Dienstag, 23. Oktober 2012

Laufen lernen - Tag 11


Als Erste verlasse ich um 6 Uhr die Herberge. Noch ist es stockfinster und die Pfeilsuche gestaltet sich schwierig. Mit Lindas Reiseführer in der Hand versuche ich den Weg zu finden (sie hat meinen viel schwereren spanischsprachigen Wanderführer mitgenommen, der eh' nicht sehr korrekte Angaben geliefert hat). Durch viel Wald und über schmale Wege laufe ich Richtung Islares. Schon kurz hinter Castro-Urdiales geht die Straße in einen Feldweg über und plötzlich befinde ich mich in einer skurrilen Zwergenbaumlandschaft, in der höchstwahrscheinlich Gnome und Feen hausen. Sieht so ein Zauberwald en miniature aus? Werde ich hier plötzlich, ganz unverhofft stolpern und in ein tiefes, tiefes Loch bis zum Erdkern fallen? Oder streckt der knorrige alte Herr dort hinten gleich seine verzweigten Finger nach mir aus?

Die Fabelwesen – oder vielleicht auch nur meine Fantasie – meinen es gut mit mir, ich durchstreife das geheimnisvolle Dickicht ohne weitere Vorfälle. An der Steilklippe, die sich wie immer in diesen Tagen einige Meter fallen lässt, grast eine riesige Ziegenherde. Tschuldigung, ich müsste da mal durch. Einige Momente stehe ich da, warte, denke, worauf ich eigentlich warte. Denn eines ist offensichtlich: Die Ziegen kümmert meine Anwesenheit momentan noch recht wenig. Fröhlich und mit Glockengeläut im Geleit rupfen sie weiter das Gras vom Boden. Ein Schritt, noch ein Schritt, langsam nähere ich mich ihnen. Die Herde hat viele Jungtiere im Schlepptau, bei so tierischen Müttern weiß man ja nie genau. Doch als ich meinen Weg fortsetze, geschieht etwas Seltsames: Die Schar teilt sich, ich wate durch ein Fellmeer aus Ziegen und bilde eine Schneise.

Nach zwei Stunden komme ich in Islares an, die Kirchturmuhr schlägt acht, die ersten zehn Kilometer für heute. Eine kurze Pause, die Sonnencreme kommt zum Einsatz.
Das war’s auch erst einmal mit einträchtiger Naturidylle. Jetzt im Programm: Schnellstraße. Allerdings scheint es hier in Spanien ganz normal zu sein, direkt an der Straße zu spazieren. Ich treffe bei Nocina auf eine ältere Dame, die aus dem Baskenland stammt und nicht ganz heimlich Vorurteile gegen die Kantabrier hegt. Sie erzählt stolz, dass sie bereits gestern Pilgern geholfen hat und ich vertraue ihr, als sie mich über die Brücke hinauf, anders als Claudia (so wird hier unter den deutschen Pilgern der rot(h)e(r) Wanderführer von Cordula Rabe genannt und liegt immer wieder im Streit mit dem anderen gelben von Raimund Joos) rät. Ich wandere auf einem sehr schmalen Seitenstreifen an einer kurvigen Schnellstraße in die Höhe. Sollte das nicht bald enden? Nein, sie hat mich tatsächlich auf die Straße anstatt durch den Wald geschickt.

Umdrehen ist nach einer Stunde in der Hitze schwitzen auch keine Option mehr. Mehrere kurze Pausen, dort wo es einen Zipfel Schatten gibt, verrückte Motorradfahrer und der Blick von oben auf die Autobahn. Meine Wanderstöcke, die ich nur noch in solchen Situationen geistiger Ermüdungserscheinungen benutze, baumeln nicht länger an meinem Rucksack fest geklettet, sondern geben mir den Schwung, um die Kurven mit zumindest ein wenig Geschwindigkeit zu nehmen. 

Liendo. Endlich. Laut Cordula geht es weiter an der Straße entlang. Doch erst einmal mache ich Pause, drei kleine gelbe Pfeile zeigen in den Wald. Genau dort lasse ich mich nieder. Pausenbrot mit Schafskäse. Zwei Radfahrer kommen des Weges und ich frage sie einfach mal, wo es denn jetzt langginge. Cordula, der Straße folgend oder vielleicht doch durch den Wald?

