Mittwoch, 31. Oktober 2012

Laufen lernen - Tag 19


Aufstehen ist kaum möglich. Mein Kopf dröhnt, meine Beine fühlen sich an wie Pudding. Niemals schaffe ich 25 Kilometer bis nach Sebrayu. Niemals. Gerade so schaffe ich es bis zur Dusche. Aus der nur kaltes Wasser kommt. Nur mit Hilfe kann ich den gasbetriebenen Wasserheizer in Gang bringen. Da steht auch noch zu allem Übel die Labertasche Rosie in der Tür. Mir wird prompt wieder schlecht. 

Nach der warmen Dusche friere ich wieder und kuschele mich in die Decke. Die hospitalera lässt mich, sie bereitet Juan Carlos, der nicht ohne mich weiterziehen will, und mir einen Milchkaffee zu und bringt ein paar trockene Kekse. Zumindest setzte ich mich auf, packe meine Sachen. Wir werden in den Bus steigen und bis zur nächsten knapp zehn Kilometer entfernten Herberge fahren, entscheiden wir als ich nicht mehr ganz so wackelig auf den Beinen bin. Denn hier zu bleiben ist witzlos, es gibt noch nicht einmal einen Arzt in der Nähe, den man aufsuchen könnte.

In La Isla werden wir am Straßenrand heraus gelassen und da merke ich es wieder. Laufen geht einfach noch nicht. Im Schneckentempo krieche ich vor mich hin. Kurzerhand zieht Juan Carlos alleine los, um seinen Rucksack zum Ziel zu bringen und mich wieder abzuholen, dort, wo ich mich hingehockt habe. Auch diese hospitalera kümmert sich rührend um mich, sie hängt Bettlaken aus den Fenstern, damit ich auf der Terrasse auch genug Schatten habe. Da taucht Rosie auf, und quatscht Juan Carlos voll. Ich sitze teilnahmslos daneben, das Rauschen im Kopf vermischt sich mit der Erzählung der dramatischen Erlebnisse der ach so pilgererfahrenen Spanierin aus Toledo (bei jeder Gelegenheit erzählt sie, wie es denn in Toledo sei, definitiv eine Stadt, die ich niemals zu Gesicht bekommen werde, allein schon aus Angst, sie wieder zu sehen). Ein blauer Kleinlaster hätte auf einer Straße durch den Wald neben ihr Halt gemacht und der Fahrer hätte ihr Sex angeboten. Jetzt hält Rosie immer Ausschau nach einem dunkelblauen Wagen. Ich nippe weiter an meiner Orangenlimonade, Juan Carlos verdreht die Augen, selbst die sich zuvor hier sonnende Katze nimmt Reißaus. Nachdem wir uns registriert haben, bewegen wir uns vom Haus der hospitalera zur wirklichen Herberge. Es gibt eine funktionstüchtige Küche!

Erst einmal lege ich mich draußen auf die Bank. Der Kopfschmerz verschwindet gemächlich. Richtig gut geht es mir noch nicht, aber um Kilometer besser als gestern. Gegen Nachmittag schaffe ich es sogar, meine Wäsche zu waschen und lerne dabei die beiden Japanerinnen kennen, die seit Bilbao unterwegs sind. Etwas später schlendern Juan Carlos und ich gemütlich durch das kleine Örtchen, kaufen im winzigen Supermarkt frisches Gemüse und kochen, zurück in der Herberge, eine Riesenportion Nudeln mit Gemüsesoße. Sogar mein Magen macht mit. Früh gehen wir schlafen, um zu sehen, wie weit wir morgen kommen.

Dienstag, 30. Oktober 2012

Laufen lernen - Tag 18


Ohne weitere Absprache laufen Juan Carlos und ich zusammen. Das klappt ziemlich gut, das Tempo jedes Einzelnen passt gut zu dem des Anderen, es gibt Momente in denen wir gemeinsam lachen, reden, herumblödeln, aber auch solche, in denen jeder für sich ist und seinen eigenen Gedanken nachhängt.

