Sonntag, 28. Oktober 2012

Laufen lernen - Tag 16


Am nächsten Morgen stolpere ich im eigentlichen Frühstücksraum über zwei schlafende Pilger – Víctor und Francesc. Also doch draußen vor der Tür. Obwohl wir nichts abgemacht haben, steht auch Juan Carlos schon mit Rucksack auf dem Rücken da. Der Pilgerflüsterer kurvt seine Hüften, und macht auch sonst allerlei seltsame Bewegungen, die mit Dehnübungen recht wenig gemein haben. Ein Grinsen können wir uns nicht verkneifen.

Wir sind so früh also mal wieder nicht die einzigen. Auch Rosie, ein spanisches Touri-Pilgerpärchen aus Bilbao, das etwa sieben Tage wandern will, Mariam und Libertad beginnen den heutigen Pilgertag um diese Uhrzeit. Die Laufgruppe ist recht anstrengend. Ein einziges Geschnatter. Ich setze mich ein wenig ab, doch auch das nützt herzlich wenig. Das spanische Organ ist lauter als es dem deutschen Ohr lieb ist. Die Picos de Europa liegen zu meiner Linken, zart malen sich die fernen Bergspitzen in den Himmel, ein wenig Schnee vom Gipfel, ja, das wäre wohl mein persönlicher Gipfel bei der Wärme. In San Vicente de la Barquera nehmen wir alle zusammen in einem Café Platz und ein zweites Frühstück zu uns.

Dann folgt viel Asphalt. Mein angeschwollenes Bein macht seine Mätzchen. So langsam löst sich die Wandergruppe auf, die noch energiegeladenen gerade erst beginnenden spanischen Pilger setzen sich ab, Rosie fällt zurück und der Pferdeflüsterer ward nicht länger gesehen. Ein paar Arbeiter befreien die Straßenränder vom Unkraut und Juan Carlos und ich schauen ihnen dabei von der schattigen Bank aus zu. Eigentlich soll der Weg an einer Turmruine vorbei führen, doch die lässt auf sich warten. Entgegen aller Pilgermeinung ziehen wir die Schuhe aus.

Etwa 100 Meter weiter stoßen wir dann tatsächlich auf die viel gesuchte Ruine. Eine nette Spanierin, die auch recht gut Deutsch spricht, versorgt uns mit einem Stempel in der credencial. Für einen Eintrag ins blätterne Gästebuch gibt es ein Bonbon. Plötzlich steht im Eingang: der Pilgerflüsterer. Schnellstmöglich fliehen wir und schmieden Pläne, wie wir ihn für die nächste Zeit loswerden. Wir könnten zum Beispiel gelbe Farbe besorgen und ihn mit in die Irre führenden Pfeilen verwirren. Doch das müssen wir gar nicht. Wir sind schnell genug. Durch Eukalyptuswälder auf Straßen pilgern wir unserem Ziel entgegen. Der Duft ist zwar anregend, aber gut für den Boden sind diese gepflanzten Waldkulturen nicht. Wieder ein menschlicher Eingriff mehr in die Natur. So langsam zieht sich der Weg, die Unterhaltung wird spärlicher, jeder läuft in seinem eigenen Trott. Wir treffen auf einen Portugiesen, der sonst immer mit den spanischen „salchichas de Frankfurt“ essenden Polen unterwegs ist, der sich uns anschließt. Neben uns ein Fluss, verlockend. Aber nein, wir laufen weiter, um endlich irgendwann in Colombres anzukommen. Eine Flussüberquerung, noch eine zweite und bei dieser zweiten in Unquera schlägt die Brücke die Brücke zwischen Kantabrien und Asturien.

Die Hitze erschlägt mich fast, mit Mühe und Not erreiche ich zusammen mit den beiden Männern das polideportivo, unsere heutige Übernachtungsstätte. Die Sporthalle wird in den Sommermonaten, wenn in Spanien (fast) alle Urlaub haben, den Pilgern zur Verfügung gestellt. Feldbetten und Sportmatten stehen bereit. Direkt nebenan ein kleines Freibad. Endlich mal wieder ein paar Bahnen ziehen und meine Beine mit einer anderen Sportart entspannen. Als ich zurücktropfe ist auch mein Lieblingspilger angekommen, er beteiligt sich jedoch nicht am regen Gespräch über eine bessere Welt und die Definition von Glück. Das machen die Mädels, vor allem Libertad und Mariam. Víctor und Francesc schwitzen und suchen nach Antworten auf die fordernden Fragen. Wäsche waschen und Nahrungssuche. Im örtlichen Supermarkt finden wir alles, was wir benötigen, um heute Abend gemütlich vor der Sporthalle mit Víctor und Francesc zu dinieren. Wir wählen einen günstigen Wein (cosechero, direkt nach dem Keltern abgefüllt) mit winzigem Etikett am Fuße der Flasche.

Eigentlich bin ich unglaublich müde, der Großteil der jungen Pilgerschaft ist im Ort unterwegs, Juan Carlos überredet mich. Das Dorf ist mit einem Mal lebendig geworden, an einem Mittwochabend tummeln sich wie es scheint alle Einwohner in den Bars und Kneipen. Die Pilger finden wir ohne nach ihnen suchen zu müssen. Boris und Guilia verabschieden sich heute. Da in Asturien die sidra (spanischer Apfelwein, herber als die französische Variante) den Abend regiert, trinken auch die Pilger das Gesöff. Man schenkt ihn von oben herab ein: Die Flasche wird so hoch wie nur möglich über dem Kopf gehalten und in das tief gehaltene Glas geschenkt. Es gibt ganze Meisterschaften...


Unsere Feldbetten haben Juan Carlos und ich nach draußen verfrachtet, denn das hallende Schnarchkonzert und die Hallenhitze wollen wir uns nur ungern antun. Die Nacht ist zwar kalt, aber dafür beschert sie uns einen sternenklaren Himmel.

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