Am nächsten Morgen stolpere ich im
eigentlichen Frühstücksraum über zwei schlafende Pilger – Víctor und Francesc.
Also doch draußen vor der Tür. Obwohl wir nichts abgemacht haben, steht auch
Juan Carlos schon mit Rucksack auf dem Rücken da. Der Pilgerflüsterer
kurvt seine Hüften, und macht auch sonst allerlei seltsame Bewegungen, die mit
Dehnübungen recht wenig gemein haben. Ein Grinsen können wir uns nicht
verkneifen.
Wir sind so früh also mal wieder nicht die einzigen. Auch Rosie, ein spanisches
Touri-Pilgerpärchen aus Bilbao, das etwa sieben Tage wandern will, Mariam und
Libertad beginnen den heutigen Pilgertag um diese Uhrzeit. Die Laufgruppe ist recht
anstrengend. Ein einziges Geschnatter. Ich setze mich ein wenig ab, doch auch
das nützt herzlich wenig. Das spanische Organ ist lauter als es dem deutschen
Ohr lieb ist. Die Picos de Europa liegen zu meiner Linken, zart malen sich die
fernen Bergspitzen in den Himmel, ein wenig Schnee vom Gipfel, ja, das wäre
wohl mein persönlicher Gipfel bei der Wärme. In San Vicente de la Barquera
nehmen wir alle zusammen in einem Café Platz und ein zweites Frühstück zu uns.
Dann folgt viel Asphalt. Mein
angeschwollenes Bein macht seine Mätzchen. So langsam löst sich die
Wandergruppe auf, die noch energiegeladenen gerade erst beginnenden spanischen
Pilger setzen sich ab, Rosie fällt zurück und der Pferdeflüsterer ward nicht
länger gesehen. Ein paar Arbeiter befreien die Straßenränder vom Unkraut und
Juan Carlos und ich schauen ihnen dabei von der schattigen Bank aus zu.
Eigentlich soll der Weg an einer Turmruine vorbei führen, doch die lässt auf
sich warten. Entgegen aller Pilgermeinung ziehen wir die Schuhe aus.
Etwa 100 Meter weiter stoßen wir
dann tatsächlich auf die viel gesuchte Ruine. Eine nette Spanierin, die auch
recht gut Deutsch spricht, versorgt uns mit einem Stempel in der credencial.
Für einen Eintrag ins blätterne Gästebuch gibt es ein Bonbon. Plötzlich steht
im Eingang: der Pilgerflüsterer. Schnellstmöglich fliehen wir und schmieden
Pläne, wie wir ihn für die nächste Zeit loswerden. Wir könnten zum Beispiel
gelbe Farbe besorgen und ihn mit in die Irre führenden Pfeilen verwirren.
Doch das müssen wir gar nicht. Wir sind schnell genug. Durch Eukalyptuswälder auf Straßen pilgern wir unserem Ziel entgegen. Der Duft ist zwar anregend, aber
gut für den Boden sind diese gepflanzten Waldkulturen nicht. Wieder ein menschlicher
Eingriff mehr in die Natur. So langsam zieht sich der Weg, die Unterhaltung wird
spärlicher, jeder läuft in seinem eigenen Trott. Wir treffen auf einen
Portugiesen, der sonst immer mit den spanischen „salchichas de Frankfurt“
essenden Polen unterwegs ist, der sich uns anschließt. Neben uns ein Fluss,
verlockend. Aber nein, wir laufen weiter, um endlich irgendwann in Colombres
anzukommen. Eine Flussüberquerung, noch eine zweite und bei dieser zweiten in
Unquera schlägt die Brücke die Brücke zwischen Kantabrien und Asturien.
Die Hitze erschlägt mich fast, mit
Mühe und Not erreiche ich zusammen mit den beiden Männern das polideportivo,
unsere heutige Übernachtungsstätte. Die Sporthalle wird in den Sommermonaten,
wenn in Spanien (fast) alle Urlaub haben, den Pilgern zur Verfügung gestellt.
Feldbetten und Sportmatten stehen bereit. Direkt nebenan ein kleines Freibad.
Endlich mal wieder ein paar Bahnen ziehen und meine Beine mit einer anderen
Sportart entspannen. Als ich zurücktropfe ist auch mein Lieblingspilger
angekommen, er beteiligt sich jedoch nicht am regen Gespräch über eine bessere
Welt und die Definition von Glück. Das machen die Mädels, vor allem Libertad
und Mariam. Víctor und Francesc schwitzen und suchen nach Antworten auf die
fordernden Fragen. Wäsche waschen und Nahrungssuche. Im örtlichen Supermarkt
finden wir alles, was wir benötigen, um heute Abend gemütlich vor der
Sporthalle mit Víctor und Francesc zu dinieren. Wir wählen einen günstigen Wein
(cosechero, direkt nach dem Keltern abgefüllt) mit winzigem Etikett am Fuße der
Flasche.
Eigentlich bin ich unglaublich
müde, der Großteil der jungen Pilgerschaft ist im Ort unterwegs, Juan Carlos
überredet mich. Das Dorf ist mit einem Mal lebendig geworden, an einem
Mittwochabend tummeln sich wie es scheint alle Einwohner in den Bars und Kneipen.
Die Pilger finden wir ohne nach ihnen suchen zu müssen. Boris und Guilia
verabschieden sich heute. Da in Asturien die sidra (spanischer Apfelwein,
herber als die französische Variante) den Abend regiert, trinken auch die
Pilger das Gesöff. Man schenkt ihn von oben herab ein: Die Flasche wird so hoch
wie nur möglich über dem Kopf gehalten und in das tief gehaltene Glas
geschenkt. Es gibt ganze Meisterschaften...
Unsere Feldbetten haben Juan Carlos und ich nach
draußen verfrachtet, denn das hallende Schnarchkonzert und die Hallenhitze
wollen wir uns nur ungern antun. Die Nacht ist zwar kalt, aber dafür beschert
sie uns einen sternenklaren Himmel.
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