Mittwoch, 17. Oktober 2012

Laufen lernen - Tag 5


Noch ist es dunkel. Die Straßenlichter spiegeln sich in den tanzenden Pfützen wider, der Tag nieselt sich langsam ein. Vera und Montse treffe ich beim Bäcker, sowie andere noch immer namenlose Pilgergesichter. Txus und viele andere schlafen noch. Die heutige Etappe beläuft sich auf mehr als 25 Kilometer und ich hoffe inständig, dass die ersten drei Tage wirklich die anstrengendsten waren, und es ab jetzt nur noch besser werden kann. Das Meer verlässt mich. Aber dafür erweicht mich das Himmelsnass. Heute will ich bis zum Kloster von Zenaruzza laufen und dort hoffentlich noch einmal auf Txus treffen, der nicht ganz so viel Zeit hat, um bis nach Santiago de Compostela zu gelangen. Daraus wird nur nichts werden.

So einiges an Höhenmetern gilt es heute zu überwinden. Da ist das „¡aupa!“, die baskische Variante des „¡ánimo!“ (zu Deutsch ein animierendes “Kopf hoch!“ oder „Los geht’s!“) immer willkommen. Teils rutschige und schlammige Waldwege erschweren den Aufstieg und machen den Abstieg fast unmöglich. Rauf und runter. Runter und rauf. Nasse Teerstraßen und kein Dörfchen weit und breit. Vereinzelte Gehöfte, das klägliche Krächzen durchnässter Hähne, Pferde drängen sich in ihrem Unterstand zusammen. Eine kurze Rast an einem verschlossenen Restaurant, immerhin gibt es ein Vordach und ein paar Bänke. Eine kurze Regenpause deutet sich an, doch der Schein währt nicht lange. In steilen Kurven schleicht der glitschige Betonboden sich den Wald empor, immer weiter nach oben, selbst die baskischen Mountainbike-Fahrer sind kaum schneller als ich mit meinen zwei durchlauchten Beinen. 

Ein Waldstück, das anders ist als alle anderen. Der Duft kommt mir bekannt vor, die Stämme dünn und hochgewachsen. Eukalyptus. An was das erinnert? Koalabären? Nein, ein ausgiebiger Saunagang. Die Luftfeuchtigkeit stimmt der eines Aufgusses überein, doch die Temperatur weicht leider stark ab. Und just in diesem Waldstück kommt mir ein älterer Herr in langer Kutte entgegen, hinter ihm trottet ein Esel daher. Verwundert sehe ich mich noch einmal nach den beiden seltsamen Gestalten um und entdecke die Jakobsmuschel. Pilger. Auf dem Rückweg.

Meine Regenjacke klebt an meinen Armen, das T-Shirt trieft und selbst die Unterwäsche ist klamm. Noch liegen etliche Kilometer vor mir. Doch dort: ein Unterschlupf. Und ich bin nicht alleine. Eng aneinander gekuschelt versuchen wir uns zu wärmen. Vera, Montse, Gabriel, das immerfort streitende italienische Pärchen, der durchtrainierte und nächtlich zum Schnarchkonzert ladende Altherrenverein, sowie eine weitere Deutsche. Aus dem Nieselregen ist mittlerweile eine handfeste Duschorgie geworden. Gabriel, der Wanderstöckedieb, bietet mir pan de higo (Feigenbrot) an, besser als jeder Müsliriegel.
Wir kommen ins Gespräch, er zieht das Tempo an und mich mit. Plötzlich staune ich, dass mir meine Blasen gleichgültig sind, die schweren, schmerzenden Beine. Wir laufen und laufen, springen schon fast durch die Pfützen und Rinnsale, die sich vom vielen Regen gebildet haben. Der Weg wird breiter, verwandelt sich in eine Straße. Mein Mitpilger zeigt mir das Zick-Zack-Laufen beim Abstieg, dadurch bürde ich mir zwar ein paar zusätzliche Kilometer auf, doch meine Knie danken es mir. So langsam lässt der Regen nach, wie auch die Lust am Laufen (wenn sie denn jemals da war).

