Alleine. Diese Nacht habe ich
alleine verbracht und auch diesen langen Tag werde ich alleine verbringen. Erst
muss ich durch ganz Santander. Die Städte hier in Spanien wirken morgens um
6.30 Uhr noch wie ausgestorben. Nur vereinzelt treffe ich auf Menschen, die
sich wahrscheinlich auf dem Weg zur Arbeit befinden. Doch selbst die ersten
Busse fahren nicht vor 8 Uhr. Das Leben hat einen anderen Rhythmus.
Meinen Laufrhythmus finde ich
heute recht schnell wieder. Da fällt mir auf, ich bin zwar nach der täglichen
Dosis Bewegung noch immer müde, aber meine Beine und Füße? Sie schmerzen zwar,
doch es ist mir mittlerweile gleichgültig. Es gibt schlimmeres. Ein
ganzkörpertätowierter Hiphoper folgt mir schon seit einiger Zeit, ich versuche
mich auf die im Boden eingelassenen Muscheln zu konzentrieren und beschleunige
meinen Schritt. Doch er bleibt dran an mir. Das Stadtbild ändert sich, das zu
duchquerende Industriegebiet ist nicht mehr weit, die Gegend kommt immer weiter
herunter, und der kahlköpfige Typ klebt mir an den Fersen. Erst als er unter
einer Brücke Halt macht und sich dort mit einem anderen seltsamen Vogel trifft,
atme ich auf.
Industriegebiet. Feldwege direkt
an den verlockenden Bahngleisen der FEVE, der Schmalspureisenbahn in Nordspanien.
Schon um 9 Uhr brennt die Sonne mir beinahe Löcher ins Kopftuch. Langsam wird
die Gegend wieder ländlicher, kleine Dörfchen, viele Kühe und Ziegen. Eine
Station fahre ich dann tatsächlich mit der FEVE von Boo de Piélagos nach Mogro,
da ich sonst die Brücke zwischen den beiden Orten auf den Schienen laufen
müsste oder einen Umweg von fünf Kilometern in Kauf nehmen müsste (und die
heutige Strecke beläuft sich schon auf knapp 40 Kilometer). Alleine sein tut
gut. Mein Tempo. Meine Pausen. Meine Gedanken. Es gibt so einige Pilger, die
einen MP3-Player dabei haben, ich habe mich dagegen entschieden. Selbst das
Handy schalte ich so gut wie nie ein, denn es ist für Notfälle gedacht. Ich
will wirklich alleine sein, nicht erreichbar, nicht abhängig vom virtuellen
Leben.
Zwei der Irinnen laufen mir über
den Weg. Sie haben ein Taxi von Santander bis nach Mogro genommen und laufen
nun bis nach Santillana del Mar. Sie schwärmen mir in ihrem herrlichen irischen
Akzent von der Westküste Irlands vor. Vielleicht ein neues Reiseziel. Wie es
mir gefehlt hat, neue Orte zu entdecken. Auch das begreife ich langsam.
Dann laufen wir getrennt weiter.
Plötzlich fühle ich mich an Kolumbien erinnert. Ein kleiner Wagen mit Megafon
auf dem Dach tuckert in Schrittgeschwindigkeit durch die Ortschaften und es
werden die besten, frischesten, tollsten Aprikosen angepriesen. Nur sehe ich
keine potenziellen Kunden auf den Straßen. Das monotone „melocotónes, ricos
melocotónes“ klingt durch die Vormittagshitze.
Abwasserrohre des
Chemieunternehmens Solvay prägen einen langen Streckenabschnitt. Die gelben
Pfeile darauf sind fast schon witzlos, der Schotterweg führt ausschließlich
geradeaus. Das Meer liegt in weiter Ferne als winzig blaue Linie am flimmernden
Horizont. Auch in gelber Farbe auf die hellgrauen Rohre gesprüht: „Jesús está
volviendo“ (Jesus kehrt zurück). Es gibt nur wenig schattenspendende Bäume.
