Die Geräuschkulisse der Nacht wurde von männlichen nasalen
Tönen bestimmt. Leider nicht sehr einheitlich, daran muss sich beim
Schnarchkonzert noch einiges ändern.
Die Wolkendecke bläht sich auf und ergießt sich über unseren
Köpfen. Die ersten Schritte gehen Álvaro, Vera und ich gemeinsam. Doch recht
schnell trennt uns unser Lauftempo. Links die Straße, rechts die Steilklippen,
das aufgewühlte Meer zerschlägt seine Wellen an den steilen Wänden. Die
nächsten Landzungen liegen bereits in Sichtweite. Fast jeden Morgen lässt sich erahnen,
wo in etwa man am Ende des Tages nächtigen wird.
Der Rattenschwanz von
Geritaria liegt in Grautönen vor mir. Die frühmorgendlichen einheimischen
Spaziergänger, Jogger und Radfahrer entgegnen mir ein „¡Buen camino!“, auf das
ich immer noch nicht recht zu antworten weiß. Wird das wirklich noch ein guter
Weg? Zumindest fallen die Wolkenberge langsam in sich zusammen. Der erste
Energieschub des Morgens verläuft sich jedoch. Pause an einem kleinen Ort, an
den Kirchen stehen meist auch Trinkwasserbrunnen. Selbst bei diesem etwas
durchwachsenen Wetter trinke ich und trinke ich. Ich werde überholt. Nicht nur
von jungen durchtrainierten Pilgern. Nein, selbst ältere Pärchen ziehen an mir
vorbei. Dann verlässt mich auch noch das Meer und die Anstiege werden steiler.
Pause. Und nach jeder Pause fühlt sich mein Körper wie eingerostet an. Jede
Bewegung läuft unendlich langsam ab. Fünf Minuten Pause bedeuten, dass der
nächste Kilometer benötigt wird, um wieder in das zu kommen, was man
Schritttempo nennen könnte. Die Landschaft, obwohl grün und
höchstwahrscheinlich abwechslungsreich, nehme ich kaum wahr. Mein Blick ist
starr auf den unwegsamen Boden gerichtet, oder sie wandern umher auf der Suche
nach den verflixten gelben Pfeilen. Einerseits sind sie mein ständiger
Begleiter, der Aufheiterung verspricht, wenn er auch an Stellen erscheint, an
denen es gar keine Abzweigung gibt. Andererseits weisen sie mir diesen schier
unendlichen, anstrengenden Weg. Ob wir noch Freunde werden?
Meine Füße schmerzen. Die Blasen vom ersten Tag, trotz des
befolgten Ratschlags, zwei Paar Socken übereinander zu ziehen, scheuern an der
Ferse, die Griffe der Wanderstöcke sind nassgeschwitzt, die Hände zeigen erste
Schwielen. Werde ich jemals ankommen?
Das letzte Dorf vor Deba, Itziar, hat sich dreist auf die
Spitze eines Berges positioniert. 270 Meter Höhe kommen mir wie 2700 zu
überwindende Höhenmeter vor. Meine Füße streiken, der Kopf erst recht. Eine
halbe Ewigkeit sitze ich am Fuße des Berges und warte, warte auf ein Zeichen.
Soll ich die letzten Kilometer per Anhalter fahren?
Als ich ins Ziel des „Stadtlaufs“ von Itziar einlaufe,
umjubelt mich niemand. Eher werde ich wohlwollend belächelt, die wahren Läufer
sind noch nicht einmal gestartet. Dafür habe ich den letzten Gipfel für heute
erklommen. Es soll nicht mehr weit sein bis nach Deba, laut Angaben von mich
überholenden Greisen. Tatsächlich. Irgendwann, ich traue meinen Augen kaum, und
noch weniger meinen Füßen. Die letzten Meter gehen steil bergab.
Asphaltsträßchen. Meine Knie kreischen auf. Plötzlich überholt mich ein Pilger
joggend. Das ist der Moment, an dem ich am liebsten weinen möchte.
Die letzten Meter bis zur Touristeninformation schaffe ich
gerade so, da der Stadtkern auf Meeresniveau liegt, wurden hier vor ein paar
Jahren zwei gläserne Fahrstühle erbaut, sodass man zumindest die letzten wenigen
hundert Meter nicht mehr laufen muss. Doch jetzt erst recht. Stufen statt Seilaufzug.
Kurz vor der Mittagspause erhalte ich den Schlüssel für den auf der Anhöhe
liegenden alten Schule, in der ich heute mit einer Menge von anderen Pilger
übernachten werde. Neben mir steht ein junger Mann, um die 30, der mich heute
Morgen in Askizu an der Kirche überholt hat und sich bereits dort nach meinem
Befinden erkundigt hatte. Wir schleppen uns gemeinsam zum Strand, wieder hinauf
wollen wir beide nicht. Txus (gesprochen „Tschuss“, seine Schwägerin ist
Deutsche, auf Besuch in ihrer Heimat hat er sich bei Verabschiedungen immer
angesprochen gefühlt), aus Barcelona und ich sitzen an der Strandpromenade,
haben uns unserer Schuhe entledigt, ein Bier in der einen, Mandeln und
Pistazien in der anderen Hand. Ungläubig werden wir von Touristen und
Einheimischen beäugt. Doch das ist uns völlig einerlei.
Wider Erwarten sind wir in der Schule eine der ersten
Pilger. Ein paar bekannte Gesichter, dennoch ohne Namen. Dusche, Wäsche waschen
und trocknen, Nahrungssuche. Pilgerroutine. Und da steht plötzlich auch Víctor in
der Tür.
Auf winzigen Grundschulstühlchen, an winzigen
Zwergentischchen esse ich mein typisches Pilgermenü a la „supermercado“:
Baguette, Schafskäse, Oliven, Sardellen. Andere Pilger sind deutlich besser
ausgestattet, Campinggeschirr, Besteck, Becher. Mir muss mein sauscharfes
Messer reichen.
Erschöpft liege ich im Doppelstockbett und weiteren dreizehn
Pilgern in einem ehemaligen Klassenzimmer. Der Jogger stellt sich als Boris,
Italiener heraus. Er ist mit seiner Freundin Giulia unterwegs. Außerdem im
Raum: Gabriel aus Madrid, der mir gestern des gleichen Aussehens wegen schon
meine Wanderstöcke klauen wollte. Scheinbar noch eine weitere Italienerin und
ein Brite, ein Belgier, der seine Gitarre mit auf Pilgerfahrt hat und stark
lädiert vor sich hin humpelt. Er sagt, seine Freundin würde er schließlich auch
nirgends liegen lassen. Andere Pilger, dessen Gesichter mir bekannt vorkommen,
deren Namen und Nationalität mir in diesem Moment jedoch gleichgültig sind.
Das Ankommen am Tagesziel wiegt fast jeden Schmerz und
Selbsthass auf. Fast. Den Rest erledigt die Nacht. Und ein paar wenige Menschen
wie Txus.
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