Die weitere Deutsche, die sich als Linda entpuppt, stößt auf uns. Eine Straßenkreuzung. Die geteerte Variante bis nach Markina-Xemein: 1,2 Kilometer. Die offizielle Jakobswegsroute: 3,0 Kilometer. Mahnend schaut uns Gabriel an, getreu dem Motto „Sin dolor no hay gloria.“ (Ohne Schmerz kein Himmelreich). Wir geben nach. Der Boden unter uns auch. Auf einer Lehmspur schlittern wir gen Tal. Mit jedem Schritt wird die Lehmschicht unter den so oder so schon schweren Wanderstiefeln dicker. Dicker und dicker, schwerer und schwerer. Wie auf Plateausohlen, die mindestens zehn Kilo wiegen, stolpere ich voran. Endlich ein Stück Asphalt. Mehr schlecht als recht lässt sich die ockerfarbene Masse abstreifen.

Das Kloster werde ich heute sicher nicht mehr erreichen. Zum neuen Ziel wird Markina-Xemein erklärt. Erste Anzeichen der Kleinstadt. Kurz nach dem Ortseingang steht eine kleine sechseckige Kapelle, die Ermita de San Miguel de Arretxinaga. In meiner Trance wäre ich wohl daran vorbei gelaufen, doch Gabriel hält uns dazu an, einen Blick hinein zu werfen. Drei gewaltige Felsen stützen sich gegenseitig, im Hohlraum zwischen ihnen der Erzengel Michael.

Die Herberge befindet sich im Konvent. Der hospitalero ist glücklicherweise vor Ort, wir stellen unsere nassen Rucksäcke ab und müssen dann noch einmal hinaus, da die Unterkünfte im Baskenland nie vor 15 Uhr ihre Tore öffnen. Ein heißer Kaffee wärmt Linda und mich, Gabriel verlangt es nach Deftigem und schließt sich einigen Pilgern an, denen es ähnlich geht. Der Ort ist erfüllt vom sonntäglichen Kneipengeschwätz der Spanier. Pünktlich um drei sind wir zurück, ergattern jede eines der Betten. Meinen Pilgerpass bin ich jedoch erst einmal los. Er wird mir mit spitzen Fingern vom hospitalero abgenommen. Nein, ich habe nichts pilgerwidriges angestellt. Er ist nass und läuft Gefahr, auseinander zu fallen. Nach einer warmen Dusche und einer Waschmaschinenwäsche kuscheln wir uns in die warmen Decken. Gabriel hat sich leider etwas verspätet und die Herberge ist bereits überfüllt, er kommt in einer kleinen Privatherberge unter. Víctor ist natürlich auch wieder dabei.

Abends schmeißen Linda, Pascal (ein weiterer Deutscher – so langsam mehren sich die Begegnungen mit Landsmännern und -frauen, obwohl ich versuchen werde, eher Anschluss an die spanischsprachige Kultur zu finden) und ich unsere Essensreste zusammen und basteln uns ein einfaches Pilgermahl. Pascal will seinen Joghurt loswerden, es stellt sich heraus, dass es sich um Ziegenmilchjoghurt handelt. Immer mal was Neues. Und dann, das Wetter hat sich gebessert, zieht es uns zu den geselligen Eiheimischen. In der einer Bar im Ortskern stoßen wir an, auf einen zwar anstrengenden Tag, der doch letztendlich gut ausgegangen ist. Aus einem Glas Wein werden zwei, werden drei, werden vier. Kurz bevor die Herberge schließt, stehlen wir uns hinein. Zurecht finden müssen wir uns im Dunkeln, da das Licht mit den sich schließenden Türen ausgeschaltet wird.

2 Kommentare:

  1. Haha das missglückte Ziegenmilchjoghurt-Experiment hatte ich verdrängt, die Gläser Wein mit euch nicht :-)

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  2. so schlimm war der joghurt doch gar nicht ;-)

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