Generell ist die Landschaft Kantabriens weniger sattgrün als die des
Baskenlandes. Mein Wasser, die gesamten zwei Liter, die ich zur Belustigung
einiger Pilger fast täglich mit mir herumschleppe, neigt sich dem Ende. In
einer Fabrik am Wegesrand höre ich Stimmen. Ich frage höflich einen Herrn mit
ölverschmierten Fingern, ob er mir nicht meine Flasche auffüllen könne. Gern
doch. Und ja, bis nach Santillana sei es auch nicht mehr weit. Vielleicht noch
zwei, drei Kilometer. Aber sicher nicht mehr. So ganz traue ich dem nicht, denn
das, was die Karte bei Cordula verrät, sieht nach sehr viel mehr aus. Die Sonne
brennt weiter ohne Erbarmen. Sobald ich ein schattiges Plätzchen entdecke,
mache ich einige Minuten Halt. Der Ort Requejada lädt zum Laufen an der
Hauptverkehrsstraße und erst als die Pfeile wieder herausführen, wird es
ruhiger. Ein Brunnen. Endlich, denn das Wasser ist fast schon wieder alle. Ich
tränke mein Tuch und binde es mir klitschnass um meinen erhitzten Kopf, bade
meinen Nacken und laufe triefend weiter. Schnell hat die Sonne das T-Shirt
wieder getrocknet. Ein Neubaugebiet tut sich auf. Die Schotterstraßen werden
von schweren Maschinen niedergewalzt. Im Schatten einer Mauer lasse ich mich
kurz nieder, setze den Rucksack ab, trinke, gieße mir wieder Wasser über den
Kopf und hoffe, dass die Stadt der drei Lügen (sie liegt weder am Meer
(Santillana del Mar), noch heilig
(santa), geschweige denn eben (llana) – doch sie ist eine der wenigen
spanischen noch erhaltenen Mittelalterstädtchen. Kopfsteinpflaster und dicke
Mauern. Und jede Menge Touristen. Die Herberge befindet sich hinter dem Museo
Jesús Otero. Dort sitzen bereits einige Pilger im Schatten. Paweł, Bartec
(ein weiterer Pole), Eva, Pascal und Sascha.
Die hospitalera spricht wider Erwarten
fließend Kölsch – ihre Mutter ist Deutsche aus meiner ehemaligen Wahlheimat, ihr Vater Spanier. Duschen, Wäsche
waschen, Nahrungssuche. Pilgerroutine. Frische Milch vom Bauernhof gibt es hier
in einigen Läden. Mit Eva zusammen genieße ich kühle gazpacho und begutachte
den Sonnenbrand auf meinen Waden. Der erste bis jetzt.
Und dann fallen mir auch Víctor
und Francesc in die Arme.
Eine Spanierin, Rosie aus Toledo
erzählt uns mindestens fünf Mal ihre Geschichte, die so langweilig ist, dass
ich sie quasi sofort wieder vergesse. Vielleicht auch, da sie undurchsichtig
bleibt.
Francesc und ich kündigen der
Gruppe, die es sich mit uns im Innenhof der wirklich schön gelegenen Herberge gemütlich gemacht hat, an, die Messe besuchen zu wollen. Ein wenig belächelt werden wir schon. Morgen
ist Mariä Himmelfahrt und dementsprechend auch die Predigt, von der ich in der
letzten Kirchenbank einiges verstehe, obwohl ich wünschte, vieles einfach nicht
verstehen zu können. Auch hier: beten, knien, beten, stehen, aber kein Gesang. Nur
ganz zum Schluss zur Kommunion tönt ein gesangsstarkes Ave Maria aus den
Lautsprechern.
Wieder zurück in der Herberge
sitzen wir noch zusammen, auch der werte Herr, der die Weisheit mit Löffeln
gefressen hat ist da, Rosie, ein weiterer Spanier in der Runde, Juan Carlos.
Kurz bevor ich müde vom heutigen Tag ins Bett falle, ertönt ein lautstarkes
„Ciao!“ aus dem Gebüsch. Boris, der Italiener, seine Freundin Guilia und die
dritte Italienerin im Bunde, Miriam, haben sich im Laufe der Etappe drei Mal
verlaufen und kommen erst jetzt in Santillana del Mar an. Sie müssen leider im
Flur schlafen, da bereits alle 16 Betten belegt sind.
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