Feuchte Unterwäsche am Morgen, der wieder recht spät beginnt, obwohl wir uns vorgenommen hatten, um sechs Uhr aufzustehen. Der Küstenpfad führt uns zu einem verfallenen Kloster, San Antolín de Bedón. Mit Stacheldraht beschützt liegt es in waldigem Gestrüpp. An solchen Orten sollten Pilgerherbergen eingerichtet werden. Ein wenig erkunden muss ich das ganze schon und erschrecke mich als sich in den bewachsenen Ruinen plötzlich etwas regt. Ins Dunkle hineinstarrend erkenne ich wackelnde Pferdehinterteile.

Kurz darauf kommen wir am gleichnamigen Strand vorbei, er schreit so langgezogen wie er ist förmlich: Hier geblieben! Wir lassen uns nicht umstimmen, wir wollen heute bis nach Esteban de Leces. Der Weg bis dahin geht sich nicht von alleine. Bis nach Nuevas kommen wir gut voran, dann werden die Pausen immer öfter und länger. Meine Füße schmerzen und sind bis aufs Äußerste angespannt. Die Sorgenfalte auf Juan Carlos’ Stirn wird immer tiefer. Doch ich behaupte es zu schaffen. In Cuerres nehmen zwei Deutsche Pilger gegen eine kleine Spende bei sich auf. Aber nein, ich will weiter. Alles halb so schlimm, denke ich mir. Und tatsächlich, wenig später verspüre ich einen gewaltigen Engergieschub. Der Kopf scheint sich vom Körper zu lösen. Mein Wegbegleiter hat Mühe mitzuhalten bei dem Tempo. Aber ich weiß ganz genau, wenn ich auch nur einen Zahn zurückschraube oder gar anhalte, ist es vorbei. Also presche ich voran.

Bis ich kurz vor Ribadesella halten muss, um etwas zu trinken. Ein Baum spendet ein wenig Schatten und das war’s dann tatsächlich mit der Geschwindigkeit. In Ribadesella halten wir an einer Bar, stellen unser Gepäck ab. Bei der üblichen Zitronenlimonade auf Eis merke ich, wie erschöpft mein Körper ist. Nicht nur von dem heutigen Gewaltmarsch hierher. Es sind die ganzen 400 Kilometer, die ich meinem Körper bereits angetan habe. Etwa die Hälfte des Weges liegt hinter mir und mein Körper rebelliert. Bei unserem Einkauf, die Herberge in San Esteban de Leces ist fast das einzige Gebäude auf dem noch fünf Kilometer entfernten Anstieg und es gibt kein Supermarkt in der Nähe, stoßen wir auf Freddy und Miriam. Es ist schon reichlich spät, etwa 16.30 Uhr und auch die beiden sind am Ende. Dennoch sind sie schneller als ich.

Wir laufen über die Strandpromenade, der Jakobsweg will es so, das Meer rauscht, mein Kopf auch. Kurzerhand halte ich meinen Kopf unter eine der vielen Duschen. Die Blicke nehme ich schon gar nicht mehr wahr. Immer mehr benehme ich mich wie ein kleines Kind, würde am liebsten etwas zerstören, fühle eine Wut in mir aufsteigen, von der ich nicht weiß, wogegen sie sich tatsächlich richtet. Die ersten letzten Kilometer funktionieren trotz der aggressiven Grundstimmung noch. Dann kommt der letzte Anstieg. Juan Carlos bringt mich immer wieder zum Lachen. Innerlich weine ich bereits. Dann. Der Zusammenbruch. Ich sitze da und schluchze, ich kann nicht mehr, habe Probleme zu atmen, das Gefühl einer elendigen Müdigkeit überkommt mich, mir ist schwindelig. Eine lange Pause.

