Samstag, 27. Oktober 2012

Laufen lernen - Tag 15


Nicht nur die bis lange in die Nacht andauernden Gespräche vor dem Fenster, sondern auch der tobende Sturm haben für keinen ausgiebigen und erholsamen Schlaf gesorgt. Noch ist der Himmel wolkenverhangen, der Wind zwirbelt durch die Bäume. Mit Taschenlampe bewaffnet, sammele ich meine Socken auf, klaube die gewaschene Wäsche vom Boden.

Mit mir aufgestanden sind Sascha und Eva, auch sie wollen früher los als der Rest der Pilger. Allerdings haben wir Rosie und einen weiteren Spanier angestachelt, Rosie hatte mich gestern gefragt, ob sie mit mir zusammen laufen könne, da habe ich dann doch lieber abgewunken.

Noch ist der Himmel nachtblau, die schweren Wolken hängen tief, ein regenankündigender Wind fährt mir durch die Haare. Eigentlich müsste es langsam heller werden, doch die Farben changieren nur von blau nach grau. Und dann, warm ist mir schon lange nicht mehr, kommt es kalt von oben herunter... Ich habe bereits drei Schichten an und spute mich, verliere dadurch Eva und Sascha aus den Augen. Glücklicherweise verliert sich der Regenvorhang recht schnell in vereinzelten Nieselanfällen. Auf dem grünen Hügel vor mir steht wie aus einem Gruselfilm eine alte Kirche. In einem winzigen Örtchen mit Seniorenresidenz fährt ein kleiner Junge den riesigen Trecker aus der Garage. Unter einem moosbewachsenen, knorrigen Baum finde ich ein relativ trockenes Plätzchen und mache kurz Pause.

Kurz vor Cóbreces sehe ich das Meer wieder. Der Kopf schweift umher, denkt, wie einfach das Leben eigentlich sein könnte, wie unglaublich abhängig man sich jedoch macht. Auf einem schmalen, abschüssigen Weg passiert es dann. Der Teer ist glatt, das Wanderschuhprofil bietet nicht wie gewohnt Halt und in der Kurve lege ich mich hin. Völlig perplex schaue ich auf mein verdrehtes, blutendes Knie, das Schienbein pocht. So sitze ich da und verfluche meine mich ablenkenden Gedanken, meine Unvorsichtigkeit und das erste Mal schluchze ich, die Tränen kullern meine Wangen hinunter. Gefühlt sitze ich eine halbe Ewigkeit auf dem nasskalten Boden. Irgendwann ist es dann genug und ich rappele mich auf. Ändern kann nur ich alleine etwas. Kurz darauf werde ich von zwei spanischen Radpilgern überholt. Beim Pilgergruß merken sie, dass etwas nicht stimmt, kehren um und verarzten mein lädiertes Knie mit Jod. Das baut auf, Hilfe unter Fremden und doch irgendwie Vertrauten. So langsam finde ich zurück zum Glauben ans Gute im Menschen. Sie päppeln mich noch mit ein paar Worten auf, ich sei eine Löwin, das würde ich schon überstehen. Und mit einem noch vor Schmerzen verzogenen Lächeln wandere ich weiter. Fast rutsche ich nochmals aus, kann mich gerade so am Geländer halten. In Cobréces statte ich der roten neugotischen Kirche San Pedro ad Víncula einen Besuch ab und versuche, meine innere Aufgewühltheit zu beruhigen. Eines der älteren französischen Pärchen läuft mir über den Weg. Paulette, die sonst immer brav an Michels Hand pilgert (er zieht sie quasi den Jakobsweg entlang), ist es ähnlich ergangen, auch sie hat sich an besagter Stelle eine Etage tiefer begeben.