Anscheinend ist der Jakobsweg bereits so stark kommerzialisiert, dass die meisten Wanderführer (und auch Hinweisschilder) jedes Dörfchen auf dem Weg mitnehmen, damit der so betuchte Pilger auch dort ein wenig seines Kapitals hinterlässt. Der eigentliche Weg, man erkennt die Pfeile kaum noch, führt zunächst durch den Wald und dann am Saum der Steilküste entlang.
Nach so viel Straße ist mir die Natur und das Gekraxel mehr als recht. Was für eine Aussicht. Die Felsen bauen seltsame Formen in die Lüfte, der Wind weht das Meeresrauschen in mein Ohr. Nur wenige Zentimeter neben mir lauert der Abgrund. Plötzlich steht da ein Tor. Ein Tor von den in Kantabrien so oft vertretenen Jagdgründen zu Sportzwecken. Ich traue mich nicht, es zu öffnen, aus Angst von einem schießwütigen Spanier erlegt zu werden. Zurück will ich auch nicht. Mit den Wanderstöcken bewaffnet bahne ich mir den Weg über kalkweiße Felsen und fast schwarzes Dornengestrüpp, das mir meinen Beinen ein hübsches Muster verleiht. Und tatsächlich, mein selbst hergestellter Trampelpfad endet auf einem kleinen Sträßchen.

Weiter oben treffe ich auf Einheimische, die Entwarnung geben, keine Schusswaffenversessenen weit und breit – ich hätte also frohen Mutes das Tor öffnen können. Egal. Das Meer habe ich trotzdem nicht aus den Augen verloren. Nach einer kurzen Pause im Schatten eines Baumes und nach etlichen Frageversuchen bin ich auf dem richtigen Weg. Das befragte spanische Pärchen war ganz erstaunt, dass ich den Weg alleine gehe, wollten mich glatt zum Mittagessen in ihr Haus laden, das habe ich ausschlagen können, jedoch nicht die eisgekühlte Flasche Wasser.

Durch die Puerta de Bilbao aus dem 13. Jahrhundert betrete ich Laredo. Zusammen mit der lautstarken Spaniergruppe, bestehend aus Xavier, Albert, Marc, Paula, Víctor, Francesc und Cristina. Wie auch in Gernika gibt es hier keine offizielle Pilgerherberge. Die Madres Trinitarias gewähren laut Claudia Pilgern in ihrem Konvent Unterschlupf. Es gibt Probleme, nicht für alle ist Platz und nur zwei Betten wurden reserviert. Nach langem Hin und Her bleibe ich gemeinsam mit dem humpelnden Albert bei den Schwestern des Trinitarier-Ordens, während der Rest noch fünf Kilometer weiter läuft, um in Santoña in einer öffentlichen Herberge zu nächtigen.

In dem abgeschlossenen Bereich für Pilger fühlen wir uns wie in einer kleinen Irrenanstalt, die Wände weiß getüncht, alles sehr steril und ein weiterer Herr in unserem Zimmer, dessen Namen ich nie erfahren werde und der mir die nächsten Tage immer wieder ein Stückchen verderben wird. Aber das weiß ich ja jetzt noch nicht. Er fängt dennoch gleich an mich zu belehren: Zwei Paar Socken übereinander würden Wunder tun, und ich müsste doch schleunigst etwas Essen, das sei wichtig auf dem Jakobsweg. Er, ja er habe ja schon Erfahrung, er sei schon letztes Jahr einen Teil des Weges gegangen und liefe nun weiter. Er. Schnell begreife ich, dass Höflichkeit mich hier nicht weiterbringt und folge nicht seinem Rat, etwas zu essen, sondern schlafe nach einer heißen Dusche erst einmal bis die Hitze aus den Straßen verschwunden ist.

Später schlendern Albert und ich durch den touristenüberlaufenen Ort, bevor wir dann am Abend verbotenerweise im Park dinieren – ein mehrere Gänge umfassendes Supermarkt-Menü mit improvisiertem Besteck.

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