Sonntag, 14. Oktober 2012

Laufen lernen - Tag 2


Die Nacht war länger und entspannter als befürchtet. Leise packe ich meine Sachen. Der Himmel ist noch von einem fahlen Nachtblau befallen. In der Küche morgendliches Gemurmel. Frühstück, typisch spanisch, somit eher karg: Kaffee, Kekse, ein wenig Brot und Marmelade auf der langen Sitzbank.

Wanderstiefel schnüren, Rucksack schultern und die ersten Schritte wagen. Vor mir liegen in etwa 820 Kilometer. Aus der Kleinstadt hinaus, ins Marschland der Marisma de Jaitzubia. Ein Feuchtgebiet. Das erste „Buen camino!“ eines Einheimischen. Über kleine kieselige Wege, Schilf, niedrige Brombeerhecken. Und eine Menge Federvieh, welches ich nicht benennen kann. Der erste Anstieg. Die ersten Mitpilger in Sicht. Die Wanderstöcke leisten ihre Dienste. Am Santuario de la Virgen de Guadalupe sehe ich das erste Mal zurück. Irún liegt unter dicken, grauen Wolken, ein paar wenige Sonnenstrahlen durchbrechen den schwer wiegenden Morgen. So wie die erste Entscheidung. Der Pfad auf den Jaizkibel hinauf ist gekennzeichnet für alle alpinerfahrenen Pilgerer. Nachdem so gut wie keine der Probewanderungen vor dem Spanienflug aufgrund von vielerlei Ausreden stattfand, wähle ich die leichtere Variante. Mehr Strecke, dafür weniger Höhenmeter. Auf knapp 500 Meter schaffe ich es trotzdem, schneller als gedacht, ziehe ich an weiteren Pilgern vorbei.

Der Weg zieht Schlangenlinien, ist von lilafarbenen blumigen Gewächsen gesäumt und fällt zur einen Seite ins Nichts. Klong, klong. Kuhglockengeräusche. Aber, wo bitte sind die Kühe? Ich hebe meinen sonst sehr auf die Bodenbeschaffenheit bedachten Blick. Aus dem Gebüsch oberhalb von mir schaut mich träge ein Pferd an. Gemütlich grast es weiter, während ich mich wundere, wie es in so unebenem abschüssigen Gelände dasteht. Die Sonne zeigt sich, das Blätterdach schützt. Schritt für Schritt komme ich voran. Straße. Kleine Gehöfte am Wegesrand, ein etwa 3-jähriger Junge grüßt mich vom Arm seines Großvaters aus. Ein paar Schritte vor mir läuft Vera, wie sich im späteren Gespräch herausstellt. Sie ist bereits den Jakobsweg gelaufen und hat diesen Sommer nur begrenzt Zeit, und auch niemanden, der sie begleiten wollte. Eigentlich hätte sie die Vía de la Plata laufen wollen, doch die erste Tagesetappe hat sich als lang und sehr heiß herausgestellt. Der zweite Versuch, der Camino Primitivo. Doch die erste Nacht, einsam in der verlassenen Herberge. Zu einsam. Dann doch noch einmal den Küstenweg oder auch Camino del Norte. Gemeinsam steigen wir die Treppenstufen hinab nach Pasaje de San Juan. Und plötzlich liegt es vor mir: das Meer. An der Bucht machen wir Halt und lernen Álvaro kennen. Ein 72-jähriger Kolumbianer, Wahl-US-Amerikaner. Er ist bereits den Camino Francés gelaufen, hatte jedoch mehr Zeit als benötigt eingeplant. Das Umbuchen des Fluges hätte sehr viel mehr Geld als vorhanden gekostet. Und auch eine Woche Aufenthalt in Madrid wäre ihm teurer als beliebt zu stehen bekommen. Die Idee: einfach noch einen Teil eines weiteren Jakobsweges laufen. Die nächsten Tage noch wird uns Álvaro begleiten.

Antonio, der doch schon viel weiter sein sollte, schließlich ist er mit dem Rad unterwegs, treffe ich an der kleinen Fähre, die uns ans andere Ufer des Ortes bringt. Bereits nach einigen Kilometern ist ihm heute Morgen der Reifen geplatzt. Und keine Fahrradwerkstatt weit und breit. Das bedeutet, Fahrrad schultern und den gleichen Weg wie wir einschlagen. Auf der grün lackierten Fähre verweilen wir gerade einmal drei Minuten, dann geht es wieder hinauf. Stufen über Stufen. Höher und immer höher. Wie spät mag es sein? Eine Uhr trage ich nicht bei mir und auch das Handy ist ausgeschaltet. Der Meeresblick lässt mich meine Füße vergessen. Weiter und weiter nach oben. Über winzige bewucherte Pfade, jahrhundertealte zerfallene Brücken am Wegesrand. Irgendwann, nach einer gefühlten Ewigkeit liegt mir San Sebastián (im Baskischen: Donostia) zu Füßen. Mit seinen beiden langgezogenen Stränden, an denen sich die Surfer austoben. Das Tagesziel ist erreicht, die ersten 25 Kilometer liegen hinter mir. Und es ist noch recht früh. 12.30 Uhr.

Heute keine Pilgerunterkunft. An der Strandpromenade warte ich auf Julen, der Zwillingsbruder einer sehr guten aus Donostia stammenden Freundin. Jogger, unglaublich viele. Surfer stehen in ihren getränkten Neoprenanzügen an den Ampeln, tropfen mit ihren Brettern in der Hand auf Grün wartend, den Asphalt voll. Mittagszeit. Mit Julen an meiner Seite wandere ich durch halb Donostia bis zum Haus in der Nähe eines Gebäudes, in dem im Untergeschoss ein riesiger Supermarkt untergebracht ist und direkt darüber eine Kirche.

Essen und dann schlafen. Im Zimmer von Maddalen, die momentan leider in Honduras arbeitet. Ein Bett und ein ganzer Raum nur für mich. Der Regen weckt mich gegen späten Nachmittag, von dem wir uns nichts anhaben lassen. Julen verpackt mich in Regenhose und meine eigene Regenjacke kann ich auch gleich auf ihre Dichte hin überprüfen. Auf dem grünen Motorroller erfahren wir die Stadt. Die edle, aus vorherigen Jahrhunderten anmutende Strandballustrade schmiegt sich an die langen Strände, hinauf auf den Monte Igeldo, kurvig und leicht verregnet. Die Peine del Viento (Windkamm) trotzt den herangrollenden Wellen tief unter uns. Wieder hinab, auf die andere Seite der Stadt, hinauf auf den Monte Urgull, auf dem eine alte Burg steht. Dort hinauf kommt man jedoch nur zu Fuß. Und auch in der Altstadt geht es ohne motorisierten Untersatz deutlich besser. Die Häuser sind pompös und bullig, der Sand fein und beige, das Meer dunkelblau, türkis dort, wo die Wellen zerschellen. Die gesamte Stadt scheint zu laufen oder Rennrad zu fahren oder zu rudern, so wie auch Julen. Meine Beine werden schwer, die Knie schmerzen, da hilft auch der Wind nicht, welcher mir das Gekreisch der Möwen ins Gesicht bläst. Zu Hause erwartet uns bereits Ion, der ältere Bruder und dessen Freundin. Selbst aufgebackene Fertigpizza und die Schwimmer der Olympischen Spiele. Recht schnell bin ich müde und falle in einen etwas unruhigen Schlaf.

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