Nicht nur die bis lange in die
Nacht andauernden Gespräche vor dem Fenster, sondern auch der tobende Sturm
haben für keinen ausgiebigen und erholsamen Schlaf gesorgt. Noch ist der Himmel
wolkenverhangen, der Wind zwirbelt durch die Bäume. Mit Taschenlampe bewaffnet,
sammele ich meine Socken auf, klaube die gewaschene Wäsche vom Boden.
Mit mir aufgestanden sind Sascha
und Eva, auch sie wollen früher los als der Rest der Pilger. Allerdings haben
wir Rosie und einen weiteren Spanier angestachelt, Rosie hatte mich gestern
gefragt, ob sie mit mir zusammen laufen könne, da habe ich dann doch lieber
abgewunken.
Noch ist der Himmel nachtblau, die
schweren Wolken hängen tief, ein regenankündigender Wind fährt mir durch die
Haare. Eigentlich müsste es langsam heller werden, doch die Farben changieren
nur von blau nach grau. Und dann, warm ist mir schon lange nicht mehr, kommt es
kalt von oben herunter... Ich habe bereits drei Schichten an und spute mich,
verliere dadurch Eva und Sascha aus den Augen. Glücklicherweise verliert sich
der Regenvorhang recht schnell in vereinzelten Nieselanfällen. Auf dem grünen
Hügel vor mir steht wie aus einem Gruselfilm eine alte Kirche. In einem
winzigen Örtchen mit Seniorenresidenz fährt ein kleiner Junge den riesigen
Trecker aus der Garage. Unter einem moosbewachsenen, knorrigen Baum finde ich
ein relativ trockenes Plätzchen und mache kurz Pause.
Kurz vor Cóbreces sehe ich das
Meer wieder. Der Kopf schweift umher, denkt, wie einfach das Leben eigentlich
sein könnte, wie unglaublich abhängig man sich jedoch macht. Auf einem
schmalen, abschüssigen Weg passiert es dann. Der Teer ist glatt, das
Wanderschuhprofil bietet nicht wie gewohnt Halt und in der Kurve lege ich mich
hin. Völlig perplex schaue ich auf mein verdrehtes, blutendes Knie, das
Schienbein pocht. So sitze ich da und verfluche meine mich ablenkenden
Gedanken, meine Unvorsichtigkeit und das erste Mal schluchze ich, die Tränen
kullern meine Wangen hinunter. Gefühlt sitze ich eine halbe Ewigkeit auf dem
nasskalten Boden. Irgendwann ist es dann genug und ich rappele mich auf. Ändern
kann nur ich alleine etwas. Kurz darauf werde ich von zwei spanischen
Radpilgern überholt. Beim Pilgergruß merken sie, dass etwas nicht stimmt,
kehren um und verarzten mein lädiertes Knie mit Jod. Das baut auf, Hilfe
unter Fremden und doch irgendwie Vertrauten. So langsam finde ich zurück zum Glauben ans Gute im Menschen.
Sie päppeln mich noch mit ein paar Worten auf, ich sei eine Löwin, das würde
ich schon überstehen. Und mit einem noch vor Schmerzen verzogenen Lächeln
wandere ich weiter. Fast rutsche ich nochmals aus, kann mich gerade so am
Geländer halten. In Cobréces statte ich der roten neugotischen Kirche San Pedro
ad Víncula einen Besuch ab und versuche, meine innere Aufgewühltheit zu
beruhigen. Eines der älteren französischen Pärchen läuft mir über den Weg.
Paulette, die sonst immer brav an Michels Hand pilgert (er zieht sie quasi den
Jakobsweg entlang), ist es ähnlich ergangen, auch sie hat sich an besagter
Stelle eine Etage tiefer begeben.
Der Weg zieht sich durch den Wald
über weniger glitschige Straßen und die Sonne lässt die Feuchtigkeit
verdampfen. Ich schraube mein Tempo etwas herunter, nehme den sonst am Rucksack
baumelnden Wanderstock zur Hilfe und fühle mich Schritt für Schritt wieder
sicherer auf den Beinen.