Dann überlegen wir, wie es weitergehen könnte. Zurück nach Ribadesella, ein Hotel. Ein Taxi bis zur Herberge. Ich beruhige mich, Juan Carlos nimmt meinen Rucksack Huckepack, drückt mir meinen Wanderstock in die Hand und ganz langsam, Schritt für Schritt gehen wir bergauf. Alle 200 Meter muss ich Halt machen, es geht nicht. Selbst die Notration Schokolade hilft nichts und auch die widerliche Glukosemischung zeigt keinerlei Wirkung. Schnell ist wirklich etwas anderes. Ich zwinge mich zu jedem Schritt. Von oben kommt ein Auto, die Insassen sehen, dass da etwas nicht stimmt, kurbeln das Fenster herunter und rufen uns zu, bis zur Herberge sei es nicht mehr weit, nur noch ein Kilometer. Großartig. Das dauert in diesem Tempo noch mindestens eine Stunde. Noch ein Schritt, und noch ein Schritt. Ich habe das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, muss mich setzen, will nicht mehr weiter. Es fehlen noch vierhundert Meter, vielleicht. Ich bin blass um die Nase, muss würgen, doch übergeben kann ich mich nicht. Ein Pilger kommt an uns vorbei, fragt kurz, ob es mir gut geht, ich schaue ihn nur an, das dürfte mehr sagen als jedes Wort. Er eilt weiter, damit er ja noch ein Bett in der Herberge bekommt. Juan Carlos hat sich mittlerweile um eine Transportmöglichkeit bemüht. Mit Sack und Pack fährt mich eine Anwohnerin die letzten Meter zur Herberge. Dort sitze ich dann in der Sonne, kann mich nicht mehr bewegen. Die hospitalera ist besorgt, bringt mir ein Glas Zuckerwasser, das ich zur Hälfte hinunterwürge. Ich werde halb ins Bett getragen. Erst ist mir heiß, dann bitterkalt. Ich bitte um eine Decke und werde mit guten Ratschlägen von all den anwesenden Pilgern überhäuft. Noch nicht einmal den Weg zum Bad schaffe ich.

Ich versinke in einem tiefen traumlosen Schlaf.

Montag, 29. Oktober 2012

Laufen lernen - Tag 17


Die Sonne geht auf und taucht den beginnenden Tag in zarte Pastelltöne. Anstatt die Schnellstraße zu nehmen, entscheiden wir uns für einen alternativen Wanderweg an der Steilküste Asturiens. Zuvor noch ein Frühstück in einem einstündig entfernten Marsch gelegenen Ort. Dann ruft das Meer aus den Bufónes de Arenillas. Aus dem löchrigen Kalkgestein schießen bei rauer See riesige Fontänen in den Himmel, heute, da das Meer spiegelglatt ist, hören wir nur einen ominösen rauchigen Ton. Den Ziegen scheint es zu gefallen, mir auch. Am liebsten würde ich den ganzen Tag an der Klippe sitzen bleiben und aufs Meer starren.

Weiter, weiter, Kilometer für Kilometer, ab und an merke ich mein Schienbein, doch es wird besser. Der Wanderweg ist sicherlich tausend Mal besser als die Schnellstraße. Auch wenn es schon lange nicht mehr so grün wie zu Beginn meines Weges ist. Alles ist irgendwie verblasst. Mein Wasser geht zur Neige, kein Brunnen auf der Strecke. Erst in einem kleinen Ort etliche Kilometer weiter schießt kaltes klares Wasser aus einem Pilgerbrunnen. Auch hier würde ich gern verweilen. Doch wir müssen hinauf nach Andrín. Vom Pass aus haben wir eine wunderschöne Aussicht auf malerische Strände. Aber eben nur eine Aussicht. Der Weg endet hier noch nicht, nicht für uns. Wir machen in einem kleinen Park Pause und fragen uns, wann wir wohl nach Llanes kommen werden. Etwa hundert Meter weiter von unserem Rastplatz treffen wir auf das Ortseingangsschild. Die ersten vereinsamten, verwilderten Villen hinter meterhohen Zäunen säumen die Straßen. Ist es vielleicht doch ein Horrorfilm?

