Freitag, 26. Oktober 2012

Laufen lernen - Tag 14


Alleine. Diese Nacht habe ich alleine verbracht und auch diesen langen Tag werde ich alleine verbringen. Erst muss ich durch ganz Santander. Die Städte hier in Spanien wirken morgens um 6.30 Uhr noch wie ausgestorben. Nur vereinzelt treffe ich auf Menschen, die sich wahrscheinlich auf dem Weg zur Arbeit befinden. Doch selbst die ersten Busse fahren nicht vor 8 Uhr. Das Leben hat einen anderen Rhythmus.

Meinen Laufrhythmus finde ich heute recht schnell wieder. Da fällt mir auf, ich bin zwar nach der täglichen Dosis Bewegung noch immer müde, aber meine Beine und Füße? Sie schmerzen zwar, doch es ist mir mittlerweile gleichgültig. Es gibt schlimmeres. Ein ganzkörpertätowierter Hiphoper folgt mir schon seit einiger Zeit, ich versuche mich auf die im Boden eingelassenen Muscheln zu konzentrieren und beschleunige meinen Schritt. Doch er bleibt dran an mir. Das Stadtbild ändert sich, das zu duchquerende Industriegebiet ist nicht mehr weit, die Gegend kommt immer weiter herunter, und der kahlköpfige Typ klebt mir an den Fersen. Erst als er unter einer Brücke Halt macht und sich dort mit einem anderen seltsamen Vogel trifft, atme ich auf.

Industriegebiet. Feldwege direkt an den verlockenden Bahngleisen der FEVE, der Schmalspureisenbahn in Nordspanien. Schon um 9 Uhr brennt die Sonne mir beinahe Löcher ins Kopftuch. Langsam wird die Gegend wieder ländlicher, kleine Dörfchen, viele Kühe und Ziegen. Eine Station fahre ich dann tatsächlich mit der FEVE von Boo de Piélagos nach Mogro, da ich sonst die Brücke zwischen den beiden Orten auf den Schienen laufen müsste oder einen Umweg von fünf Kilometern in Kauf nehmen müsste (und die heutige Strecke beläuft sich schon auf knapp 40 Kilometer). Alleine sein tut gut. Mein Tempo. Meine Pausen. Meine Gedanken. Es gibt so einige Pilger, die einen MP3-Player dabei haben, ich habe mich dagegen entschieden. Selbst das Handy schalte ich so gut wie nie ein, denn es ist für Notfälle gedacht. Ich will wirklich alleine sein, nicht erreichbar, nicht abhängig vom virtuellen Leben.

Zwei der Irinnen laufen mir über den Weg. Sie haben ein Taxi von Santander bis nach Mogro genommen und laufen nun bis nach Santillana del Mar. Sie schwärmen mir in ihrem herrlichen irischen Akzent von der Westküste Irlands vor. Vielleicht ein neues Reiseziel. Wie es mir gefehlt hat, neue Orte zu entdecken. Auch das begreife ich langsam.

Dann laufen wir getrennt weiter. Plötzlich fühle ich mich an Kolumbien erinnert. Ein kleiner Wagen mit Megafon auf dem Dach tuckert in Schrittgeschwindigkeit durch die Ortschaften und es werden die besten, frischesten, tollsten Aprikosen angepriesen. Nur sehe ich keine potenziellen Kunden auf den Straßen. Das monotone „melocotónes, ricos melocotónes“ klingt durch die Vormittagshitze.