Bei einer meiner kleineren Halte pilgert Juan Carlos an mir vorbei. Er sieht mein jodverschmiertes Bein und
erkundigt sich nach meinem Befinden. Er bietet mir sogar an, mir Ballast
abzunehmen und ein Teil meines Gepäcks bis nach Comillas zu tragen. Doch das
schaffe ich auch allein. Das Gute im Menschen...
An der nächsten Bank finde ich ihn
rauchend wieder. Die letzten zwei Stunden der Etappe laufen wir zusammen und
unterhalten uns über Gott und die Welt. Er ist Buchhalter in Barcelona.
Bei dem Ortseingangsschild hat
sich jemand einen doch irgendwie witzigen Scherz erlaubt: „Comi las“ (comillas
= Anführungszeichen, las comí = ich aß sie). Die Pilgerherberge „La
Peña“ befindet sich in einem alten Gefängnis. Es stehen schon an: Die
sportliche Spanierin aus Toledo, von Beruf teacher und mit Blasen an den Füßen,
die größer als ihr ganzer Fuß sein müssen, zumindest wenn man ihren
Schilderungen Glauben schenken mag und ein paar Spanierinnen, sowie mein liebster
Pilgergefährte.
Juan Carlos besorgt Eiswürfel für mein angeschwollenes
Schienbein und ein kühles Bier für unseren Kopf. Der „hombre que susurra a los
peregrinos“ (der „Pilgerflüsterer“), wie Juan Carlos ihn tauft, erzählt uns –
ob wir wollen oder nicht –, dass er bereits sehr gut essen war und sich jetzt
auf den Weg zum Strand macht. Ach ja, und er habe nach der einfachen Strecke
heute, einfach bestens gegessen. Und Platz fünf sei seiner in der Reihe der
wartenden Pilger. Im Schatten warten wir auf die hospitalera, die dann rigoros
allen Pilgern, für die es keinen Platz mehr gibt (20 Betten), den Einlass
verwehrt. Vielleicht könne der hiesige Pfarrer einige der bettenlosen Pilger
aufnehmen, zumindest dürfen sie sich duschen und ihre Wäsche waschen.
Nach der Erledigung der täglichen
Pilgeraufgaben schnappen Juan Carlos und ich unsere Sachen und drehen eine
Runde durch die Kleinstadt, dann setzen wir uns ans Meer, um kurz darauf in die
Wellen zu rennen. Das Salzwasser brennt in der Wunde. Wir dümpeln in den hohen
Wellen umher und halten Ausschau nach Walen... Zurück am Strand trocknen wir in
der Sonne, er gibt mir seinen MP3-Player. Seltsam nach zwei Wochen wieder Musik
in den Ohren zu haben – lágrimas negras.
Am Hafen fotografiert ein
erfolgreicher Angler seinen winzigen Fisch am Haken, an den Felsen räkeln sich
junge Frauen vor den Handykameras ihrer Liebsten, wahrscheinlich für das
nächste Facebook-Profilfoto. Vom Regen heute morgen ist weit und breit keine
Spur mehr.
Am Abend essen wir gemeinsam mit Eva,
die gerade so noch ein Bett bekommen hat, in einem Restaurant das Pilgermenü.
Neben uns nehmen die vier irischen Damen Platz. Fischsuppe, Lachs und Eistorte.
Dazu guter Wein und ein unterhaltsames deutsch-spanisch-englisches Gespräch. Die
Kellnerin muss uns dann leider von der Terrasse verscheuchen, da der Tisch
bereits reserviert ist, gibt uns dafür drinnen einen Tisch und einen aus. Mit
patxaran (Schlehenlikör), orujo de hierbas (Kräuter-Tresterband) und orujo de
frambuesa (Himbeer-Likör) stoßen wir auf einen schönen Abend an.