Die Stadt an sich, oft zu Filmzwecken genutzt, hat viele alte Fassaden, ist hübsch. Doch das interessiert mich kaum. Die Herberge an der FEVE-Station ist bereits überfüllt, das bedeutet wir müssen weiter. Noch etwa zwei Kilometer bis nach Poo de Llanes, eine halbe Stunde noch. Die Herberge liegt 500 Meter von einem kleinen Strand entfernt. Der Supermarkt des wirklich winzigen Örtchens hat nicht viel zu bieten und wir haben usn so sehr auf tortillas zum frischen Salat eingeschossen, dass Juan Carlos tatsächlich noch einmal zurück nach Llanes läuft. Derweil kümmere ich mich um die Wäsche und liege dann im Garten unter Feigenbäumen platt wie eine Flunder. Viele Deutsche sind in der Herberge.

Abends schnippeln wir unsere Einkäufe zu einem riesigen Salat zusammen, erwärmen die tortilla und ich schütte vor lauter Erschöpfung Juan Carlos den Wein auf die Hose. Als die Sonne bereits untergeht und viele der Pilger sich ins Bett begeben, laufen wir zum Strand. Eine Familie sucht mit Taschenlampen bewaffnet an den Klippen nach Krebsen, wir sitzen da und bohren unsere Füße in den Sand, lassen uns nach hinten fallen und starren in den Himmel. Erst als eine Horde Jugendlicher den Strand für ihr heimliches Besäufnis  erwählt, bequemen wir uns zurück zur Herberge.

Sonntag, 28. Oktober 2012

Laufen lernen - Tag 16


Am nächsten Morgen stolpere ich im eigentlichen Frühstücksraum über zwei schlafende Pilger – Víctor und Francesc. Also doch draußen vor der Tür. Obwohl wir nichts abgemacht haben, steht auch Juan Carlos schon mit Rucksack auf dem Rücken da. Der Pilgerflüsterer kurvt seine Hüften, und macht auch sonst allerlei seltsame Bewegungen, die mit Dehnübungen recht wenig gemein haben. Ein Grinsen können wir uns nicht verkneifen.

Wir sind so früh also mal wieder nicht die einzigen. Auch Rosie, ein spanisches Touri-Pilgerpärchen aus Bilbao, das etwa sieben Tage wandern will, Mariam und Libertad beginnen den heutigen Pilgertag um diese Uhrzeit. Die Laufgruppe ist recht anstrengend. Ein einziges Geschnatter. Ich setze mich ein wenig ab, doch auch das nützt herzlich wenig. Das spanische Organ ist lauter als es dem deutschen Ohr lieb ist. Die Picos de Europa liegen zu meiner Linken, zart malen sich die fernen Bergspitzen in den Himmel, ein wenig Schnee vom Gipfel, ja, das wäre wohl mein persönlicher Gipfel bei der Wärme. In San Vicente de la Barquera nehmen wir alle zusammen in einem Café Platz und ein zweites Frühstück zu uns.

Dann folgt viel Asphalt. Mein angeschwollenes Bein macht seine Mätzchen. So langsam löst sich die Wandergruppe auf, die noch energiegeladenen gerade erst beginnenden spanischen Pilger setzen sich ab, Rosie fällt zurück und der Pferdeflüsterer ward nicht länger gesehen. Ein paar Arbeiter befreien die Straßenränder vom Unkraut und Juan Carlos und ich schauen ihnen dabei von der schattigen Bank aus zu. Eigentlich soll der Weg an einer Turmruine vorbei führen, doch die lässt auf sich warten. Entgegen aller Pilgermeinung ziehen wir die Schuhe aus.