Abwasserrohre des Chemieunternehmens Solvay prägen einen langen Streckenabschnitt. Die gelben Pfeile darauf sind fast schon witzlos, der Schotterweg führt ausschließlich geradeaus. Das Meer liegt in weiter Ferne als winzig blaue Linie am flimmernden Horizont. Auch in gelber Farbe auf die hellgrauen Rohre gesprüht: „Jesús está volviendo“ (Jesus kehrt zurück). Es gibt nur wenig schattenspendende Bäume. Generell ist die Landschaft Kantabriens weniger sattgrün als die des Baskenlandes. Mein Wasser, die gesamten zwei Liter, die ich zur Belustigung einiger Pilger fast täglich mit mir herumschleppe, neigt sich dem Ende. In einer Fabrik am Wegesrand höre ich Stimmen. Ich frage höflich einen Herrn mit ölverschmierten Fingern, ob er mir nicht meine Flasche auffüllen könne. Gern doch. Und ja, bis nach Santillana sei es auch nicht mehr weit. Vielleicht noch zwei, drei Kilometer. Aber sicher nicht mehr. So ganz traue ich dem nicht, denn das, was die Karte bei Cordula verrät, sieht nach sehr viel mehr aus. Die Sonne brennt weiter ohne Erbarmen. Sobald ich ein schattiges Plätzchen entdecke, mache ich einige Minuten Halt. Der Ort Requejada lädt zum Laufen an der Hauptverkehrsstraße und erst als die Pfeile wieder herausführen, wird es ruhiger. Ein Brunnen. Endlich, denn das Wasser ist fast schon wieder alle. Ich tränke mein Tuch und binde es mir klitschnass um meinen erhitzten Kopf, bade meinen Nacken und laufe triefend weiter. Schnell hat die Sonne das T-Shirt wieder getrocknet. Ein Neubaugebiet tut sich auf. Die Schotterstraßen werden von schweren Maschinen niedergewalzt. Im Schatten einer Mauer lasse ich mich kurz nieder, setze den Rucksack ab, trinke, gieße mir wieder Wasser über den Kopf und hoffe, dass die Stadt der drei Lügen (sie liegt weder am Meer (Santillana del Mar), noch heilig (santa), geschweige denn eben (llana) – doch sie ist eine der wenigen spanischen noch erhaltenen Mittelalterstädtchen. Kopfsteinpflaster und dicke Mauern. Und jede Menge Touristen. Die Herberge befindet sich hinter dem Museo Jesús Otero. Dort sitzen bereits einige Pilger im Schatten. Paweł, Bartec (ein weiterer Pole), Eva, Pascal und Sascha.

Die hospitalera spricht wider Erwarten fließend Kölsch – ihre Mutter ist Deutsche aus meiner ehemaligen Wahlheimat, ihr Vater Spanier. Duschen, Wäsche waschen, Nahrungssuche. Pilgerroutine. Frische Milch vom Bauernhof gibt es hier in einigen Läden. Mit Eva zusammen genieße ich kühle gazpacho und begutachte den Sonnenbrand auf meinen Waden. Der erste bis jetzt.
Und dann fallen mir auch Víctor und Francesc in die Arme.

Eine Spanierin, Rosie aus Toledo erzählt uns mindestens fünf Mal ihre Geschichte, die so langweilig ist, dass ich sie quasi sofort wieder vergesse. Vielleicht auch, da sie undurchsichtig bleibt.
Francesc und ich kündigen der Gruppe, die es sich mit uns im Innenhof der wirklich schön gelegenen Herberge gemütlich gemacht hat, an, die Messe besuchen zu wollen. Ein wenig belächelt werden wir schon. Morgen ist Mariä Himmelfahrt und dementsprechend auch die Predigt, von der ich in der letzten Kirchenbank einiges verstehe, obwohl ich wünschte, vieles einfach nicht verstehen zu können. Auch hier: beten, knien, beten, stehen, aber kein Gesang. Nur ganz zum Schluss zur Kommunion tönt ein gesangsstarkes Ave Maria aus den Lautsprechern.

Wieder zurück in der Herberge sitzen wir noch zusammen, auch der werte Herr, der die Weisheit mit Löffeln gefressen hat ist da, Rosie, ein weiterer Spanier in der Runde, Juan Carlos. Kurz bevor ich müde vom heutigen Tag ins Bett falle, ertönt ein lautstarkes „Ciao!“ aus dem Gebüsch. Boris, der Italiener, seine Freundin Guilia und die dritte Italienerin im Bunde, Miriam, haben sich im Laufe der Etappe drei Mal verlaufen und kommen erst jetzt in Santillana del Mar an. Sie müssen leider im Flur schlafen, da bereits alle 16 Betten belegt sind.

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