 12. November 2012

Laufen lernen - Tag 31

Gegen fünf Uhr morgens rascheln die Italiener bereits den halben Schlafsaal wach. Um halb sieben wird das Licht angeschaltet wie bereits gestern Abend von Michael angedroht. Dafür gibt es auch Frühstück in der Küche, Brot in rauen Mengen, Marmelade und Honig, Kaffee und Tee. Was für ein Luxus. Da muss ich nichtmal auf die alltäglichen magdalenas, spanisches Kleingebäck, zurückgreifen.

Jeder Morgen ist kälter und mein Laufoberteil schützt mich nicht mehr sonderlich gut vor der feuchten Kühle. Leider auch nicht vor diesem Kopf-Tiefpunkt. Ich fühle mich einsam, will aber auch keine Zeit mit anderen verbringen. Immerhin habe ich die lange Strecke bereits gestern hinter mich gebracht. Als eine der letzten überwinde ich mich in die Morgendämmerung hinein zu laufen. Schritt für Schritt durch eine seltsame Mondlandschaft, es ist karg, ich laufe auf glatten Felsen. So sah es bis jetzt noch nirgends aus. Auf knapp 700 Meter Höhe wächst nicht mehr viel, so erweckt es hier zumindest den Anschein. Violett, Gelb und Grün, Pinienkerne und Tannenzapfen. Wie durch Zauberhand verwandelt sich der Mond auf Erden wieder in normale Straßenzüge, die durch Pinienwälder gelegt sind. Ein paar einzelne Gehöfte. Dort ein kleines Bauerncafé, doch ich traue mich nicht an dem fies dreinblickenden Wachhund vorbei. Ein Fehler, denn dort, erfahre ich später von Pascal, gibt es meine heiß und innig geliebte frische Milch, die man sonst so gut wie nie in Spanien in die Hände bekommt.

Plötzlich sind die Italiener hinter mir. Lautstark unterhalten sie sich und mich leider auch. Ich versuche schneller zu gehen, das scheint sie anzuspornen und an mir dran zu bleiben. Aber auch als ich langsamer werde, verlangsamen sie ihr Tempo. Da mein Zeitgefühl dahin ist, weiß ich nicht genau, wie lange sie mir in den Ohren liegen. Ich singe, summe und fühle mich doch gehetzt. Erst in dem nächstgrößeren Ort kann ich sie an mir vorbeiziehen lassen, denn ich mache hier eine Zwangspause, damit ich mir von ihnen nicht den Tag komplett versauen lasse.

Das letzte Stück bis nach Sobrado dos Monxes ist ein abfallender Waldweg, meine Schritte sind leicht und werden vom Untergrund abgefedert. Der von den Mönchen angelegte See bessert meine Laune merklich, die Träne der Einsamkeit vertrocknen im Angesicht des welligen Blaus. Und dort unten im Gras liegt einfach so Sandra. Ich geselle mich zu ihr und erfahre, dass sie gestern Abend noch nach Baamonde zurück gefahren ist und dort übernachtet hat bevor sie heute Morgen nach Sobrado dos Monxes gefahren ist, um sich das Kloster anzusehen und bevor sie sich am Nachmittag nach Santiago de Compostela begibt. Wir warten bis auch irgendwann Antonio des Weges kommt. Das letzte Stück des Weges laufe ich zusammen mit ihm. Schon von Weitem sehen wir die moosbewachsenen Klostermauern, die sich über das überschaubare Dörfchen erheben. Gerade noch rechtzeitig kommen wir an, denn das Kloster wird zwischen 14.00 und 16.30 Uhr geschlossen, sodass weder jemand hinein, noch hinaus kann. Wir bekommen von Alfonso, dem hospitalero, und Emilio, scheinbar Laufbursche für alles, unsere Klosterzelle gezeigt. Dann mahnt Alfonso humpelnd zur Eile. Und siehe da, alle Pilger wählen die Möglichkeit den kleinen Ort unter die Lupe zu nehmen. Nur ich nicht. Ich bleibe hier. Stille. Absolut. Die nur jede Viertelstunde vom blechernen Glockenschlag unterbrochen wird. Um mich herum die dicken Mauern. Sie schützen mich. Noch. Vor der Hektik des bald wieder bevorstehenden Alltags. Vor der Realität da draußen. Nur nicht vor meinen Gedankengängen, in denen ich mich gerne einmal verliere.

Um halb fünf werden den wartenden Pilgern und Touristen die Tore wieder geöffnet, somit ist es auch vorbei mit der meditativen Stille. Sandra verabschiedet sich von mir und gibt mir ihre Jacke für die letzten Tage meines Weges.

Die Stimmung heute ist seltsam. Wie die innere Ruhe vor dem Sturm der Traurigkeit. Um 19 Uhr sind wir als Pilger eingeladen der Vispera beizuwohnen, der gesungenen Abendmesse. Selbst die sonst so gesprächigen Deutschen und Spanier sitzen still auf ihren Stühlen. Der Raum ist niedrig und langgezogen. Nur im vorderen Teil dürfen die Pilger Platz nehmen, der Großteil des Raumes ist den Mönchen zugedacht. Langsam betreten sie das Zimmer, schließen die Fenster. Jeder nimmt sich seine Zeit um einzutreten und sich zu verbeugen. Minuten der absoluten Stille. Sie nehmen Platz auf ihren schmalen im Kreis angeordneten Holzthronen. Alle tragen eine weiße bodenlange Kutte, darüber ein dunkelbrauner Überhang und ein nussbrauner Gürtel. Ansonsten sind sie alle sehr unterschiedlich. Alter und Nationalität spielen hier keinerlei Rolle. Etwa eine Stunde singen sie Bibelpassagen, erheben sich, treten hervor. So als ob wir alle gar nicht anwesend wären. Innerlich werde ich immer kleiner. Tränen steigen mir in die Augen und ich weiß nicht recht, was gerade mit mir geschieht. Eine Grundtraurigkeit erstreckt sich über jede Faser meines Körpers. Am Ende sitze ich da mit aufgequollenem Gesicht. Rotgeweint. Jedoch ohne irgendeinen Laut von mir zu geben. Mit dem gesungenen Vaterunser geht die Abendandacht zu Ende.

Frische Luft. Hinter dem Kloster finde ich im kleinen Park ein wenig Ruhe, niemand, der mich stört. Etwas, das ich schon seit geraumer Zeit mit mir herumtrage, verlässt mich hier. Ein Stück weit komme ich ins Reine mit mir. Vielleicht ist Sobrado dos Monxes ein wenig mein Santiago de Compostela. Plötzlich, ohne es zu erwarten, bin ich an einem Punkt angekommen.

Später koche ich zusammen mit Pascal ein wunderbar einfaches Essen, für das wir insbesondere bei den deutschen Pilgern ein bisschen Neid ernten: Kartoffeln, Spiegelei und Salat.
Ein paar der Touristenpilger nehmen hier Betten in Anspruch. Natürlich würden sie sich niemals als solche bezeichnen. Es ist vielleicht auch nicht ganz fair sie so zu bezeichnen, doch denjenigen, die bereits 700 Kilometer oder mehr hinter sich gebracht haben, erscheint es doch witzig, dass diese Pilger ganz auf die Urkunde erpicht die letzten hundert Kilometer zu Fuß gehen mit ihrem kleinen Wochenendrucksäckchen und sich über schnarchende Pilger mokieren.