Etwa 100 Meter weiter stoßen wir dann tatsächlich auf die viel gesuchte Ruine. Eine nette Spanierin, die auch recht gut Deutsch spricht, versorgt uns mit einem Stempel in der credencial. Für einen Eintrag ins blätterne Gästebuch gibt es ein Bonbon. Plötzlich steht im Eingang: der Pilgerflüsterer. Schnellstmöglich fliehen wir und schmieden Pläne, wie wir ihn für die nächste Zeit loswerden. Wir könnten zum Beispiel gelbe Farbe besorgen und ihn mit in die Irre führenden Pfeilen verwirren. Doch das müssen wir gar nicht. Wir sind schnell genug. Durch Eukalyptuswälder auf Straßen pilgern wir unserem Ziel entgegen. Der Duft ist zwar anregend, aber gut für den Boden sind diese gepflanzten Waldkulturen nicht. Wieder ein menschlicher Eingriff mehr in die Natur. So langsam zieht sich der Weg, die Unterhaltung wird spärlicher, jeder läuft in seinem eigenen Trott. Wir treffen auf einen Portugiesen, der sonst immer mit den spanischen „salchichas de Frankfurt“ essenden Polen unterwegs ist, der sich uns anschließt. Neben uns ein Fluss, verlockend. Aber nein, wir laufen weiter, um endlich irgendwann in Colombres anzukommen. Eine Flussüberquerung, noch eine zweite und bei dieser zweiten in Unquera schlägt die Brücke die Brücke zwischen Kantabrien und Asturien.

Die Hitze erschlägt mich fast, mit Mühe und Not erreiche ich zusammen mit den beiden Männern das polideportivo, unsere heutige Übernachtungsstätte. Die Sporthalle wird in den Sommermonaten, wenn in Spanien (fast) alle Urlaub haben, den Pilgern zur Verfügung gestellt. Feldbetten und Sportmatten stehen bereit. Direkt nebenan ein kleines Freibad. Endlich mal wieder ein paar Bahnen ziehen und meine Beine mit einer anderen Sportart entspannen. Als ich zurücktropfe ist auch mein Lieblingspilger angekommen, er beteiligt sich jedoch nicht am regen Gespräch über eine bessere Welt und die Definition von Glück. Das machen die Mädels, vor allem Libertad und Mariam. Víctor und Francesc schwitzen und suchen nach Antworten auf die fordernden Fragen. Wäsche waschen und Nahrungssuche. Im örtlichen Supermarkt finden wir alles, was wir benötigen, um heute Abend gemütlich vor der Sporthalle mit Víctor und Francesc zu dinieren. Wir wählen einen günstigen Wein (cosechero, direkt nach dem Keltern abgefüllt) mit winzigem Etikett am Fuße der Flasche.

Eigentlich bin ich unglaublich müde, der Großteil der jungen Pilgerschaft ist im Ort unterwegs, Juan Carlos überredet mich. Das Dorf ist mit einem Mal lebendig geworden, an einem Mittwochabend tummeln sich wie es scheint alle Einwohner in den Bars und Kneipen. Die Pilger finden wir ohne nach ihnen suchen zu müssen. Boris und Guilia verabschieden sich heute. Da in Asturien die sidra (spanischer Apfelwein, herber als die französische Variante) den Abend regiert, trinken auch die Pilger das Gesöff. Man schenkt ihn von oben herab ein: Die Flasche wird so hoch wie nur möglich über dem Kopf gehalten und in das tief gehaltene Glas geschenkt. Es gibt ganze Meisterschaften...


Unsere Feldbetten haben Juan Carlos und ich nach draußen verfrachtet, denn das hallende Schnarchkonzert und die Hallenhitze wollen wir uns nur ungern antun. Die Nacht ist zwar kalt, aber dafür beschert sie uns einen sternenklaren Himmel.

