Dienstag, 16. Oktober 2012

Laufen lernen - Tag 4


Die Geräuschkulisse der Nacht wurde von männlichen nasalen Tönen bestimmt. Leider nicht sehr einheitlich, daran muss sich beim Schnarchkonzert noch einiges ändern.

Die Wolkendecke bläht sich auf und ergießt sich über unseren Köpfen. Die ersten Schritte gehen Álvaro, Vera und ich gemeinsam. Doch recht schnell trennt uns unser Lauftempo. Links die Straße, rechts die Steilklippen, das aufgewühlte Meer zerschlägt seine Wellen an den steilen Wänden. Die nächsten Landzungen liegen bereits in Sichtweite. Fast jeden Morgen lässt sich erahnen, wo in etwa man am Ende des Tages nächtigen wird. 

Der Rattenschwanz von Geritaria liegt in Grautönen vor mir. Die frühmorgendlichen einheimischen Spaziergänger, Jogger und Radfahrer entgegnen mir ein „¡Buen camino!“, auf das ich immer noch nicht recht zu antworten weiß. Wird das wirklich noch ein guter Weg? Zumindest fallen die Wolkenberge langsam in sich zusammen. Der erste Energieschub des Morgens verläuft sich jedoch. Pause an einem kleinen Ort, an den Kirchen stehen meist auch Trinkwasserbrunnen. Selbst bei diesem etwas durchwachsenen Wetter trinke ich und trinke ich. Ich werde überholt. Nicht nur von jungen durchtrainierten Pilgern. Nein, selbst ältere Pärchen ziehen an mir vorbei. Dann verlässt mich auch noch das Meer und die Anstiege werden steiler. 

Pause. Und nach jeder Pause fühlt sich mein Körper wie eingerostet an. Jede Bewegung läuft unendlich langsam ab. Fünf Minuten Pause bedeuten, dass der nächste Kilometer benötigt wird, um wieder in das zu kommen, was man Schritttempo nennen könnte. Die Landschaft, obwohl grün und höchstwahrscheinlich abwechslungsreich, nehme ich kaum wahr. Mein Blick ist starr auf den unwegsamen Boden gerichtet, oder sie wandern umher auf der Suche nach den verflixten gelben Pfeilen. Einerseits sind sie mein ständiger Begleiter, der Aufheiterung verspricht, wenn er auch an Stellen erscheint, an denen es gar keine Abzweigung gibt. Andererseits weisen sie mir diesen schier unendlichen, anstrengenden Weg. Ob wir noch Freunde werden?

Meine Füße schmerzen. Die Blasen vom ersten Tag, trotz des befolgten Ratschlags, zwei Paar Socken übereinander zu ziehen, scheuern an der Ferse, die Griffe der Wanderstöcke sind nassgeschwitzt, die Hände zeigen erste Schwielen. Werde ich jemals ankommen?

Das letzte Dorf vor Deba, Itziar, hat sich dreist auf die Spitze eines Berges positioniert. 270 Meter Höhe kommen mir wie 2700 zu überwindende Höhenmeter vor. Meine Füße streiken, der Kopf erst recht. Eine halbe Ewigkeit sitze ich am Fuße des Berges und warte, warte auf ein Zeichen. Soll ich die letzten Kilometer per Anhalter fahren?
Als ich ins Ziel des „Stadtlaufs“ von Itziar einlaufe, umjubelt mich niemand. Eher werde ich wohlwollend belächelt, die wahren Läufer sind noch nicht einmal gestartet. Dafür habe ich den letzten Gipfel für heute erklommen. Es soll nicht mehr weit sein bis nach Deba, laut Angaben von mich überholenden Greisen. Tatsächlich. Irgendwann, ich traue meinen Augen kaum, und noch weniger meinen Füßen. Die letzten Meter gehen steil bergab. Asphaltsträßchen. Meine Knie kreischen auf. Plötzlich überholt mich ein Pilger joggend. Das ist der Moment, an dem ich am liebsten weinen möchte.
Die letzten Meter bis zur Touristeninformation schaffe ich gerade so, da der Stadtkern auf Meeresniveau liegt, wurden hier vor ein paar Jahren zwei gläserne Fahrstühle erbaut, sodass man zumindest die letzten wenigen hundert Meter nicht mehr laufen muss. Doch jetzt erst recht. Stufen statt Seilaufzug. 

Kurz vor der Mittagspause erhalte ich den Schlüssel für den auf der Anhöhe liegenden alten Schule, in der ich heute mit einer Menge von anderen Pilger übernachten werde. Neben mir steht ein junger Mann, um die 30, der mich heute Morgen in Askizu an der Kirche überholt hat und sich bereits dort nach meinem Befinden erkundigt hatte. Wir schleppen uns gemeinsam zum Strand, wieder hinauf wollen wir beide nicht. Txus (gesprochen „Tschuss“, seine Schwägerin ist Deutsche, auf Besuch in ihrer Heimat hat er sich bei Verabschiedungen immer angesprochen gefühlt), aus Barcelona und ich sitzen an der Strandpromenade, haben uns unserer Schuhe entledigt, ein Bier in der einen, Mandeln und Pistazien in der anderen Hand. Ungläubig werden wir von Touristen und Einheimischen beäugt. Doch das ist uns völlig einerlei.

Wider Erwarten sind wir in der Schule eine der ersten Pilger. Ein paar bekannte Gesichter, dennoch ohne Namen. Dusche, Wäsche waschen und trocknen, Nahrungssuche. Pilgerroutine. Und da steht plötzlich auch Víctor in der Tür.
Auf winzigen Grundschulstühlchen, an winzigen Zwergentischchen esse ich mein typisches Pilgermenü a la „supermercado“: Baguette, Schafskäse, Oliven, Sardellen. Andere Pilger sind deutlich besser ausgestattet, Campinggeschirr, Besteck, Becher. Mir muss mein sauscharfes Messer reichen. 

Erschöpft liege ich im Doppelstockbett und weiteren dreizehn Pilgern in einem ehemaligen Klassenzimmer. Der Jogger stellt sich als Boris, Italiener heraus. Er ist mit seiner Freundin Giulia unterwegs. Außerdem im Raum: Gabriel aus Madrid, der mir gestern des gleichen Aussehens wegen schon meine Wanderstöcke klauen wollte. Scheinbar noch eine weitere Italienerin und ein Brite, ein Belgier, der seine Gitarre mit auf Pilgerfahrt hat und stark lädiert vor sich hin humpelt. Er sagt, seine Freundin würde er schließlich auch nirgends liegen lassen. Andere Pilger, dessen Gesichter mir bekannt vorkommen, deren Namen und Nationalität mir in diesem Moment jedoch gleichgültig sind.

Das Ankommen am Tagesziel wiegt fast jeden Schmerz und Selbsthass auf. Fast. Den Rest erledigt die Nacht. Und ein paar wenige Menschen wie Txus.

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