Der Weg zieht sich durch den Wald über weniger glitschige Straßen und die Sonne lässt die Feuchtigkeit verdampfen. Ich schraube mein Tempo etwas herunter, nehme den sonst am Rucksack baumelnden Wanderstock zur Hilfe und fühle mich Schritt für Schritt wieder sicherer auf den Beinen.
Bei einer meiner kleineren Halte pilgert Juan Carlos an mir vorbei. Er sieht mein jodverschmiertes Bein und erkundigt sich nach meinem Befinden. Er bietet mir sogar an, mir Ballast abzunehmen und ein Teil meines Gepäcks bis nach Comillas zu tragen. Doch das schaffe ich auch allein. Das Gute im Menschen...

An der nächsten Bank finde ich ihn rauchend wieder. Die letzten zwei Stunden der Etappe laufen wir zusammen und unterhalten uns über Gott und die Welt. Er ist Buchhalter in Barcelona.
Bei dem Ortseingangsschild hat sich jemand einen doch irgendwie witzigen Scherz erlaubt: „Comi las“ (comillas = Anführungszeichen, las comí = ich aß sie). Die Pilgerherberge „La Peña“ befindet sich in einem alten Gefängnis. Es stehen schon an: Die sportliche Spanierin aus Toledo, von Beruf teacher und mit Blasen an den Füßen, die größer als ihr ganzer Fuß sein müssen, zumindest wenn man ihren Schilderungen Glauben schenken mag und ein paar Spanierinnen, sowie mein liebster Pilgergefährte. 

Juan Carlos besorgt Eiswürfel für mein angeschwollenes Schienbein und ein kühles Bier für unseren Kopf. Der „hombre que susurra a los peregrinos“ (der „Pilgerflüsterer“), wie Juan Carlos ihn tauft, erzählt uns – ob wir wollen oder nicht –, dass er bereits sehr gut essen war und sich jetzt auf den Weg zum Strand macht. Ach ja, und er habe nach der einfachen Strecke heute, einfach bestens gegessen. Und Platz fünf sei seiner in der Reihe der wartenden Pilger. Im Schatten warten wir auf die hospitalera, die dann rigoros allen Pilgern, für die es keinen Platz mehr gibt (20 Betten), den Einlass verwehrt. Vielleicht könne der hiesige Pfarrer einige der bettenlosen Pilger aufnehmen, zumindest dürfen sie sich duschen und ihre Wäsche waschen.

Nach der Erledigung der täglichen Pilgeraufgaben schnappen Juan Carlos und ich unsere Sachen und drehen eine Runde durch die Kleinstadt, dann setzen wir uns ans Meer, um kurz darauf in die Wellen zu rennen. Das Salzwasser brennt in der Wunde. Wir dümpeln in den hohen Wellen umher und halten Ausschau nach Walen... Zurück am Strand trocknen wir in der Sonne, er gibt mir seinen MP3-Player. Seltsam nach zwei Wochen wieder Musik in den Ohren zu haben – lágrimas negras.

Am Hafen fotografiert ein erfolgreicher Angler seinen winzigen Fisch am Haken, an den Felsen räkeln sich junge Frauen vor den Handykameras ihrer Liebsten, wahrscheinlich für das nächste Facebook-Profilfoto. Vom Regen heute morgen ist weit und breit keine Spur mehr.

Am Abend essen wir gemeinsam mit Eva, die gerade so noch ein Bett bekommen hat, in einem Restaurant das Pilgermenü. Neben uns nehmen die vier irischen Damen Platz. Fischsuppe, Lachs und Eistorte. Dazu guter Wein und ein unterhaltsames deutsch-spanisch-englisches Gespräch. Die Kellnerin muss uns dann leider von der Terrasse verscheuchen, da der Tisch bereits reserviert ist, gibt uns dafür drinnen einen Tisch und einen aus. Mit patxaran (Schlehenlikör), orujo de hierbas (Kräuter-Tresterband) und orujo de frambuesa (Himbeer-Likör) stoßen wir auf einen schönen Abend an.

1 Kommentar:

  1. Meine Hände können sich auch noch an die rutschige Stelle erinnern, ich hab mich nämlich auch zwei Mal dort langgelegt. Danke fürs Erinnern an das skurile französische Pärchen :-)

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