Samstag, 27. Oktober 2012

Laufen lernen - Tag 15


Nicht nur die bis lange in die Nacht andauernden Gespräche vor dem Fenster, sondern auch der tobende Sturm haben für keinen ausgiebigen und erholsamen Schlaf gesorgt. Noch ist der Himmel wolkenverhangen, der Wind zwirbelt durch die Bäume. Mit Taschenlampe bewaffnet, sammele ich meine Socken auf, klaube die gewaschene Wäsche vom Boden.

Mit mir aufgestanden sind Sascha und Eva, auch sie wollen früher los als der Rest der Pilger. Allerdings haben wir Rosie und einen weiteren Spanier angestachelt, Rosie hatte mich gestern gefragt, ob sie mit mir zusammen laufen könne, da habe ich dann doch lieber abgewunken.

Noch ist der Himmel nachtblau, die schweren Wolken hängen tief, ein regenankündigender Wind fährt mir durch die Haare. Eigentlich müsste es langsam heller werden, doch die Farben changieren nur von blau nach grau. Und dann, warm ist mir schon lange nicht mehr, kommt es kalt von oben herunter... Ich habe bereits drei Schichten an und spute mich, verliere dadurch Eva und Sascha aus den Augen. Glücklicherweise verliert sich der Regenvorhang recht schnell in vereinzelten Nieselanfällen. Auf dem grünen Hügel vor mir steht wie aus einem Gruselfilm eine alte Kirche. In einem winzigen Örtchen mit Seniorenresidenz fährt ein kleiner Junge den riesigen Trecker aus der Garage. Unter einem moosbewachsenen, knorrigen Baum finde ich ein relativ trockenes Plätzchen und mache kurz Pause.

Kurz vor Cóbreces sehe ich das Meer wieder. Der Kopf schweift umher, denkt, wie einfach das Leben eigentlich sein könnte, wie unglaublich abhängig man sich jedoch macht. Auf einem schmalen, abschüssigen Weg passiert es dann. Der Teer ist glatt, das Wanderschuhprofil bietet nicht wie gewohnt Halt und in der Kurve lege ich mich hin. Völlig perplex schaue ich auf mein verdrehtes, blutendes Knie, das Schienbein pocht. So sitze ich da und verfluche meine mich ablenkenden Gedanken, meine Unvorsichtigkeit und das erste Mal schluchze ich, die Tränen kullern meine Wangen hinunter. Gefühlt sitze ich eine halbe Ewigkeit auf dem nasskalten Boden. Irgendwann ist es dann genug und ich rappele mich auf. Ändern kann nur ich alleine etwas. Kurz darauf werde ich von zwei spanischen Radpilgern überholt. Beim Pilgergruß merken sie, dass etwas nicht stimmt, kehren um und verarzten mein lädiertes Knie mit Jod. Das baut auf, Hilfe unter Fremden und doch irgendwie Vertrauten. So langsam finde ich zurück zum Glauben ans Gute im Menschen. Sie päppeln mich noch mit ein paar Worten auf, ich sei eine Löwin, das würde ich schon überstehen. Und mit einem noch vor Schmerzen verzogenen Lächeln wandere ich weiter. Fast rutsche ich nochmals aus, kann mich gerade so am Geländer halten. In Cobréces statte ich der roten neugotischen Kirche San Pedro ad Víncula einen Besuch ab und versuche, meine innere Aufgewühltheit zu beruhigen. Eines der älteren französischen Pärchen läuft mir über den Weg. Paulette, die sonst immer brav an Michels Hand pilgert (er zieht sie quasi den Jakobsweg entlang), ist es ähnlich ergangen, auch sie hat sich an besagter Stelle eine Etage tiefer begeben.

Der Weg zieht sich durch den Wald über weniger glitschige Straßen und die Sonne lässt die Feuchtigkeit verdampfen. Ich schraube mein Tempo etwas herunter, nehme den sonst am Rucksack baumelnden Wanderstock zur Hilfe und fühle mich Schritt für Schritt wieder sicherer auf den Beinen.
Bei einer meiner kleineren Halte pilgert Juan Carlos an mir vorbei. Er sieht mein jodverschmiertes Bein und erkundigt sich nach meinem Befinden. Er bietet mir sogar an, mir Ballast abzunehmen und ein Teil meines Gepäcks bis nach Comillas zu tragen. Doch das schaffe ich auch allein. Das Gute im Menschen...

An der nächsten Bank finde ich ihn rauchend wieder. Die letzten zwei Stunden der Etappe laufen wir zusammen und unterhalten uns über Gott und die Welt. Er ist Buchhalter in Barcelona.
Bei dem Ortseingangsschild hat sich jemand einen doch irgendwie witzigen Scherz erlaubt: „Comi las“ (comillas = Anführungszeichen, las comí = ich aß sie). Die Pilgerherberge „La Peña“ befindet sich in einem alten Gefängnis. Es stehen schon an: Die sportliche Spanierin aus Toledo, von Beruf teacher und mit Blasen an den Füßen, die größer als ihr ganzer Fuß sein müssen, zumindest wenn man ihren Schilderungen Glauben schenken mag und ein paar Spanierinnen, sowie mein liebster Pilgergefährte. 

Juan Carlos besorgt Eiswürfel für mein angeschwollenes Schienbein und ein kühles Bier für unseren Kopf. Der „hombre que susurra a los peregrinos“ (der „Pilgerflüsterer“), wie Juan Carlos ihn tauft, erzählt uns – ob wir wollen oder nicht –, dass er bereits sehr gut essen war und sich jetzt auf den Weg zum Strand macht. Ach ja, und er habe nach der einfachen Strecke heute, einfach bestens gegessen. Und Platz fünf sei seiner in der Reihe der wartenden Pilger. Im Schatten warten wir auf die hospitalera, die dann rigoros allen Pilgern, für die es keinen Platz mehr gibt (20 Betten), den Einlass verwehrt. Vielleicht könne der hiesige Pfarrer einige der bettenlosen Pilger aufnehmen, zumindest dürfen sie sich duschen und ihre Wäsche waschen.

Nach der Erledigung der täglichen Pilgeraufgaben schnappen Juan Carlos und ich unsere Sachen und drehen eine Runde durch die Kleinstadt, dann setzen wir uns ans Meer, um kurz darauf in die Wellen zu rennen. Das Salzwasser brennt in der Wunde. Wir dümpeln in den hohen Wellen umher und halten Ausschau nach Walen... Zurück am Strand trocknen wir in der Sonne, er gibt mir seinen MP3-Player. Seltsam nach zwei Wochen wieder Musik in den Ohren zu haben – lágrimas negras.

Am Hafen fotografiert ein erfolgreicher Angler seinen winzigen Fisch am Haken, an den Felsen räkeln sich junge Frauen vor den Handykameras ihrer Liebsten, wahrscheinlich für das nächste Facebook-Profilfoto. Vom Regen heute morgen ist weit und breit keine Spur mehr.

Am Abend essen wir gemeinsam mit Eva, die gerade so noch ein Bett bekommen hat, in einem Restaurant das Pilgermenü. Neben uns nehmen die vier irischen Damen Platz. Fischsuppe, Lachs und Eistorte. Dazu guter Wein und ein unterhaltsames deutsch-spanisch-englisches Gespräch. Die Kellnerin muss uns dann leider von der Terrasse verscheuchen, da der Tisch bereits reserviert ist, gibt uns dafür drinnen einen Tisch und einen aus. Mit patxaran (Schlehenlikör), orujo de hierbas (Kräuter-Tresterband) und orujo de frambuesa (Himbeer-Likör) stoßen wir auf einen schönen Abend an.